92 Musikalische Gespräche93Musikalische GesprächeMusikalischeGesprächeWährend der medienfreien Woche hat MusiktherapeutinHeike Raff-Lichtenberger mit drei Gruppenvon jeweils acht bis neun Kindern Musik gemacht.Ganz gemäß dem ONE WEEK.NO MEDIA!-Motto „aktiv stattpassiv“ schaffte sie den Kindern damiteinen Raum für schöpferischesund zweckfreies Schaffen. Undförderte einiges Potenzial zutage.Als Martin Tertelmann mir vonseinem Vorhaben erzählte, inZusammenarbeit mit Lehrern derJahn-Realschule in Stuttgart-BadCannstatt eine Woche ohne Medienfür die Schüler einer sechstenKlasse anzubieten, hat mich dieseIdee sofort angesprochen.„Eine Woche ohne…“ war mir bisherein Begriff aus der Fastenzeit.Verzicht auf Schokolade, auf dasGlas Rotwein am Abend, auf etwas,was uns lieb und angenehm ist, andas wir uns gewöhnt haben, das zuunserem Alltag gehört, von demwir aber auch annehmen, dass wirab und an zuviel davon konsumieren.Der Verzicht auf Konsumgüterwird von uns Erwachsenen meistfreiwillig getroffen. So war auch dieIdee, im Rahmen der Projektwocheauf elektronische Medien zuverzichten, eine „Erwachsenen-Idee“. Den Klassenlehrern gelanges aber gut, die Kinder dafür zubegeistern.Meine eigene Motivation, andiesem Projekt mitzuwirken, wardas Empfinden, dass elektronischeMedien immer mehr in die Artunserer menschlichen Begegnungeneingreifen, diese prägenund verändern. Das Gespräch, dieAuseinandersetzung mit einemanderen und das Entwickeln eineseigenen Standpunkts innerhalbrealer Begegnungen, das Spürenvon körperlicher Präsenz, dasunmittelbare Erleben der Reaktioneines Gegenübers – sie finden invirtuellen Räumen nicht statt. Kinderin unserer Gesellschaft bildenihre Identität immer weniger überdas eigene Erleben aus.Sie sind nicht selbst die Heldenihrer Biografie, sondern identifizierensich mit virtuellen Helden,die sie oftmals gerne imitierenmöchten. Sie gestalten im Konsumvon Medien nicht selbst, sondernvollziehen nach, was bereits fürsie gestaltet wurde. Sie entwickelnkeine eigenen inneren Bilder,weil sie konfrontiert werden mitBildern, die bereits jemand für sieentwickelt hat. Das schöpferische,selbstvergessene und zweckfreieSchaffen ist ein urmenschliches Bedürfnis.Doch wo sind die Räume,die unseren Kindern dieses kreativeTun ermöglichen?Das Angebot: MusikmachenWarum gerade Musik? Musikgehört zur Jugendkultur. Sie wirdüberwiegend konsumiert undselten selbst gemacht. Den<strong>no</strong>ch istsie positiv belegt. Musik kann eineBrücke der Kommunikation bildenund als Sprache verstanden werden.In ihr finden Entwicklung undVeränderung statt. Sie ist Trägerinaller denkbaren Nuancen menschlichenDaseins und geht über das,was mit Worten vermittelbar ist,weit hinaus. Das aktive Musizierenist ein schöpferischer Prozess, dergestalterische Kräfte verlangt undfreisetzt.Die Kinder, schon fast Jugendliche,erzählten zunächst sehr offen vonden Nöten, die eine medienfreieWoche so mit sich bringt: ewigeLangeweile, das Vermissen vonSpaß, Action und Unterhaltung.Sie alle schienen sehr gespannt, wasdenn nun geschehen würde.Wenige spielten ein Instrument,vom gelegentlichen Spiel auf derBlockflöte im Klassenverbandeinmal abgesehen. Die Musik,die wir gemeinsam machten,entwickelte sich zum einen aus derfreien Improvisation auf von mirmitgebrachten Instrumenten. DieKinder konnten sich die Instrumenteaussuchen und miteinandertauschen. Dabei war jeder sowohlsolistisch als auch in der Gruppeaktiv. Manches wurde von mir amKlavier begleitet und unterstützt.Zum anderen wurden <strong>no</strong>tierteInstrumentalstücke gestaltet, die esermöglichten, dass jeder Teilnehmereine bestimmte Rolle innerhalb desmusikalischen Kontextes innehatte.Auf diese Weise wurde der Einzelnewichtig und bedeutungsvoll,jeder hatte Verantwortung für dasgemeinsam gestaltete Stück.Nachdem die Kinder mit derSituation vertraut waren, begannensie auch, zu singen. Sie nahmenwahr, wer welche Töne von sichgibt, übernahmen Töne voneinander,führten sie weiter, entwickeltenDialoge – es fanden richtiggehend„musikalische Gespräche“ statt.Völlig neue PotentialeObwohl die Kinder keine Erfahrungim freien Musizieren hatten,konnten sie sich schnell auf dieneue Herausforderung einlassen.Manche zeigten zunächst großeUnsicherheit und fanden das Ganzeeher peinlich. Nach der erstenImprovisationsrunde entstand abereine aktive Arbeitsatmosphäre. DieKinder erlebten und thematisiertendie Möglichkeit, sich musikalischauszudrücken und miteinander zu„unterhalten“. Erste Unsicherheitenim ungewohnten Halten einesMetrums oder eines Rhythmusverschwanden durch die Bestätigungder anderen oder durch dieUnterstützung vom Klavier.Die Kinder staunten über dieanderen Gruppenmitglieder undsich selbst und erlebten völlig neuePotentiale an sich und an ihrenMitschülern. Es wurde viel gelacht.Ich selbst wunderte mich über denMut vor allem zweier Jungs, ohneVorgabe lang ausdauernd im Wechselmiteinander zu singen.Als der Klassenlehrer einige Sequenzenfilmte und der Schulleitersich eine Viertelstunde dazu setzte,waren die Kinder sichtlich stolzauf das Musikstück, das sie soebengemeinsam entwickelt hatten. Ichging mit dem Gefühl, am liebstenjede Woche mit den Kindern arbeitenzu wollen.Kinder brauchen ZeitUm <strong>no</strong>ch einmal darauf zurückzukommen:Schokolade, Rotweinund elektronische Medien bergen
94 Musikalische Gespräche95 Musikalische Gesprächealle ein nicht zu unterschätzendesSuchtpotential. Alle drei stehennicht nur für Genuss, sondernauch für Ersatz und Trost. Alle dreisollten nicht im Übermaß zu sichge<strong>no</strong>mmen werden. Schokoladeund Rotwein allerdings sindin kurzer Zeit verspeist beziehungsweisegetrunken und dannvergessen. Im Falle des Konsumselektronischer Medien durchunsere Kinder kommt der FaktorZeit hinzu. Dieser, so wurde mirim Austausch mit den Kindern klar,ist entscheidend im Umgang mitelektronischen Medien. ElektronischeMedien sind, im Übermaßge<strong>no</strong>ssen und ganz unabhängig vonderen qualitativem Wert, „Zeitfresser“.Während der medienfreienWoche verfügten die Kinderplötzlich über jede Menge freieZeit. Zeit zum Fußballspielen, zumBauen, zum Streiten und Toben mitden Geschwistern, zum Diskutierenmit den Eltern, zum Tagebuchschreiben, zum sich Treffen und„Schwätzen“ mit Freunden.Kinder sind soziale Wesen. Siebrauchen Zeit, um in reale Dialogemit ihren Mitmenschen zutreten. Zeit zum Phantasieren undSinnieren. Zeit, um im direktenGespräch und im Austausch mitanderen einen eigenen Standpunkt,eine eigene Identität zu entwickeln.Zeit zum Wachsen und Gedeihen.Es liegt an uns Eltern, Erziehernund Pädagogen, Kindern dies zuermöglichen.Heike Raff-Lichtenberger„Elektronische Medien sind, imÜbermaß ge<strong>no</strong>ssen und ganzunabhängig von deren qualitativemWert, „Zeitfresser“. Über was dieKinder während der medienfreienWoche plötzlich in großer Mengeverfügten, war freie Zeit. Zeitzum Fußballspielen, zum Bauen,zum Streiten und Spielen mit denGeschwistern, zum Diskutierenmit den Eltern, zum Tagebuchschreiben, zum sich Treffen und„Schwätzen“ mit Freunden.“Heike Raff-Lichtenberger„Meine Gedanken und meineGefühle zu dieser Woche: Ich habemich ohne Fernseher und Playstationkomisch gefühlt und habegedacht: hoffentlich ist die Wochebald vorbei. Ich musste überlegen,was ich jetzt in der Freizeit mache.Ich habe dann Brettspiele gespielt,ein Buch gelesen und was mitFreunden ausgemacht.“Julian„Es ist gut, dass die Initiative vonaußen kommt, ansonsten wäre ichja der Buhmann.“Mutter von Julian
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