96 Plötzlich war es uncool97 Plötzlich war es uncoolPlötzlich wares uncoolJahn-Realschule, Stuttgart-Bad Cannstatt: Das Fazit einesLehrers zwei Jahre danach.Ich bekomme als Lehrer an einer sozialen Brennpunktschule,der diese Aktion von Anfang an in der Praxis begleitethat, die Möglichkeit, darüber zu schreibenund ich bin froh, dass ich dies ausdrücklichnicht wissenschaftlich tunmuss. So mögen meine Gedankendazu zwar nur alltagstheoretischsein, aber schließlich ist es derAlltag, der Lehrerinnen und Lehrerbeschäftigt und nicht die Wissenschaftstheorie<strong>no</strong>der empirischenStudien der Hochschulen.Zunächst einmal möchte jederPädagoge, der ein Projekt mitHerz begleitet, dass möglichstviele Schüler davon angetan sindund dabei möglichst viel lernen.Es war sehr einfach, Sechstklässlerfür dieses Projekt zu begeistern.Die Natur- und Kunstprojektemachten wirklich Laune. Kindersind bei solchen Aktionen schnellFeuer und Flamme. Das gilt nichtautomatisch für Kinder aus einemsozialen Brennpunkt, die kaumüber Natur-Erfahrungen verfügenund <strong>no</strong>ch weniger über eigenekreative Kultur-Erfahrungen.Trotzdem oder gerade deswegenwaren die Schüler mit Freudeund Begeisterung dabei. Auch dieEltern beteiligten sich überraschenderweisesehr engagiert.Doch die positive Bewertunghat in der Rückschau zwei Jahrespäter, in der siebten und achtenKlasse, rapide abge<strong>no</strong>mmen. AusKindern wurden Jugendliche, vondenen viele das Projekt nun alskindisch und albern empfanden.In diesem Alter ist die medienfixierteKommunikation mit der sogenannten Peer-Group, der GruppeGleichaltriger, <strong>no</strong>ch wichtigergeworden. Außerdem empfandenes viele Schüler als absolut uncool,gegenüber neuen Schülern undWiederholern zuzugeben, dasssie in dieser Woche Spaß gehabthatten.Ich habe zuerst irritiert, fast beleidigtreagiert. Vor allem nachdemeinige Schüler, die in den Projektwochensehr motiviert waren,zwei Jahre später das Gegenteilbehaupteten.Dazu kamen mir folgende Gedanken:Pädagogen sollten sich nichtüberschätzen. Der Einfluss auf dasLern- und Lebensverhalten magbei einzelnen Schülern bedeutendsein, bei den meisten aber ehernicht. Denn man ist in seinemLeben vielen Einflüssen und vielenMenschen ausgesetzt, vor allemin modernen westlichen Gesellschaften.Andererseits hat mir ein jungerMensch, der computerspielsüchtigwar und diese Sucht in den Griffbekommen hat, deutlich gemacht,dass solche Projekte doch einentiefen Sinn haben. Denn Kinderund Jugendliche, die keine Alternativenzur Medienwelt erfahren,können ihr auch nicht entfliehen.Die kindlichen Erfahrungen diesesjungen Menschen im Bereich Naturund Sport gaben ihm irgendwannden Impuls, zu bemerken,dass Nächte vor dem Computer fürKörper, Geist und Seele nicht gutsind. Da war doch <strong>no</strong>ch irgendwas– der Geruch eines Feuers,die Freude an der Bewegung, dieNacht und ihre Stille, die Sonne,die das Gesicht wärmt.In den unteren Klassen reagierenEltern zunehmend sensibel auf dieGefahren der <strong>media</strong>len Welt. Dochhier gibt es eine extreme Kluft: Esgibt zwischenzeitlich Eltern, diealles regulieren und kontrollieren,während bei anderen Schülern dasHandy im Unterricht klingelt. Soziokulturellist das nicht einheitlich,so reagieren beispielsweise vieletürkische Eltern heute sehr restriktiv.Die Gefahren sind erkannt, diemeisten „pädagogischen“ Auseinandersetzungenin den Familienfinden rund um dieses Thema statt.Das ändert allerdings nichts an derTatsache, dass vor allem Familienaus der sozialen Unterschicht inder Adoleszenzphase ihrer Kinderdie Erziehung aufgeben, quasikapitulieren und dann Dämme brechen.Jugendliche aus der sozialenUnterschicht überschreiten zuerstdie Grenzen im <strong>media</strong>len Bereich,um anschließend am Wochenendeauszuloten, was auf der Straße undbei Partys geht. Wer sich ein Bilddavon machen möchte, der geheam Wochenende in die Partyzonender großen Städte. Hier tobt, staatlicherlaubt, der Bär, hier treffensich die jungen Menschen aus demUmland, eher behütet aufgewachsen,um etwas zu erleben. Dasgelingt ihnen ohne Probleme, vomDrogenkonsum bis hin zur unmittelbarenGewalt. Hier entstand undentsteht eine tolerierte Subkultur,an der alle Erziehungsinstanzenschlichtweg versagen müssen.Während aber die Jugendlichenaus der Mittelschicht von ihrenEltern aus dem Krankenhaus odervon der Polizeiwache abgeholtwerden, geschieht anschließendbei erschreckend vielen Familienaus der sozialen Unterschicht undbei Migranten die eigentlicheKatastrophe. Die gesellschaftlicheIntegration scheitert, die Schulewird abgebrochen, kein Ausbildungsplatzgefunden. Dieser sozialeSprengstoff wird die Republik inden nächsten Jahren erschüttern, dabin ich mir sicher.Mein Fazit kann und darf den<strong>no</strong>chnicht negativ ausfallen. In derJugendzeit mag man die Empfindungenalternativer Projektewegschieben, doch sie bleiben imHerzen und tragen irgendwannFrüchte.Ein letztes Beispiel aus meinemSchulalltag: Abschlussfahrt Klassezehn, alle Prüfungen waren vorbei.Es ging nicht in eine große Stadt,nicht an einen Strand, sondern aufeinen Bauernhof in den Bergen,weit ab von allem und mit einemSportprogramm tagsüber. Amersten Abend, nach der ersten,wirklich kleinen Wanderung,waren einige dieser Großstadtkidspsychisch und physisch völlig amEnde. Tränen und Muskelkater stattDisco und Shopping. Am nächstenTag stand Canyoning auf demProgramm. Keiner der Schülerwar je so intensiv der durchausgefährlichen Natur ausgesetzt.Keiner stand je auf einer Brückeund musste das Geländer loslassen,dem Seil und dem Bergführer ganzvertrauen, seine Angst überwindenund sich 30 Meter abseilenlassen. Doch alle haben es geschafft.Plötzlich wurden diese Jugendlichenkurz vor dem Erwachsenseinwieder wie kleine Kinder, die aufdem Spielplatz vor Freude undAufregung schreiend endlich dieRutsche meistern. Und mit einemMal kippte die Stimmung: So vielFreude und Lachen habe ich beisolchen Fahrten selten erlebt. Ichbin mir sicher: Die Schüler werdenviel vergessen, vor allem die Inhaltevon Unterrichtssunden, aber dieseErlebnisse niemals.So früh wie möglich müssen Kinder,vor allem die aus problematischenFamilien, mit der Natur, demSport und mit eigener kreativerKultur zusammengebracht werden.So werden Alternativen zur übermächtigenMedienflut angelegt.Und bei einem entsprechendenRahmenprogramm geht das auch<strong>no</strong>ch mit jungen Erwachsenen.In der Adoleszenzzeit haben dieJugendlichen aber auch ein Rechtdarauf, mit dieser Medienwelt zuringen.Rüdiger SchillingerLehrer an der Jahn-RealschuleStuttgart / Lehrbeauftragter amStaatlichenSeminar für Didaktikund Lehrerbildung (Realschulen)Ludwigsburg
98 Nach neun war keiner mehr auf den Beinen99Nach neun war keiner mehr auf den BeinenNach neun war keinermehr auf den BeinenInterview mit Frau ÖzelikFrau Özeliks Sohn Bilal hat 2007mit seiner sechsten Klasse derJahn-Realschule bei ONE WEEK.NO MEDIA! mitgemacht. MartinTertelmann erzählt sie, wie der Verzichtfunktioniert und warum er zuausgeschlafenen Kindern führt.Heute ist Donnerstag – der vierte Tagohne Medien. Wie geht es Ihnen? Washat sich geändert in dieser Woche?Der Montag war sehr schwer ohneFernsehen und ohne Computer,muss ich jetzt ehrlich sagen. Er warschon anstrengend der Montag.Aber nur der Montag. Ansonstenging es eigentlich. Man kann auchohne solche Sachen leben, ohneMedien. Mir ist aufgefallen, dassmein Sohn viel draußen gespielthat. Sonst hängt er immer zu Hausevor dem Fernseher oder will Computerspielen.Er war viel draußen, hat mehr mitFreunden und mit seiner Schwesterzu Hause gespielt. Er hat mal einPuzzle gemacht mit tausend Teilen,das haben sie rausgeholt. Under ist mit mir auch oft raus zumEinkaufen oder so. Sonst ist er eigentlichnie dabei, da will er lieberzu Hause bleiben. Der Montag warwie gesagt sehr schwer.Wie erging es Ihrer Tochter?Ich muss jetzt ehrlich sagen: meineTochter durfte schon Fernsehenschauen, wenn ihr Bruder nicht dawar. Es gibt einige Sendungen, diesie immer anschaut, und das durftesie dann schon. Normalerweise binich nicht immer zu Hause, dochich hatte mir vorge<strong>no</strong>mmen, indieser Woche immer da zu sein –nicht dass doch was eingeschaltetwird. Und es ging. Wenn meineTochter dann im WohnzimmerFernsehen geschaut hat, dann istmein Sohn nicht rein, das hat ernicht gemacht.Sie und Ihr Mann haben auch keinFernsehen geschaut?Tagsüber schaue ich eh kein Fernsehen,da habe ich sowieso keineZeit für so was. Abends, wenn dieKinder geschlafen haben, habe ichschon Fernsehen geschaut, das mussich jetzt ehrlich sagen. Oder wennmein Mann am Computer wasarbeiten musste, das hat er dannauch gemacht. Aber erst wenn dieKinder geschlafen haben.Wie nutzen Sie <strong>no</strong>rmalerweiseMedien?Zum Computerspielen habe ichpersönlich keine Zeit. Tagsüberschaue ich auch kein Fernsehen.Und Ihr Sohn?Der würde gern den ganzen Tagvorm Computer sitzen. Aber dasgibt es bei uns eigentlich nicht.Er darf am Wochenende spielen,so lang er möchte. Aber nicht amSamstag und Sonntag, sondern aneinem Tag von beiden, und dannso lang wie er will. Das heißt abernicht, dass er bis morgens vor demDing sitzt, da habe ich schon meineRegeln. Wenn Schule ist, darf er danicht lange sitzen. Aber wenn ersagt ‚Ich muss mal kurz ein Referatmachen’, dann sitzt er schon malein Stunde dran. Oder wenn ermal keine Hausaufgaben hat, dannbettelt er ‚Mama, Mama, bitteeine Stunde’, dann vielleicht. Aberansonsten darf er unter der Wochenicht so lang vor dem Computeroder dem Fernseher sitzen.Wie finden Sie das Projekt ONEWEEK. NO MEDIA!?Ich finde es sehr schön. Vor allemabends, da haben wir das Problemnicht, wenn es ‚ins Bett gehen’heißt. Wenn der Fernseher nicht anist, klappt das schneller, ist mir aufgefallen.Sonst, wenn der Fernseheran ist, heißt es ‚Noch 10 Minuten,<strong>no</strong>ch 15 Minuten, dann ist dieSendung zu Ende’. Dann dieseBettlerei und dann sind es schon20 Minuten und der Fernseherist immer <strong>no</strong>ch an. Sie schlafengemeinsam in einem Zimmer undmeine Tochter muss früher schlafen.Sie haben auch einen Fernseherin ihrem Zimmer, weil wir imWohnzimmer nur türkisches Fernsehenhaben und im Kinderzimmerdeutsches Fernsehen. Letzte Wocheist der Receiver im Kinderzimmerkaputtgegangen. Und ich habezu meinem Mann gesagt, dass ichkeinen neuen Receiver für dasKinderzimmer mehr möchte. Aberdann leidet meine Tochter, dienicht viel Fernsehen schaut, auchdarunter. Denn türkisches Fernsehenschauen die Kinder nicht sehrgern.Nehmen Sie aus dieser Woche einenImpuls mit? Gibt es etwas, worüber Siesagen ‚Das finde ich gut, das möchteich weitermachen oder ändern für dieZukunft’?Die Aktion ist schon gut. Die Kinderhaben gelernt, dass man auchohne diese Medien leben kann unddass man viel mehr machen kann.Mein Sohn hat zum Beispiel niemit seiner Schwester gespielt. Wennsie gefragt hat ‚Komm, machenwir zusammen ein Puzzle’ oder‚Spielst du mit mir mal U<strong>no</strong> oderein anderes Spiel?’, hat er das niegerne gemacht und gesagt ‚Nee,ich habe jetzt keine Lust, ich willjetzt lieber Fernsehen schauen’.Meine Tochter ist ganz begeistert,weil sie diese Woche ein tausenderPuzzle zusammen gemacht haben.Oder sie haben abends ein anderesSpiel gespielt, weil die Zeit nichtvergangen ist, weil es geregnet hatund weil man auch nicht immerdraußen spielen kann. Ich habe imKinderzimmer bisher eigentlichimmer einen Fernseher gehabt, undden möchte ich jetzt eigentlichkomplett wegtun. In dieser Wochewaren die Kinder echt pünktlich,nach neun war keiner mehrauf den Beinen. Sie haben beidegeschlafen. Mein Sohn will sonstimmer bis 22 oder 22.30 Uhr wachbleiben und dann gibt es Problememorgens beim Aufstehen. Alsoden Fernseher im Kinderzimmermöchte ich komplett wegtun.Möchten Sie oder werden Sie estatsächlich?Das werde ich wahrscheinlichmachen. Ja, ganz wegtun.Was fanden Sie nicht so gut?Mein Sohn hat kein Handy gehabtund da mache ich mir schonSorgen, denn er hat einen langenHeimweg. Wenn er ein Handydabei hat, dann rufe ich kurz an,wenn ich nicht da bin. Ich habeihm in dieser Woche einen Zettelgeschrieben, wann ich wieder dabin und bin dann aber immer etwasfrüher gekommen, ganz leise in dieWohnung. Ich wollte dann sehen,was er macht. Aber ich habe ihnnie vorm Computer oder vormFernseher erwischt. Ich wollteschon wissen, ob er es auch durchhält.Er hat sich dran gehalten.Martin Tertelmann
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