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JM 4 APRIL<br />
2016<br />
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />
Beim Unternehmen U mit mehr als 700 Mitarbeitern fungierte<br />
P als Personalleiter mit Gesamtprokura. Arbeitnehmer<br />
A erhielt eine Kündigung, entsprechend dem bei U<br />
geltenden Vier-Augen-Prinzip unterzeichnet von P mit dem<br />
Zusatz „ppa.“ sowie vom Personalsachbearbeiter PSB mit<br />
dem Zusatz „i.V.“. Eine Vollmachtsurkunde war nicht beigefügt,<br />
weshalb A die Kündigung umgehend zurückwies<br />
und Kündigungsschutzklage erhob. Das ArbG Herne hat die<br />
Klage abgewiesen, das LArbG Hamm ihr dagegen stattgegeben.<br />
1 Das BAG hat das Berufungsurteil (= BU) aufgehoben<br />
und die Sache an das LArbG Hamm zurück verwiesen. 2<br />
Das 1. BU hatte die Kündigung dahin ausgelegt, P habe als<br />
Gesamtprokurist unterzeichnet, weshalb für den Mitunterzeichner<br />
PSB eine Vollmachtsurkunde erforderlich gewesen<br />
wäre; da A das Fehlen unverzüglich gem. § 174 BGB beanstandet<br />
hatte, sei die Kündigung rechtsunwirksam.<br />
Das BAG hat diese Auslegung nicht gelten lassen, sondern<br />
hat – ohne ein Wort dazu zu verlieren, welche „Rechtsnorm“<br />
i.S.v. § 546 ZPO das 1. BU verletzt haben könnte<br />
– seine eigene Auslegung der Kündigungserklärung an die<br />
Stelle derjenigen des Landesarbeitsgerichts gesetzt: Das<br />
Kündigungsschreiben sei so zu verstehen, dass P in seiner<br />
Eigenschaft als Personalleiter über eine Einzelvertretungsbefugnis<br />
verfüge und es daher nur noch darauf ankomme,<br />
ob die Bestellung zum Personalleiter dem A in hinreichender<br />
Weise bekannt gemacht worden sei. Da das Landesarbeitsgericht<br />
von seinem Standpunkt aus diese Frage nicht<br />
untersucht hatte, kam es zur Zurückverweisung. 3<br />
Das LArbG Hamm sah sich im 2. Durchgang an das Revisionsurteil<br />
gem. § 72 Abs. 5 ArbGG, § 563 Abs. 2 ZPO gebunden,<br />
hat eine ordnungsgemäße Bekanntmachung der<br />
Bestellung des P zum Personalleiter geprüft und nach deren<br />
Feststellung die Klage auf dieser Basis nunmehr abgewiesen.<br />
Während das 1. BU die Revision ohne nähere Begründung<br />
wegen Grundsatzbedeutung gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1<br />
ArbGG zugelassen hatte, hat das 2. BU gemeint, Zulassungsgründe<br />
lägen nicht vor. A hat darüber offenbar resigniert<br />
und eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht eingelegt.<br />
C. Kontext der Entscheidung<br />
Das 2. BU hat sich in der Sachentscheidung gem. § 563<br />
Abs. 2 ZPO an das Revisionsurteil gebunden gesehen. Das<br />
entspricht ständiger Rechtsprechung ebenso wie der überwiegenden<br />
Meinung der Literatur auch für solche Fälle,<br />
in denen ein Verstoß des Revisionsurteils gegen Grundrechtspositionen<br />
in Frage kommt. 4 Eine Besonderheit des<br />
vorliegenden Falles besteht allerdings darin, dass das Revisionsurteil<br />
eine grundrechtsrelevante Frage gar nicht entschieden,<br />
weil nicht einmal erkannt hat, nämlich die Divergenz<br />
zu einer Entscheidung des 8. Senats vom 22.10.2012. 5<br />
Im 1. Orientierungssatz zu diesem Urteil des 8. Senats heißt<br />
es wörtlich wie folgt:<br />
„Bei einem Kündigungsschreiben handelt es sich um eine<br />
nicht typische Willenserklärung, deren Auslegung vorrangig<br />
den Tatsachengerichten obliegt. […] Dem Revisionsgericht<br />
steht die Prüfung nur dahin offen, ob die vom Berufungsgericht<br />
vorgenommene Auslegung der Willenserklärung möglich<br />
ist, nicht aber ob sie tatsächlich richtig ist.“<br />
Die Entscheidung des 2. Senats steht hierzu in offenem Widerspruch;<br />
denn der 2. Senat hat die Frage, wer mit dem<br />
Kündigungsschreiben was und mit welchem Sinngehalt<br />
erklärt hat, insgesamt selbst entschieden, ohne auch nur<br />
ein Wort darauf zu verwenden, welche „Rechtsnorm“ das<br />
1. BU bei seiner Auslegung verletzt haben könnte. Sollte<br />
der 2. Senat sich – unausgesprochen – auf den „Erfahrungssatz“<br />
haben stützen wollen, ein Personalleiter sei per<br />
se einzelvertretungsberechtigt, so fehlt für einen solchen<br />
„Erfahrungssatz“ jeglicher empirischer Befund. So gibt es<br />
viele Unternehmen, in denen der „Personalleiter“ keinerlei<br />
Einstellungs- oder Entlassungsbefugnis hat, sondern lediglich<br />
als Leiter der Personalverwaltung fungiert. Insbesondere<br />
aber gibt es den Erfahrungssatz „Personalleiter haben<br />
Einzelvollmacht“ in solchen Unternehmen nicht, die durchgängig<br />
das Vier-Augen-Prinzip befolgen, in denen also<br />
nicht einmal der Vorsitzende der Geschäftsführung bzw. der<br />
Vorstandsvorsitzende eine Einzelvollmacht zur Einstellung<br />
oder Entlassung hat.<br />
Wie der Verfasser bereits in seiner Anmerkung 6 ausgeführt<br />
hat, ist es durchaus vorstellbar und mag in Einzelfällen<br />
auch tatsächlich vorkommen, dass in einem Unternehmen<br />
mit durchgehendem Vier-Augen-Prinzip der Personalleiter<br />
Einzelvollmacht für Einstellung und Kündigung eingeräumt<br />
erhält. Das bedarf dann aber einer entsprechend eindeutigen<br />
Bekanntmachung gerade zur ausnahmsweisen Einzelvollmacht.<br />
Davon konnte im Besprechungsfall keine Rede<br />
sein.<br />
Die Auslegung der Kündigungserklärung durch den 2. Senat<br />
steht in offenem Widerspruch zum Urteil des 8. Senats.<br />
1 LArbG Hamm, Urt. v. 16.05.2013 - 17 Sa 1708/12.<br />
2 BAG, Urt. v. 25.09.2014 - 2 AZR 567/13; hierzu krit. W. Gravenhorst,<br />
jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4; vgl. auch den Parallelfall LArbG Stuttgart,<br />
Urt. v. 15.11.2012 - 18 Sa 68/12 und hierzu W. Gravenhorst,<br />
jurisPR-ArbR 44/2013 Anm. 1.<br />
3 Vgl. W. Gravenhorst, jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4.<br />
4 Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2013, § 563, Rn. 3a; Düwell/Lipke, ArbGG, 3. Aufl.<br />
2012, § 75, Rn. 10.<br />
5 BAG, Urt. v. 22.10.2012 - 8 AZR 865/08 Rn. 18-20.<br />
6 W. Gravenhorst, jurisPR-ArbR 49/2014 Anm. 4.<br />
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