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JM 4 APRIL<br />

2016<br />

hatte das BSG nunmehr die sich nach nationalem Recht<br />

stellenden Fragen zu beantworten, insbesondere, ob ein<br />

Totalausschluss mit dem Grundrecht auf Gewährleistung<br />

eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1<br />

Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist. 4 Vorgelagert<br />

war die Frage, ob der Anspruchsausschluss auch dann<br />

Anwendung findet, wenn eine Freizügigkeitsberechtigung<br />

aus der Arbeitsuche nicht mehr besteht und auch aus anderen<br />

Gründen eine solche nicht gegeben ist.<br />

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung<br />

Die Kläger des Verfahrens, eine rumänische Familie mit<br />

zwei Kindern, lebten seit 2008 in Deutschland. Streitiger<br />

Zeitraum war die Zeit von Oktober 2010 bis November<br />

2011. Der Kläger zu 1) hatte in Rumänien eine Schlosserlehre<br />

absolviert, anschließend aber ganz überwiegend in<br />

ungelernten Tätigkeiten gearbeitet. Seine Ehefrau, die Klägerin<br />

zu 2), ging in Rumänien keiner Erwerbstätigkeit nach.<br />

In Deutschland hatte der Kläger zu 1) von Oktober 2008 bis<br />

Oktober 2009 ein Gewerbe für Abbruch- und Entkernungsarbeiten<br />

angemeldet, das er jedoch nicht betrieb. Bis Ende<br />

2010 verkauften die Eheleute gemeinsam eine Obdachlosenzeitung,<br />

woraus sie einen Erlös von rund je 120 € im<br />

Monat erhielten.<br />

Einen im Oktober 2010 gestellten Antrag auf Leistungen<br />

nach dem SGB II lehnte das beklagte Jobcenter ab. Die hiergegen<br />

erhobene Klage blieb ohne Erfolg. 5 Das LSG Nordrhein-Westfalen<br />

änderte das Urteil ab und verurteilte das<br />

Jobcenter, den Klägern Leistungen zu gewähren. 6 Ein Aufenthaltsrecht<br />

zur Arbeitsuche liege bei den Klägern nicht<br />

vor. Da die Bemühungen der Kläger, eine Arbeitsstelle zu<br />

erhalten, im streitigen Zeitraum nicht erfolgversprechend<br />

gewesen seien, seien diese nicht mehr zur Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt.<br />

Auch ein anderes Aufenthaltsrecht<br />

liege nicht vor. Die Kläger gehörten damit nicht zum ausgeschlossenen<br />

Personenkreis. Das Landessozialgericht lud<br />

den zuständigen Sozialhilfeträger bei.<br />

Die dagegen erhobene Revision des Beklagten hatte insoweit<br />

Erfolg, als den Klägern nicht Leistungen der Grundsicherung<br />

für Arbeitsuchende nach dem SGB II, sondern<br />

der Sozialhilfe nach dem SGB XII zu erbringen seien, wofür<br />

der Beigeladene zuständig sei. Die Kläger unterfielen<br />

dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.<br />

Sie verfügten zwar nicht über ein Aufenthaltsrecht allein<br />

zur Arbeitsuche i.S.d. Vorschrift, da die Feststellungen des<br />

Landessozialgerichts zur Aussichtslosigkeit der Arbeitsuche<br />

nicht zu beanstanden seien. Die Vorschrift des § 7<br />

Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei aber – über ihren Wortlaut<br />

hinaus – auf Fälle wie den besprochenen, in denen weder<br />

eine materielle Freizügigkeitsberechtigung noch ein Aufenthaltsrecht<br />

in Deutschland bestehe, anwendbar. Der<br />

Gesetzgeber habe es planwidrig unterlassen, den Leistungsausschluss<br />

auch auf diese Fälle zu erstrecken. Die<br />

genannte Personengruppe sei nach der Entstehungsgeschichte<br />

der Ausschlussregelung, ihrem systematischen<br />

Zusammenhang und der teleologischen Bedeutung der<br />

benannten Vorschrift „erst recht“ von diesen Leistungen<br />

ausgeschlossen. Den Klägern habe keine materielle Freizügigkeitsberechtigung<br />

nach dem FreizügG/EU oder ein<br />

anderes Aufenthaltsrecht zur Seite gestanden. Sie seien<br />

insbesondere nicht als Arbeitnehmer oder Selbstständige<br />

freizügigkeitsberechtigt. Weder das Verteilen der<br />

Obdachlosenzeitschrift noch das angemeldete Gewerbe<br />

würden diesen Status herbeiführen. Das Landessozialgericht<br />

habe festgestellt, dass es sich bei dem Verteilen<br />

der Zeitschrift um eine „dem Betteln gleichgestellte Tätigkeit“<br />

gehandelt habe. Das Abbruchgewerbe sei nie<br />

ausgeübt worden. Der Leistungsausschluss sei nach den<br />

bereits zitierten Entscheidungen des EuGH in den Sachen<br />

„Dano“ und „Alimanovic“ auch europarechtskonform.<br />

Die Kläger hätten aber einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

nach dem SGB XII (Sozialhilfe) gegen den<br />

Beigeladenen. Diese Leistungen seien nicht „gesperrt“,<br />

obwohl die Kläger zu 1) und zu 2) grds. erwerbsfähig<br />

seien. Da sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den<br />

Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, seien<br />

sie dem System des SGB XII, also der Sozialhilfe, zugewiesen.<br />

Zwar finde sich hier in § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2<br />

SGB XII ein mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vergleichbarer<br />

Ausschluss von Arbeitsuchenden, der auf die Kläger<br />

ebenfalls erst recht anzuwenden sei. Dies schließe aber<br />

lediglich einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1<br />

Satz 1 SGB XII, nicht aber die Gewährung im Ermessenswege<br />

nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII aus. Nach dieser<br />

Vorschrift kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies<br />

im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Regelung räume dem<br />

Sozialhilfeträger dem Grunde und der Höhe nach Ermessen<br />

ein. Im Falle eines „verfestigten Aufenthalts“ – über<br />

sechs Monate – sei dieses Ermessen jedoch aus Gründen<br />

der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben des BVerfG in dem Sinne auf Null<br />

reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

in gesetzlicher Höhe zu erbringen sei. So sei es<br />

auch im vorliegenden Fall.<br />

4 Siehe dazu: BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09; BVerfG, Urt. v.<br />

18.07.2012 - 1 BvL 10/10; siehe zudem etwa: Frerichs, ZESAR 2014,<br />

279 ff.<br />

5 SG Gelsenkirchen, Urt. v. 20.11.2012 - S 31 AS 47/11.<br />

6 LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 10.10.2013 - L 19 AS 129/13.<br />

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