Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland
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die bündischen Zeitschriften zeigt. Gesellschaftspolitisch übernahm man deren<br />
Perspektive: Der Kapitalismus wurde nicht als Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis<br />
zwischen Klassen gesehen, man setzte sich mit ihm auf der Ebene der<br />
»Weltanschauung«, der Identität und der sogenannten geistigen Werte ause<strong>in</strong>ander.<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund erschien der Kapitalismus zerstörerisch, diese Zerstörung<br />
und Zersetzung »den Juden« anzulasten, war <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />
nichts <strong>Neues</strong>. Die »Jüdische Plutokratie« als Zentrale e<strong>in</strong>es die Volkskräfte<br />
zerstörenden Kapitalismus brachte als Denkfigur die Möglichkeit, sich (verbal)<br />
radikal gegen die bestehenden <strong>Zustände</strong> aufzulehnen, ohne sich konsequent mit<br />
dem Wesen kapitalistischer Ausbeutung ause<strong>in</strong>andersetzen und so etwa noch die<br />
eigene Klassenlage <strong>in</strong>frage stellen zu müssen (was noch dazu <strong>in</strong>tellektuell weit<br />
weniger anstrengend war). Der <strong>Antisemitismus</strong> wurde <strong>in</strong> der Weimarer Republik<br />
zur Ideologie des national ges<strong>in</strong>nten Bürgertums, und die bürgerliche Jugendbewegung<br />
war <strong>in</strong> dieser Entwicklung e<strong>in</strong> wesentlicher Faktor.<br />
Ausprägungen des <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> der bürgerlichen Jugendbewegung<br />
Folgt man der Trennung des <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en des »Gefühls« und e<strong>in</strong>en der<br />
»Vernunft«, so lässt sich die Bündische Jugend dem »gefühlsmäßigen <strong>Antisemitismus</strong>«<br />
zuordnen. Ulrike Treziak schreibt <strong>in</strong> ihrer Arbeit »Deutsche Jugendbewegung<br />
am Ende der Weimarer Republik: zum Verhältnis von Bündischer Jugend<br />
und Nationalsozialismus«: »Wenn man diesen Def<strong>in</strong>itionen folgt, so waren die<br />
Bünde ›nur‹ gefühlsmäßige Antisemiten <strong>in</strong>sofern, als sie zwar ihre fe<strong>in</strong>dliche Haltung<br />
gegen das Judentum unverhohlen deutlich machten, daraus aber ke<strong>in</strong>e<br />
Schlussfolgerungen zogen. Man kann also sagen, dass es <strong>in</strong> vielen Bünden e<strong>in</strong>en<br />
ausgeprägten <strong>Antisemitismus</strong> gab, der jedoch nicht zur Grundlage e<strong>in</strong>er politischen<br />
Strategie gemacht wurde.«<br />
Erwartungsgemäß ist es nicht leicht, über die zugänglichen Quellen – <strong>in</strong> erster<br />
L<strong>in</strong>ie also die Zeitschriften – e<strong>in</strong>en manifesten <strong>Antisemitismus</strong> zu belegen. Antisemitisches<br />
Denken war so weit Teil des »common sense«, dass es ansche<strong>in</strong>end<br />
ke<strong>in</strong>er weiteren Ausführungen bedurfte. Kritik an Entfremdung und Entwurzelung,<br />
an der »Nervosität« des modernen Lebens war antisemitisch konnotiert,<br />
ohne dass hier weitere H<strong>in</strong>weise notwendig waren. Das alles blieb gleichzeitig auf<br />
e<strong>in</strong>er literarischen Ebene, im Gegensatz zum früheren Wandervogel waren auch<br />
Ause<strong>in</strong>andersetzungen »organisationspolitischer« Natur – etwa um die Frage, ob<br />
der »Ariernachweis« Voraussetzung der Mitgliedschaft <strong>in</strong> den Gruppen 1 se<strong>in</strong><br />
sollte – ansche<strong>in</strong>end überflüssig geworden. Von den Ausschreitungen der SA und<br />
der HJ, ihrer Hetzjagden auf Juden und Kommunisten grenzte man sich ab; dabei<br />
1 Dies war beim deutsch-österreichischen Wandervogel der Fall, der sich damit allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> den reichsdeutschen<br />
Wandervogelgruppen vor dem Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen konnte.<br />
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