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Barftgaans 4/5 2017

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FEUILLETON<br />

VOLLSTÄNDIG KAPITULIERT<br />

Die Familiengeschichte von H.-H. Decker-Voigt ist im Jahr 1945 angekommen<br />

Es ist das vierte Buch der Familiensaga „Das Pfarrhaus“, das auf der<br />

Buchmesse in Leipzig soeben erschien. Professor Hans-Helmut<br />

Decker-Voigt wird sich schon bald mit Buch fünf befassen, das dann übers<br />

Jahr auf den Markt kommt. Bis jetzt füllt die Geschichte über den Pfarrer<br />

Georg-Wilhelm Vogintius, Jahrgang 1889, seine Frau Dorothea und die<br />

Kinder Elisabeth, Heinrich, Paul, Rudolf, Ursula und Johanna 2558 Seiten.<br />

„Die Vogintii“ nennen sie sich. Klarstellend, dass es sich hier um eine lateingelehrte<br />

Sippe handelt, die die humanistische Bildung hochhält, die<br />

Kraft des Wortes und den Disput schätzt, Gewalt aber verabscheut. Man<br />

verrät kein Geheimnis mit der Voraussage, dass das Epos auf am Ende erheblich<br />

über 3000 Blätter angewachsen sein wird (es gibt aber auch alles<br />

als E-Book). Der Autor wird dann mehr als ein Jahrhundert Familiengeschichte<br />

durchschritten haben.<br />

Aber was heißt Familiengeschichte? Decker-Voigt hat deutsche Geschichte<br />

nur an seiner Familie konkret festgemacht. Die Handelnden sind<br />

seine Großeltern, seine Eltern, Onkel und Tanten. Am Ende von Buch vier<br />

ist er selbst auf diese Welt gebracht worden. Eine Welt, die in Trümmern<br />

versinkt; in ein Leben, das für den kleinen Jungen keinen Vater vorsieht,<br />

weil der kurz vor Kriegsende wegen seiner widerständigen Mitwirkung an<br />

einer Vision vom Deutschland nach „Herrn Hitler“ erschossen wurde.<br />

Die allgemeine Erfahrung mit Fortsetzungen besagt ja, dass sie meist<br />

schlechter werden, weil nichts mehr zu erzählen bleibt. Weil es, eine Entwicklung<br />

darzustellen aus der Persönlichkeit heraus, sie hineinzustellen<br />

in die Zeit, einiger Kunstfertigkeit bedarf. Menschenkenntnis braucht‘s<br />

dazu und die Erfahrungen mit psychischem Druck, mentaler Vereinnahmung,<br />

charakterlichen Schwächen.<br />

Bei Decker-Voigt werden die Bücher mit jeder Fortsetzung besser,<br />

denn er verliert seinen Ton nicht; diesen Erzählstil zwischen poetischer<br />

Schwärmerei und Hauptsatz-Lakonie. Der Professor der Musiktherapie<br />

schreibt immer noch, auch auf Seite 2000, mit Sprachenergie, weil mit<br />

dem Erschrecken darüber, dass vieles, was in der Welt seiner Erzählebene<br />

geschah, ungeheuerlich, grausam und unfassbar – weil von Menschen<br />

angerichtet – war. Nebenbei erschließt sich dem Leser so manche<br />

(historische) Tatsache aus einer anderen Perspektive: Über die Arbeit der<br />

Bekennenden Kirche etwa oder die Involvierten des Stauffenberg-Attentats.<br />

Darüber, wie weit die Vorhaben, ihre Grundlagen und illusorischen<br />

Annahmen über den Ausgang und die Folgen, von der gesellschaftspolitischen<br />

Realität entfernt waren. Denn das Deutschland damals hatte nicht<br />

das kleinste Recht, die kämpfenden Alliierten in Ost und West um Schonung<br />

und Verhandlungen zu ersuchen.<br />

Die Handlung des Buches führt den Leser in die Zeit zwischen Dezember<br />

1943 und Weihnachten 1945, erste Friedensweihnacht nach mörderischen<br />

Jahren. „Vom Kreuz mit den Haken – Feste feiern, bevor die Männer<br />

fallen“ lautet der fast zynisch anmutende Titel. Dabei suchten alle in dieser<br />

Zeit doch nichts mehr als ein wenig Zerstreuung, ein bisschen Normalität<br />

zwischen Bombenhagel und Schützengraben, in all den Unwägbarkeiten<br />

und dem Bewusstsein, selber nicht frei von Schuld zu sein. – Dieser<br />

Band IV bündelt mäandernde Erinnerungen und pralles Leben, Kirchengemeindeklatsch<br />

und Gestapoverhör, Hochzeitsfeier in Kriegszeiten<br />

(„bevor die Männer fallen“) und den Versuch, Gefühl zu erhalten oder zu<br />

entwickeln in einer Beziehung, die in Briefen stattfindet und nie frei von<br />

der Angst ist, der letzte Urlaub könnte wirklich der finale gewesen sein.<br />

Der Autor inszeniert das Schöne und Schlimme des Alltags, des Mittelmäßigen,<br />

auf eine Art, die den Leser immer zum Mitfühlenden macht.<br />

Die Tatsache, dass die Bücher zwischen Holdenstedt und Celle spielen,<br />

könnte sie zur bloßen Regionalerzählung degradieren; weil das Thema<br />

aber ein deutsches ist, werden sie allgemeingültig und damit zu Literatur.<br />

Es hat tausende Familien gegeben, durch die der Riss ging: für oder gegen<br />

die Nazis. Die Familie Vogintius wird zusammengehalten durch den<br />

Glauben, sie mögen es dadurch einfacher gehabt haben, auch wenn sie<br />

die Entwicklung ihres Rudolf, hochdekoriert und an des „Führers“ Kaffeetisch<br />

geladen mit gerade 17 Jahren, mit Sorge sehen.<br />

Decker-Voigt schafft es, sein großes Personal-Tableau vor unser Auge zu<br />

stellen und ihnen Typisches zu verleihen. Wie sonst könnte es sein, dass<br />

ich selber den Astronomie-Studenten Heinrich am meisten mag, die junge<br />

Ehefrau Elisabeth verstehe, obwohl sie ein wenig kühl und sehr rational<br />

daherkommt, für den oberschlauen und vorlauten Paul ein Herz habe<br />

und das Familienoberhaupt Georg-Wilhelm bewundere für sein Pensum<br />

an Arbeit, für die Balance seiner Predigten zwischen Klartext und schlitzohriger<br />

Doppeldeutigkeit, weil die Gestapo in fast jedem Gottesdienst<br />

mitschreibt.<br />

Hans-Helmut Decker-Voigts Annäherung an seine Familie ist respektvoll,<br />

intensiv und behutsam. Dazu unbestechlich. Und er berichtet unausweichlich<br />

über sich selbst, auch wenn er über andere schreibt. – Schreiben<br />

spiegelt Unterwegssein, fragt nach den Wurzeln, nach Verlorenem, neu<br />

Gewonnenem. Der 72-jährige Autor hat sich auf einen sehr langen Weg<br />

gemacht mit seinen Büchern über das Pfarrhaus. Er plaudert und analysiert,<br />

verwebt Fakten und Folgerungen, Anekdoten und Assoziationen zu<br />

einem dichten, farbigen Teppich. Und erschafft damit Gültiges.<br />

<br />

[Barbara Kaiser]<br />

„Vom Kreuz mit<br />

den Haken“<br />

Das Pfarrhaus,<br />

Buch 4. Soeben<br />

erschienen auf der<br />

Leipziger Buchmesse<br />

im Shaker Media<br />

Verlag.<br />

12<br />

www.barftgaans.de | April/Mai <strong>2017</strong>

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