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FEUILLETON<br />
VOLLSTÄNDIG KAPITULIERT<br />
Die Familiengeschichte von H.-H. Decker-Voigt ist im Jahr 1945 angekommen<br />
Es ist das vierte Buch der Familiensaga „Das Pfarrhaus“, das auf der<br />
Buchmesse in Leipzig soeben erschien. Professor Hans-Helmut<br />
Decker-Voigt wird sich schon bald mit Buch fünf befassen, das dann übers<br />
Jahr auf den Markt kommt. Bis jetzt füllt die Geschichte über den Pfarrer<br />
Georg-Wilhelm Vogintius, Jahrgang 1889, seine Frau Dorothea und die<br />
Kinder Elisabeth, Heinrich, Paul, Rudolf, Ursula und Johanna 2558 Seiten.<br />
„Die Vogintii“ nennen sie sich. Klarstellend, dass es sich hier um eine lateingelehrte<br />
Sippe handelt, die die humanistische Bildung hochhält, die<br />
Kraft des Wortes und den Disput schätzt, Gewalt aber verabscheut. Man<br />
verrät kein Geheimnis mit der Voraussage, dass das Epos auf am Ende erheblich<br />
über 3000 Blätter angewachsen sein wird (es gibt aber auch alles<br />
als E-Book). Der Autor wird dann mehr als ein Jahrhundert Familiengeschichte<br />
durchschritten haben.<br />
Aber was heißt Familiengeschichte? Decker-Voigt hat deutsche Geschichte<br />
nur an seiner Familie konkret festgemacht. Die Handelnden sind<br />
seine Großeltern, seine Eltern, Onkel und Tanten. Am Ende von Buch vier<br />
ist er selbst auf diese Welt gebracht worden. Eine Welt, die in Trümmern<br />
versinkt; in ein Leben, das für den kleinen Jungen keinen Vater vorsieht,<br />
weil der kurz vor Kriegsende wegen seiner widerständigen Mitwirkung an<br />
einer Vision vom Deutschland nach „Herrn Hitler“ erschossen wurde.<br />
Die allgemeine Erfahrung mit Fortsetzungen besagt ja, dass sie meist<br />
schlechter werden, weil nichts mehr zu erzählen bleibt. Weil es, eine Entwicklung<br />
darzustellen aus der Persönlichkeit heraus, sie hineinzustellen<br />
in die Zeit, einiger Kunstfertigkeit bedarf. Menschenkenntnis braucht‘s<br />
dazu und die Erfahrungen mit psychischem Druck, mentaler Vereinnahmung,<br />
charakterlichen Schwächen.<br />
Bei Decker-Voigt werden die Bücher mit jeder Fortsetzung besser,<br />
denn er verliert seinen Ton nicht; diesen Erzählstil zwischen poetischer<br />
Schwärmerei und Hauptsatz-Lakonie. Der Professor der Musiktherapie<br />
schreibt immer noch, auch auf Seite 2000, mit Sprachenergie, weil mit<br />
dem Erschrecken darüber, dass vieles, was in der Welt seiner Erzählebene<br />
geschah, ungeheuerlich, grausam und unfassbar – weil von Menschen<br />
angerichtet – war. Nebenbei erschließt sich dem Leser so manche<br />
(historische) Tatsache aus einer anderen Perspektive: Über die Arbeit der<br />
Bekennenden Kirche etwa oder die Involvierten des Stauffenberg-Attentats.<br />
Darüber, wie weit die Vorhaben, ihre Grundlagen und illusorischen<br />
Annahmen über den Ausgang und die Folgen, von der gesellschaftspolitischen<br />
Realität entfernt waren. Denn das Deutschland damals hatte nicht<br />
das kleinste Recht, die kämpfenden Alliierten in Ost und West um Schonung<br />
und Verhandlungen zu ersuchen.<br />
Die Handlung des Buches führt den Leser in die Zeit zwischen Dezember<br />
1943 und Weihnachten 1945, erste Friedensweihnacht nach mörderischen<br />
Jahren. „Vom Kreuz mit den Haken – Feste feiern, bevor die Männer<br />
fallen“ lautet der fast zynisch anmutende Titel. Dabei suchten alle in dieser<br />
Zeit doch nichts mehr als ein wenig Zerstreuung, ein bisschen Normalität<br />
zwischen Bombenhagel und Schützengraben, in all den Unwägbarkeiten<br />
und dem Bewusstsein, selber nicht frei von Schuld zu sein. – Dieser<br />
Band IV bündelt mäandernde Erinnerungen und pralles Leben, Kirchengemeindeklatsch<br />
und Gestapoverhör, Hochzeitsfeier in Kriegszeiten<br />
(„bevor die Männer fallen“) und den Versuch, Gefühl zu erhalten oder zu<br />
entwickeln in einer Beziehung, die in Briefen stattfindet und nie frei von<br />
der Angst ist, der letzte Urlaub könnte wirklich der finale gewesen sein.<br />
Der Autor inszeniert das Schöne und Schlimme des Alltags, des Mittelmäßigen,<br />
auf eine Art, die den Leser immer zum Mitfühlenden macht.<br />
Die Tatsache, dass die Bücher zwischen Holdenstedt und Celle spielen,<br />
könnte sie zur bloßen Regionalerzählung degradieren; weil das Thema<br />
aber ein deutsches ist, werden sie allgemeingültig und damit zu Literatur.<br />
Es hat tausende Familien gegeben, durch die der Riss ging: für oder gegen<br />
die Nazis. Die Familie Vogintius wird zusammengehalten durch den<br />
Glauben, sie mögen es dadurch einfacher gehabt haben, auch wenn sie<br />
die Entwicklung ihres Rudolf, hochdekoriert und an des „Führers“ Kaffeetisch<br />
geladen mit gerade 17 Jahren, mit Sorge sehen.<br />
Decker-Voigt schafft es, sein großes Personal-Tableau vor unser Auge zu<br />
stellen und ihnen Typisches zu verleihen. Wie sonst könnte es sein, dass<br />
ich selber den Astronomie-Studenten Heinrich am meisten mag, die junge<br />
Ehefrau Elisabeth verstehe, obwohl sie ein wenig kühl und sehr rational<br />
daherkommt, für den oberschlauen und vorlauten Paul ein Herz habe<br />
und das Familienoberhaupt Georg-Wilhelm bewundere für sein Pensum<br />
an Arbeit, für die Balance seiner Predigten zwischen Klartext und schlitzohriger<br />
Doppeldeutigkeit, weil die Gestapo in fast jedem Gottesdienst<br />
mitschreibt.<br />
Hans-Helmut Decker-Voigts Annäherung an seine Familie ist respektvoll,<br />
intensiv und behutsam. Dazu unbestechlich. Und er berichtet unausweichlich<br />
über sich selbst, auch wenn er über andere schreibt. – Schreiben<br />
spiegelt Unterwegssein, fragt nach den Wurzeln, nach Verlorenem, neu<br />
Gewonnenem. Der 72-jährige Autor hat sich auf einen sehr langen Weg<br />
gemacht mit seinen Büchern über das Pfarrhaus. Er plaudert und analysiert,<br />
verwebt Fakten und Folgerungen, Anekdoten und Assoziationen zu<br />
einem dichten, farbigen Teppich. Und erschafft damit Gültiges.<br />
<br />
[Barbara Kaiser]<br />
„Vom Kreuz mit<br />
den Haken“<br />
Das Pfarrhaus,<br />
Buch 4. Soeben<br />
erschienen auf der<br />
Leipziger Buchmesse<br />
im Shaker Media<br />
Verlag.<br />
12<br />
www.barftgaans.de | April/Mai <strong>2017</strong>