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FEUILLETON<br />
ERNST, MARTIN UND UELZEN<br />
Gedanken zu den Collage-Kalenderblättern von Georg Lipinsky<br />
Vielleicht zitiert man im Lutherjahr einmal Marx. Nicht Reinhard, den<br />
Präsidenten der deutschen Bischofskonferenz, sondern Karl, den<br />
Ökonom und Philosophen aus Trier. Der feiert ja im nächsten Jahr Jubiläumsgeburtstag,<br />
und der Stadtrat seiner Heimatstadt hat gerade mit großer<br />
Mehrheit das Geschenk aus China, eine gewaltige Bronzestatue des<br />
Denkers, angenommen. Was also sagte der Karl über den Martin: „Luther<br />
hat … die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus<br />
Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität<br />
gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restaurierte. … Er hat den<br />
Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten legte.“ Ja, wie<br />
nun? Große Befreiung oder doch nur wieder Gefangenschaft?<br />
Durch die Jahrhunderte wurden zu<br />
Gunsten Luthers und seiner Anhänger<br />
nicht nur die Widersacher denunziert,<br />
sondern auch die Frauen ganz selbstverständlich<br />
verdrängt. Was also ist mit Ulrich<br />
von Hutten, Erasmus von Rotterdam<br />
(der die Reformation ablehnte), Ulrich<br />
Zwingli? Oder Johannes Reuchlin mit<br />
seiner humanistischen Botschaft, nichts<br />
zu verachten, nur weil es andersartig<br />
ist? Thomas Müntzer nicht zu vergessen,<br />
der die Meinung vertrat, dass die Herren<br />
das selber machen, „daß ihnen der arme<br />
Mann Feind wird“. Und die Frauen? Katharina<br />
Schütz zum Beispiel, die Frau des<br />
Straßburger Reformators Matthäus Zell,<br />
die selber schrieb. Oder die Wittenberger<br />
Liederdichterin Elisabeth Cruciger.<br />
Argula von Grumbach, die aus Bayern<br />
mit Luther korrespondierte und selbst<br />
religiöse Flugschriften verfasste. Wer gedächte<br />
Ottilie von Gersen, der Frau Thomas<br />
Müntzers, die nach dessen Hinrichtung schwanger<br />
und mittellos durchs Land zog, weil ihr das Habe des Mannes verwehrt<br />
wurde.<br />
Friedrich Engels nannte die Zeit, in der die Reformation siedelt, „frühbürgerliche<br />
Revolution“. Und weil hier noch nicht die Namen der Künstler<br />
gefallen sind – Dürer, Ratgeb, Grünewald –, gehört an dieser Stelle und<br />
in diesem Jahr der Besuch des Werner-Tübke-Panoramas in Bad Frankenhausen<br />
nahezu zwingend ins Programm.<br />
Uelzen reiht sich in die Feierlichkeiten mit einem bunten Reigen, der<br />
allerdings beinahe ausschließlich Luther huldigt. Natürlich forderte<br />
der Reformator zu Recht die Zurückdrängung der weltlichen Macht des<br />
Papsttums, das zusätzlich mit dem Ablasshandel eine Gelddruckmaschine<br />
erfunden hatte, und die Rückführung aller kirchlichen Verhältnisse<br />
auf die Einfachheit, die die Bibel für das Urchristentum bezeugt. Aber das<br />
Recht eines jeden, in Sachen des Glaubens selbst zu urteilen, hat Luther<br />
nicht konsequent verfolgt. Die aufständischen Bürger und Bauern – die<br />
von ihm benannten freien Christenmenschen – irritierten den Doktor<br />
doch sehr! Es gäbe also viel zu streiten über diesen Martin Luther, der seinen<br />
neuen Glauben für so unwiderstehlich hielt, dass sogar die Juden ihm<br />
beizutreten hätten. Als sie es nicht taten – wir kennen die Konsequenz.<br />
Aber eigentlich soll hier etwas über die Kalenderblätter von Georg<br />
Lipinsky gesagt werden, die noch bis Oktober im Neuen Schauspielhaus<br />
zu sehen sind. Darauf beschäftigt sich der Künstler mit Martin, Ernst und<br />
Uelzen. Der Reformator und der regierende Herzog – auch keine Frauen<br />
weit und breit! Die verlässlichen Collagen zeigen das bekannte Cranach-<br />
Gemälde von Herzog Ernst I., der 1497 eher zufällig in der hiesigen Pastorenstraße<br />
geboren wurde, in Variationen. Auch im Kostüm des Superman.<br />
Ernst war Mitunterzeichner des Augsburger Bekenntnisses von 1530, einer<br />
Art „Positionspapier“ der protestantischen<br />
Reichstände, das als theoretische<br />
Grundlage für den Schmalkaldischen<br />
Bund gilt. Krieg verhinderte der nicht.<br />
Im Jahr 1555 – da war Ernst schon neun<br />
Jahre tot und konnte also nicht, wie auf<br />
dem Programmheft zur Unterzeichnung<br />
eilen – kam es zum Augsburger Religionsfrieden,<br />
der das berühmte „cuius<br />
regio, eius religio“ formulierte und die<br />
Landesfürsten ermächtigte, ihren Untertanen<br />
die Religion vorzuschreiben. Eine<br />
Trennung von Kirche und Staat, wie an<br />
mehreren Stellen kolportiert während<br />
der Ausstellungseröffnung, war das mitnichten.<br />
Lipinskys Martin Luther kommt in<br />
mancherlei Gestalt, sogar als Popart<br />
oder vielfacher Klon, aufs Papier. Die<br />
Silhouette von St. Marien und die eine<br />
oder andere Lutherrose komplettieren<br />
die Blätter, genau wie eine Partitur der<br />
„festen Burg“, auf der die Wartburg thront.<br />
Das letzte Blatt zeigt Martin und Ernst vereint als winkendes<br />
Zweigestirn. Hier guckt Georg Lipinsky, wie Ausstellungsbesucher<br />
es von ihm gewöhnt sind, über den<br />
Uelzener Tellerrand: Denn er<br />
setzt die Häupter Luthers und<br />
Ernsts dem berühmten Foto von<br />
Wladimir Iljitsch Lenin auf. Sogar<br />
dessen Mütze hält einer in der<br />
Hand. Augenzwinkernde Verbeugung<br />
vor einem anderen<br />
Jubiläum – dem 100. Jahrestag<br />
der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution<br />
in Russland.<br />
Martin, Ernst und Wladimir?<br />
Das müsste man mal weiterdenken!<br />
[Barbara Kaiser]<br />
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www.barftgaans.de | April/Mai <strong>2017</strong>