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Barftgaans 4/5 2017

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THEMEN<br />

LEBEN UNTER DER KUPPEL<br />

Angelique Levknecht verbringt ein Auslandssemester in Ankara<br />

Als wir mit der Erasmus-Gruppe an einem Sonntag den Campus verlassen<br />

und in eine Stadt namens Konya fahren, werden wir unmittelbar<br />

nach Verlassen des Busses von Kindern angesprochen, die uns um<br />

Geld bitten und uns in eine dieser unangenehmen Situationen bringen.<br />

Der innerer Konflikt, der Fragen aufwirft: Wer schickt diese Kinder, ihre<br />

Familie oder eine kriminelle Organisation? Werden sie bestraft, wenn sie<br />

ohne Geld nach Hause kommen, oder wird Kinderarbeit eines Tages eingestellt,<br />

wenn niemand ihnen etwas gibt? Mein Freund aus den Niederlanden<br />

trifft den Nagel auf den Kopf: „Auf dem Campus ist die Welt noch<br />

in Ordnung – kommen wir aber mal raus, so sehen wir, welche Probleme<br />

die türkische Gesellschaft bewegen – Probleme wie Armut.“<br />

Ja, auf dem Campus ist die Welt noch in Ordnung. Tatsächlich fühle ich<br />

mich, als würden wir unter einer Kuppel leben, fernab von der Außenwelt,<br />

fernab von Ankara, obwohl die Haupt- und Regierungsstadt inklusive des<br />

neuen, selbsternannten „Vaters“ und seinem Gefolge direkt um uns herum<br />

tobt.<br />

Zurück am Gate A1 angekommen, einer der vier streng bewachten Eingänge<br />

der Orta Doğu Teknik Üniversitesi (kurz: ODTÜ; dt. Technische Universität<br />

des Nahen Ostens), wird jeder einzelne von einer Sicherheitskraft<br />

aufgefordert, seinen Studentenausweis vorzuzeigen. Der Eintritt in den<br />

vollständig mit Stacheldraht eingezäunten, liberalen Ort in Ankara ist nur<br />

Professoren, Personal und Studenten sowie mit Sondergenehmigung deren<br />

engsten Verwandten gestattet. Die Besucherregeln wurden aufgrund<br />

des Ausnahmezustands angepasst.<br />

Der Bus passiert die West Dormitories und gelangt nach 20 Minuten<br />

Weg quer durch den Campus zu den East Dormitories. Die Nachtwache<br />

erwartet uns in der Lobby. Eigentlich wartet sie auf türkische Studierende,<br />

deren Eltern mindestens 200 Euro pro Monat zahlen, damit kontrolliert<br />

wird, dass ihr Kind vor 1 Uhr das Dormitory erreicht bzw. einen guten<br />

Grund für seine Verspätung hat. Marc und ich wünschen uns eine gute<br />

Nacht, denn zur Nacht trennen sich wie selbstverständlich unsere Wege<br />

nach Geschlechtern.<br />

Vor dem Schlafengehen in meinem Doppelzimmer, das ich mit einer<br />

Türkin aus Adana teile, lese ich über verhaftete Journalisten, historisch<br />

motivierte Beschuldigungen und die Auflösung von Städtepartnerschaften<br />

zwischen Rotterdam und Istanbul.<br />

Bereits einen Tag später darf mein niederländischer Freund beim Beantragen<br />

des Residence Permit den unverhofften Spott am eigenen Leib<br />

erdulden: Nachdem er seinen niederländischen Pass dem türkischen Bürokraten<br />

unter die Nase hält, lacht dieser höhnisch zu seinem Kollegen<br />

herüber. Während besagter niederländischer Freund uns von seinen Erlebnissen<br />

berichtet, genießen wir ein kleines 3-Gänge-Menü für 2,35 Lira.<br />

Da fällt mir ein Flyer der kommunistischen Unipartei auf. Ein türkischer<br />

Freund übersetzt frei, es ginge darum, dass die regierende AKP mit ihrer<br />

Politik nicht das Wohl des Volkes verfolge, sondern lediglich mit den imperialistischen<br />

Feinden kooperiere. Um dies zu stoppen, solle unbedingt<br />

mit „Hayır“ am 16. April gestimmt werden – gegen ein präsidentielles Regierungssystem.<br />

Vorbei an sämtlichen Ingenieurswesensfakultäten laufen wir auf dem<br />

Weg zum Pilateskurs auch am Stadion vorbei. In riesigen Buchstaben<br />

steht auf der Tribüne DEVRIM (dt. Revolution) geschrieben. Ich frage<br />

mich, wie revolutionäre Ideen auf einem Platz mit derartiger Ausdruckskraft<br />

hier unter dieser „Kuppel“ überleben können, in einem Land, in dem<br />

demokratische Strukturen drastisch rückgebildet – gar unterbunden werden.<br />

Schließlich bin ich dankbar dafür, das Bild der Türkei aus der deutschen<br />

Presse gegen meine eigenen Eindrücke aufwiegen und beides zu<br />

einem Puzzle zusammenfügen zu können.<br />

Morgen erwartet mich ein politisches Theaterstück, bei dem meine<br />

Theaterkursleiterin unter einem Pseudonym Regie geführt hat. Normalerweise<br />

arbeitet sie an staatlichen Theatern und fürchtet um ihre Beschäftigung,<br />

wenn sie mit diesem privaten Stück in Verbindung gebracht<br />

werden würde.<br />

Über mich<br />

Mein Name ist Angelique Levknecht, ich bin 23 Jahre alt und habe<br />

von diesen etwa 18 Jahre im Landkreis Uelzen gelebt. Derzeit studiere<br />

ich in Lüneburg Englisch und Deutsch auf Lehramt für die<br />

weiterführende Schule. Seit April 2016 lese ich einige Texte für Initia<br />

Medien sowie für die <strong>Barftgaans</strong> Korrektur und teile das Magazin<br />

in Bad Bevensen aus. Nun juckt es mir erstmals in den Fingern,<br />

selbst einen Artikel beizutragen, denn mir ist es ermöglicht worden,<br />

ein Auslandssemester in Ankara zu verbringen. Bewusst sage ich<br />

nicht „zu studieren“, weil es doch viel mehr ist als das.<br />

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www.barftgaans.de | April/Mai <strong>2017</strong>

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