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THEMEN<br />
LEBEN UNTER DER KUPPEL<br />
Angelique Levknecht verbringt ein Auslandssemester in Ankara<br />
Als wir mit der Erasmus-Gruppe an einem Sonntag den Campus verlassen<br />
und in eine Stadt namens Konya fahren, werden wir unmittelbar<br />
nach Verlassen des Busses von Kindern angesprochen, die uns um<br />
Geld bitten und uns in eine dieser unangenehmen Situationen bringen.<br />
Der innerer Konflikt, der Fragen aufwirft: Wer schickt diese Kinder, ihre<br />
Familie oder eine kriminelle Organisation? Werden sie bestraft, wenn sie<br />
ohne Geld nach Hause kommen, oder wird Kinderarbeit eines Tages eingestellt,<br />
wenn niemand ihnen etwas gibt? Mein Freund aus den Niederlanden<br />
trifft den Nagel auf den Kopf: „Auf dem Campus ist die Welt noch<br />
in Ordnung – kommen wir aber mal raus, so sehen wir, welche Probleme<br />
die türkische Gesellschaft bewegen – Probleme wie Armut.“<br />
Ja, auf dem Campus ist die Welt noch in Ordnung. Tatsächlich fühle ich<br />
mich, als würden wir unter einer Kuppel leben, fernab von der Außenwelt,<br />
fernab von Ankara, obwohl die Haupt- und Regierungsstadt inklusive des<br />
neuen, selbsternannten „Vaters“ und seinem Gefolge direkt um uns herum<br />
tobt.<br />
Zurück am Gate A1 angekommen, einer der vier streng bewachten Eingänge<br />
der Orta Doğu Teknik Üniversitesi (kurz: ODTÜ; dt. Technische Universität<br />
des Nahen Ostens), wird jeder einzelne von einer Sicherheitskraft<br />
aufgefordert, seinen Studentenausweis vorzuzeigen. Der Eintritt in den<br />
vollständig mit Stacheldraht eingezäunten, liberalen Ort in Ankara ist nur<br />
Professoren, Personal und Studenten sowie mit Sondergenehmigung deren<br />
engsten Verwandten gestattet. Die Besucherregeln wurden aufgrund<br />
des Ausnahmezustands angepasst.<br />
Der Bus passiert die West Dormitories und gelangt nach 20 Minuten<br />
Weg quer durch den Campus zu den East Dormitories. Die Nachtwache<br />
erwartet uns in der Lobby. Eigentlich wartet sie auf türkische Studierende,<br />
deren Eltern mindestens 200 Euro pro Monat zahlen, damit kontrolliert<br />
wird, dass ihr Kind vor 1 Uhr das Dormitory erreicht bzw. einen guten<br />
Grund für seine Verspätung hat. Marc und ich wünschen uns eine gute<br />
Nacht, denn zur Nacht trennen sich wie selbstverständlich unsere Wege<br />
nach Geschlechtern.<br />
Vor dem Schlafengehen in meinem Doppelzimmer, das ich mit einer<br />
Türkin aus Adana teile, lese ich über verhaftete Journalisten, historisch<br />
motivierte Beschuldigungen und die Auflösung von Städtepartnerschaften<br />
zwischen Rotterdam und Istanbul.<br />
Bereits einen Tag später darf mein niederländischer Freund beim Beantragen<br />
des Residence Permit den unverhofften Spott am eigenen Leib<br />
erdulden: Nachdem er seinen niederländischen Pass dem türkischen Bürokraten<br />
unter die Nase hält, lacht dieser höhnisch zu seinem Kollegen<br />
herüber. Während besagter niederländischer Freund uns von seinen Erlebnissen<br />
berichtet, genießen wir ein kleines 3-Gänge-Menü für 2,35 Lira.<br />
Da fällt mir ein Flyer der kommunistischen Unipartei auf. Ein türkischer<br />
Freund übersetzt frei, es ginge darum, dass die regierende AKP mit ihrer<br />
Politik nicht das Wohl des Volkes verfolge, sondern lediglich mit den imperialistischen<br />
Feinden kooperiere. Um dies zu stoppen, solle unbedingt<br />
mit „Hayır“ am 16. April gestimmt werden – gegen ein präsidentielles Regierungssystem.<br />
Vorbei an sämtlichen Ingenieurswesensfakultäten laufen wir auf dem<br />
Weg zum Pilateskurs auch am Stadion vorbei. In riesigen Buchstaben<br />
steht auf der Tribüne DEVRIM (dt. Revolution) geschrieben. Ich frage<br />
mich, wie revolutionäre Ideen auf einem Platz mit derartiger Ausdruckskraft<br />
hier unter dieser „Kuppel“ überleben können, in einem Land, in dem<br />
demokratische Strukturen drastisch rückgebildet – gar unterbunden werden.<br />
Schließlich bin ich dankbar dafür, das Bild der Türkei aus der deutschen<br />
Presse gegen meine eigenen Eindrücke aufwiegen und beides zu<br />
einem Puzzle zusammenfügen zu können.<br />
Morgen erwartet mich ein politisches Theaterstück, bei dem meine<br />
Theaterkursleiterin unter einem Pseudonym Regie geführt hat. Normalerweise<br />
arbeitet sie an staatlichen Theatern und fürchtet um ihre Beschäftigung,<br />
wenn sie mit diesem privaten Stück in Verbindung gebracht<br />
werden würde.<br />
Über mich<br />
Mein Name ist Angelique Levknecht, ich bin 23 Jahre alt und habe<br />
von diesen etwa 18 Jahre im Landkreis Uelzen gelebt. Derzeit studiere<br />
ich in Lüneburg Englisch und Deutsch auf Lehramt für die<br />
weiterführende Schule. Seit April 2016 lese ich einige Texte für Initia<br />
Medien sowie für die <strong>Barftgaans</strong> Korrektur und teile das Magazin<br />
in Bad Bevensen aus. Nun juckt es mir erstmals in den Fingern,<br />
selbst einen Artikel beizutragen, denn mir ist es ermöglicht worden,<br />
ein Auslandssemester in Ankara zu verbringen. Bewusst sage ich<br />
nicht „zu studieren“, weil es doch viel mehr ist als das.<br />
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www.barftgaans.de | April/Mai <strong>2017</strong>