Das Handwerk im Nationalsozialismus - Handwerkskammer ...
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und Wertarbeit. Wilhelm Wagner aus Mössingen<br />
bei Tübingen wird am 7. November<br />
2001 stolze 99 Jahre alt und ist in Deutschland<br />
der älteste noch arbeitende Schuhmachermeister.<br />
Vater Konrad war schon Schuhmachermeister.<br />
Zusammen haben sie das Fachwerkhaus,<br />
Baujahr 1656, das in der Straße<br />
Auf der Lehr liegt, gekauft. Einst war die<br />
Stadt Mössingen, die heute knapp 20.000<br />
Einwohner zählt, eine Hochburg von kleinen<br />
<strong>Handwerk</strong>ern, heute gibt es jede<br />
Menge Industrie am Ort.<br />
Wilhelm Wagner, behauptet der promovierte<br />
Sozialwissenschaftler Hermann Berner,<br />
der gerade das städtische He<strong>im</strong>atmuseum<br />
aufbaut, kann nichts anderes<br />
mehr machen als arbeiten. Berner zeigt auf<br />
seine Motorradstiefel, die der Schuhmachermeister<br />
ihm vor zehn Jahren nach Maß<br />
anfertigte – zum Wohlfühlen und für einen<br />
Videofilm, auf dem Wagners <strong>Handwerk</strong>skunst<br />
dokumentiert ist.<br />
Zehn Jahre ist es auch her, als Wilhelm<br />
Wagners Fernseher kaputt ging. Einen<br />
neuen wollte er nicht. »Es lohnt sich nicht<br />
mehr.« Aber vor drei Jahren kaufte er noch<br />
eine elektrische Bandsäge für Sohlen und<br />
Absätze. Denn »Absätze und Sohlen bitte«<br />
ist das häufigste Begehr der Kunden, die<br />
zu ihm in die beiden niedrigen Werkstatträume<br />
hinter dem Schuhgeschäft kommen.<br />
Der Laden wird von der Tochter Maria<br />
Jung und der Enkelin Eva Hämmerle geführt.<br />
In den Regalen zwischen Laden und<br />
Werkstatt reihen sich reparierte Schuhe. In<br />
der Werkstatt stehen teils museal anmutende<br />
Maschinen. Sie stammen aus den<br />
20er Jahren und sind meist noch funktionsfähig.<br />
Aber es gibt auch hier modernes<br />
Gerät.<br />
100 Jahre <strong>Handwerk</strong>skammer Reutlingen<br />
Wilhelm Wagner braucht die Arbeit. Sie ist<br />
sein Leben. Am Sonntag weiß er wenig mit<br />
sich anzufangen. Morgens ein Schnäpsle,<br />
ein Löffel Öl für die Verdauung und dann ein<br />
Schwätzle. <strong>Das</strong> Leben ist schön, weil Arbeit<br />
und Genügsamkeit es schön machen.<br />
Arbeit ist eben Leben. Die Holzleisten,<br />
die für die Schuhe nach Maß gefertigt wurden,<br />
verbrennt Wilhelm Wagner heute <strong>im</strong><br />
Werkstattofen. Wer will sie noch? Wilhelm<br />
Wagners Zeit ist vorbei. <strong>Das</strong> weiß er und<br />
schiebt die Schiebermütze auf dem kahlen<br />
Kopf zurück. Die Mütze ist ein Teil von ihm<br />
geworden. Als er einmal krank war, behielt<br />
er sie selbst <strong>im</strong> Bett auf.<br />
Zeit für ein Schwätzle muss man sich nehmen,<br />
wenn man die Werkstatt von Wilhelm<br />
Wagner betritt. Flink bei der Arbeit, macht<br />
gern ein Späßle, doch die Ohren wollen<br />
nicht mehr so recht. Von wegen senil. Knitz<br />
Anhang<br />
ist der Kerle. Er lebt viel in der Vergangenheit,<br />
erzählt von den Zeiten, als der <strong>Handwerk</strong>smeister<br />
noch 50 Pfennig pro Stunde<br />
verdiente und anno 1926 ein Paar handgefertigte<br />
Schaftstiefel 28 Mark kosteten.<br />
Als die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg<br />
den Geldwert täglich fraß, besorgte er sich<br />
US-Dollar – und konnte so 1925 preisgünstig<br />
eine Adler-Ledernähmaschine kaufen.<br />
Der Verkäufer wollte 390.000 Mark, Wilhelm<br />
Wagner bot 40 Dollar und 100.000 Mark –<br />
und bekam die Maschine; sie steht heute<br />
noch in der Werkstatt.<br />
Es riecht nach Leder und Kleber. Ans<br />
Aufhören denkt er nicht, »auch wenn ich<br />
nur einen Stundenlohn von zehn Mark bekomme.«<br />
Er war schon mal <strong>im</strong> Schwarzwald,<br />
in Stuttgart und Ulm. Ansonsten war<br />
ihm das Reisen zu teuer: »Seit ich schaffe,<br />
habe ich nur acht Tage lang wegen eines<br />
Vereinsausflugs gefehlt.«<br />
Wilhelm Wagner geht hinaus auf den Hof,<br />
schüttet Körner in die grüne Schürze und<br />
füttert die Tauben.<br />
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