Berliner Kurier 20.10.2018
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SEITE17<br />
BERLINER KURIER, Sonnabend, 20. Oktober 2018<br />
Kiez Kunterbunt<br />
Kinder, ist Berlinvielfältig!<br />
Nirgends in der Stadt gibt es so viele Menschen mit ausländischen Wurzeln wie in Gesundbrunnen<br />
Fotos: Christian Schulz<br />
Von<br />
CHRISTIAN GEHRKE<br />
Jeder Dritte der 3,7 Millionen<br />
<strong>Berliner</strong> hat inzwischen<br />
einen Migrationshintergrund.<br />
Entweder<br />
kam er selbst ohne deutsche<br />
Staatsangehörigkeit auf die<br />
Welt oder er hat mindestens<br />
einen Elternteil, der nicht mit<br />
deutschem Pass geboren wurde.<br />
So lautet die Definition.<br />
Die neuen Zahlen, die das<br />
Statistische Landesamt am<br />
Freitag veröffentlichte, überraschen<br />
nun in mehrfacher<br />
Hinsicht: In bestimmten<br />
Stadtteilen der Bezirke Mitte,<br />
Neukölln und Friedrichshain-<br />
Kreuzberg leben 50 bis sogar<br />
mehr als 60 Prozent Menschen<br />
mit Migrationshintergrund.<br />
Betrachtet man nur die<br />
Kinder und Jugendlichen,<br />
sind die Anteile sogar noch<br />
weit höher und reichen bis<br />
hin zu mehr als 80 Prozent.<br />
Das Landesamt nahm jeden<br />
Ortsteil unter die Lupe. So<br />
gibt es auch Ecken in Berlin –<br />
am östlichen Stadtrand zum<br />
Beispiel –wokaum Migranten<br />
wohnen.<br />
Die meisten Einwanderer<br />
leben im Ortsteil Gesundbrunnen.<br />
Die Quote liegt bei<br />
63, 4Prozent. Beim Anteil der<br />
6- bis 14-Jährigen sind es sogar<br />
88 Prozent.<br />
Genau dort läuft am Freitag<br />
um 13 Uhr die elfjährige Samna<br />
über die Badstraße. An den<br />
Geschäften, Apotheken und<br />
Cafés steht hier neben der<br />
deutschen auch die türkische<br />
und arabische Sprache –wie<br />
selbstverständlich.<br />
Die Schule ist aus, die Sonne<br />
scheint, die Herbstferien<br />
haben begonnen. Samna ist<br />
gut drauf, sie lutscht an einem<br />
Lolli. Die Mutter Elmira (40)<br />
und ihr Bruder Basil (7) laufen<br />
neben ihr.<br />
Die muslimische Familie<br />
kam vor vier Jahren aus der<br />
Ukraine nach Deutschland.<br />
Ziemlich schnell wird klar,<br />
dass das elfjährige Mädchen<br />
einen unverzichtbaren Job in<br />
der Familie hat: Sie übersetzt<br />
für ihre Mutter, die kein<br />
Deutsch kann. In Gesundbrunnen<br />
gibt es Mädchen und<br />
Jungen, die kaum über den<br />
Tisch gucken können –und<br />
trotzdem exzellente Dolmetscher<br />
ihrer Eltern sind.<br />
Samna geht in die fünfte<br />
Klasse, ihre Schule liegt auch<br />
in Gesundbrunnen. „Ich finden<br />
es total in Ordnung, dass<br />
meine Mitschüler verschiedene<br />
Sprachen sprechen. So<br />
lerne ich viel. Aber die deutsche<br />
Sprache mag ich auch<br />
sehr“, sagt sie fast akzentfrei.<br />
Auch Jung und Alt treffen in Berlin<br />
überall aufeinander –esgehört<br />
zur Vielfalt in der Hauptstadt.<br />
Auch Athena ist mit ihren<br />
fünf Jahren so ein Dolmetscher-Kind.<br />
2015 kam sie mit<br />
ihren Eltern Bashir (35) und<br />
Parvane (28) von Afghanistan<br />
nach Berlin. „Wir leben eigentlich<br />
in Berlin-Buch, aber<br />
kommen immer zum Einkaufen<br />
her“, sagt Athena, als die<br />
Familie gerade das Gesundbrunnen-Center<br />
verlässt.<br />
Mutter und Vater können<br />
sich kaum verständigen. „In<br />
Buch gibt es viele deutsche<br />
Kinder, damit habe ich kein<br />
Problem“, sagt Athena. Dann<br />
möchte sie noch stolz loswerden,<br />
dass sie nächstes Jahr<br />
endlich in die Schule kommt.<br />
Die Eltern geben zum Abschied<br />
freundlich die Hand.<br />
Wie so ein Leben in Gesundbrunnen<br />
verlaufen kann,<br />
weiß Fatma Günesch (44).<br />
Fast ihr ganzes Leben hat sie<br />
hier verbracht. Vor zwei Jahren<br />
brachte die Arzthelferin<br />
ihren jüngsten Sohn zur Welt.<br />
Angesprochen auf den hohen<br />
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund<br />
im Viertel<br />
sagt sie: „Das hat auch Vorteile.<br />
Man kennt sich und<br />
kann sich in die Nachbarn<br />
reinfühlen. Wenn hier eine<br />
Frau überfallen wird, sind sofort<br />
ein paar Mann zu Stelle.“<br />
Der Nachteil sei, dass begabte<br />
Kinder selten den Weg aus<br />
den Familien wagen. „Die<br />
bleiben in ihrem Umfeld und<br />
unter sich“, sagt sie.<br />
Der Türke Sinan Salah, der<br />
seit 25 Jahren in Berlin wohnt<br />
und an der Badstraße Döner<br />
verkauft, stimmt ihr zu: „Multikulti<br />
ist schön. Es kommen<br />
immer mehr Menschen nach<br />
Berlin, doch nicht alle schaffen<br />
es hier. Ich kenne viele,<br />
die kiffen oder anderen Unsinn<br />
machen“, sagt er in gutem<br />
Deutsch.<br />
In vielen Teilen Berlins ist<br />
das Bild in der Bevölkerung<br />
eben nicht multikulturell: Das<br />
andere Extrem zeigt sich am<br />
Stadtrand. In Malchow im<br />
Nordosten beträgt der Migrationsanteil<br />
nur 3,6 Prozent.<br />
Ähnliches gilt für Blankenburg<br />
in Pankow (6,9 Prozent),<br />
Müggelheim in Treptow-Köpenick<br />
(7,1 Prozent) sowie<br />
Mahlsdorf (7,5 Prozent) und<br />
Kaulsdorf (8,1 Prozent) in<br />
Lichtenberg. Die größten<br />
Gruppen unter den Migranten<br />
sind türkischer Herkunft.<br />
Die SPD-Abgeordnete Maja<br />
Lasic (39) flüchtete mit ihren<br />
Eltern aus Jugoslawien nach<br />
Deutschland. Sie machte Abitur,<br />
studierte, promovierte<br />
und ist heute Politikerin. Sie<br />
findet die Entwicklung in Gesundbrunnen<br />
und anderen<br />
Stadtvierteln nicht gut und<br />
spricht von Abtrennung. „Eine<br />
Durchmischung an den<br />
Schulen ist dringend notwendig“,<br />
sagt Lasic.<br />
Shoppen am Nachmittag:<br />
Samisn geht mit Semano<br />
(7 Monate), ihrer Oma Samsih<br />
(links) und der Mutter Esmer<br />
(rechts, 27)durchs Viertel.<br />
Athena (5)kam vordrei<br />
Jahren mit ihren Eltern von<br />
Afghanistan nach Berlin. Sie<br />
geht noch nicht mal in die<br />
Schule und übersetzt trotzdem<br />
schon jetzt für ihreEltern.<br />
Dönerverkäufer Sinan Salah<br />
(46) kennt Vor- und Nachteile<br />
des Viertels. „Einige kommen gut<br />
klar mit ihrem Leben, aber nicht<br />
alle. Ich kenne welche, die kiffen .“