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Berliner Kurier 10.02.2019

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JOURNAL<br />

ImRausch<br />

der<br />

Großstadt<br />

Berlin in den 20ern: Wenn es Nacht wird, feiert die Stadt,<br />

als gäb’s kein Morgen mehr. Ihr liebstes Laster ist Kokain<br />

Die Chronik eines Drogenrausches<br />

im Jahr<br />

1924 beginnt am frühen<br />

Nachmittag. An<br />

einem Dienstag im November<br />

verlässt Paul Z., Kaufmann, 32<br />

Jahre alt, gegen 15.30 Uhr seine<br />

Wohnung unweit der Friedrichstraße.<br />

Er ist schon angetrunken,<br />

weil er zuvor mit seinem<br />

Hauswart eine ganze Flasche<br />

Cognac getrunken hat.<br />

In den folgenden Stunden besucht<br />

Z. verschiedene Lokale.<br />

Am Alexanderplatz kehrt er ins<br />

Aschinger ein, am Oranienburger<br />

Tor geht er ins Gerold. Gegen<br />

20 Uhr kauft er im Lokal<br />

Goldelfe in der Besselstraße<br />

Kokain und schnupft sogleich<br />

eine beachtliche Menge davon:<br />

zwei Gramm.<br />

Eine weitere Ration des weißen<br />

Pulvers zieht er sich nach<br />

Rückkehr in seine Wohnung<br />

durch die Nase. Aus seiner Tasse<br />

trinkt er Cognac. Und er<br />

schreibt an seine Mutter: Seine<br />

Frau habe ihn verlassen, er wolle<br />

nicht mehr leben.<br />

Dann zieht er wieder los in irgendeine<br />

Bar, an die er sich später<br />

nicht mehr erinnern kann.<br />

Kurz vor Mitternacht wird er<br />

bewusstlos in die Nervenklinik<br />

der Charité eingeliefert. Diagnose:<br />

„Cocainismus“.<br />

So steht es in Paul Z.s Krankenakte,<br />

die heute, fast 100 Jahre<br />

später, noch immer im Archiv<br />

der Charité zu finden ist.<br />

Die Medizinhistorikerin Anne<br />

Gnausch hat sie und viele andere<br />

Patientenunterlagen aus der<br />

damaligen Zeit gelesen, um den<br />

Kokainkonsum im Berlin der<br />

20er-Jahre zu untersuchen.<br />

„Die Motive der Menschen, die<br />

Kokain nahmen, waren durchaus<br />

verschieden und leiten sich<br />

aus deren individuellen<br />

Lebens-<br />

Paul Z.s Tag<br />

endet in der<br />

Nervenklinik<br />

umständen ab“,<br />

sagt Gnausch, die<br />

am Institut für<br />

Geschichte der<br />

Medizin an der<br />

Charité forscht.<br />

Die Krankenakten enthalten<br />

außer den Dokumentationen<br />

der Ärzte auch Eigenberichte<br />

und wörtliche Zitate der Patienten<br />

sowie Briefe und Aussagen<br />

der Angehörigen über deren<br />

Lebenswandel. So hat Anne<br />

Gnausch viel über die Hintergründe<br />

der Menschen erfahren,<br />

die damals zu Süchtigen wurden.<br />

Berlin ist zu dieser Zeit die<br />

drittgrößte Metropole der<br />

Welt. Eine Stadt, in der fast vier<br />

Millionen Menschen<br />

leben, die<br />

den noch nicht<br />

lange zurückliegenden<br />

verlorenen<br />

Weltkrieg zu<br />

so gut es geht zu<br />

verdrängen suchen.<br />

Rund um den Kurfürstendamm<br />

und die Friedrichstraße<br />

boomen die Vergnügungsviertel.<br />

In den zahlreichen Lokalen,<br />

Tanzpalästen, Bars und Theatern,<br />

die bis zum frühen Morgen<br />

offen sind, bekommt man<br />

auch Kokain.<br />

„Nachts! Tauentzien! Kokain!<br />

Das ist Berlin!“, schreibt der<br />

russische Dichter Andrej Bely,<br />

der Anfang der 20er-Jahrehier<br />

lebt. Auf eine Litfaßsäule am<br />

Wittenbergplatz kritzeln<br />

Rauschgifthändler Zahlencodes,<br />

um ihren Kunden verdeckt<br />

mitzuteilen, wo und wann sie<br />

die Drogen kaufen können.<br />

An Kokain zu kommen, ist damals<br />

nicht schwer, berichtet<br />

der Schriftsteller Christian<br />

Bouchholtz. „Selbst auf offener<br />

Straße war es zu kaufen. Und<br />

zwar bei jedem erstbesten Zigarettenhändler,<br />

der an einer<br />

Straßenecke der Kurfürstendammgegend<br />

mit seinem Tabakkasten<br />

stand.“<br />

Solch ein dealender Zigarettenverkäufer<br />

ist auch der

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