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JOURNAL<br />
ImRausch<br />
der<br />
Großstadt<br />
Berlin in den 20ern: Wenn es Nacht wird, feiert die Stadt,<br />
als gäb’s kein Morgen mehr. Ihr liebstes Laster ist Kokain<br />
Die Chronik eines Drogenrausches<br />
im Jahr<br />
1924 beginnt am frühen<br />
Nachmittag. An<br />
einem Dienstag im November<br />
verlässt Paul Z., Kaufmann, 32<br />
Jahre alt, gegen 15.30 Uhr seine<br />
Wohnung unweit der Friedrichstraße.<br />
Er ist schon angetrunken,<br />
weil er zuvor mit seinem<br />
Hauswart eine ganze Flasche<br />
Cognac getrunken hat.<br />
In den folgenden Stunden besucht<br />
Z. verschiedene Lokale.<br />
Am Alexanderplatz kehrt er ins<br />
Aschinger ein, am Oranienburger<br />
Tor geht er ins Gerold. Gegen<br />
20 Uhr kauft er im Lokal<br />
Goldelfe in der Besselstraße<br />
Kokain und schnupft sogleich<br />
eine beachtliche Menge davon:<br />
zwei Gramm.<br />
Eine weitere Ration des weißen<br />
Pulvers zieht er sich nach<br />
Rückkehr in seine Wohnung<br />
durch die Nase. Aus seiner Tasse<br />
trinkt er Cognac. Und er<br />
schreibt an seine Mutter: Seine<br />
Frau habe ihn verlassen, er wolle<br />
nicht mehr leben.<br />
Dann zieht er wieder los in irgendeine<br />
Bar, an die er sich später<br />
nicht mehr erinnern kann.<br />
Kurz vor Mitternacht wird er<br />
bewusstlos in die Nervenklinik<br />
der Charité eingeliefert. Diagnose:<br />
„Cocainismus“.<br />
So steht es in Paul Z.s Krankenakte,<br />
die heute, fast 100 Jahre<br />
später, noch immer im Archiv<br />
der Charité zu finden ist.<br />
Die Medizinhistorikerin Anne<br />
Gnausch hat sie und viele andere<br />
Patientenunterlagen aus der<br />
damaligen Zeit gelesen, um den<br />
Kokainkonsum im Berlin der<br />
20er-Jahre zu untersuchen.<br />
„Die Motive der Menschen, die<br />
Kokain nahmen, waren durchaus<br />
verschieden und leiten sich<br />
aus deren individuellen<br />
Lebens-<br />
Paul Z.s Tag<br />
endet in der<br />
Nervenklinik<br />
umständen ab“,<br />
sagt Gnausch, die<br />
am Institut für<br />
Geschichte der<br />
Medizin an der<br />
Charité forscht.<br />
Die Krankenakten enthalten<br />
außer den Dokumentationen<br />
der Ärzte auch Eigenberichte<br />
und wörtliche Zitate der Patienten<br />
sowie Briefe und Aussagen<br />
der Angehörigen über deren<br />
Lebenswandel. So hat Anne<br />
Gnausch viel über die Hintergründe<br />
der Menschen erfahren,<br />
die damals zu Süchtigen wurden.<br />
Berlin ist zu dieser Zeit die<br />
drittgrößte Metropole der<br />
Welt. Eine Stadt, in der fast vier<br />
Millionen Menschen<br />
leben, die<br />
den noch nicht<br />
lange zurückliegenden<br />
verlorenen<br />
Weltkrieg zu<br />
so gut es geht zu<br />
verdrängen suchen.<br />
Rund um den Kurfürstendamm<br />
und die Friedrichstraße<br />
boomen die Vergnügungsviertel.<br />
In den zahlreichen Lokalen,<br />
Tanzpalästen, Bars und Theatern,<br />
die bis zum frühen Morgen<br />
offen sind, bekommt man<br />
auch Kokain.<br />
„Nachts! Tauentzien! Kokain!<br />
Das ist Berlin!“, schreibt der<br />
russische Dichter Andrej Bely,<br />
der Anfang der 20er-Jahrehier<br />
lebt. Auf eine Litfaßsäule am<br />
Wittenbergplatz kritzeln<br />
Rauschgifthändler Zahlencodes,<br />
um ihren Kunden verdeckt<br />
mitzuteilen, wo und wann sie<br />
die Drogen kaufen können.<br />
An Kokain zu kommen, ist damals<br />
nicht schwer, berichtet<br />
der Schriftsteller Christian<br />
Bouchholtz. „Selbst auf offener<br />
Straße war es zu kaufen. Und<br />
zwar bei jedem erstbesten Zigarettenhändler,<br />
der an einer<br />
Straßenecke der Kurfürstendammgegend<br />
mit seinem Tabakkasten<br />
stand.“<br />
Solch ein dealender Zigarettenverkäufer<br />
ist auch der