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Berliner Kurier 10.02.2019

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15<br />

Was die Sucht in einem Menschen<br />

anrichten kann, dringt<br />

damals erst allmählich ins allgemeine<br />

öffentliche Bewusstsein.<br />

Denn in der Medizin gilt<br />

Kokain lange als neues Wundermittel.<br />

Dem deutschen Chemiker<br />

Albert Niemann gelingt<br />

es 1860 erstmals, das Hauptalkaloid<br />

der Kokapflanze zu isolieren.<br />

Er gibt ihm den Namen<br />

Kokain. Schon zwei Jahre später<br />

kommt es als pharmazeutisches<br />

Präparat in den Handel.<br />

Der Augenarzt Carl Coller<br />

entdeckt 1884, dass er die Substanz<br />

als örtliches Betäubungsmittel<br />

nutzen kann. Er tröpfelt<br />

Tieren eine Kokainlösung in die<br />

Augen und berührt diese mit einer<br />

Stecknadel: Die Tiere spüren<br />

nichts. Ein Jahr später wird<br />

das Rauschgift in Berlin bei fast<br />

400 Augenoperationen verwendet.<br />

Bald darauf wird Kokain gegen<br />

alle möglichen Beschwerden<br />

empfohlen: Schnupfen,<br />

Heiserkeit, Asthma, Heuschnupfen,<br />

Verdauungsstörungen,<br />

Wehenschmerz, Menstruationsbeschwerden,<br />

Seekrankheit.<br />

In der Apotheke gibt<br />

es Kokain-Drops gegen Zahnschmerzen<br />

in hübschen Döschen<br />

mit bunten Bildern auf<br />

dem Deckel.<br />

Kokain ist zeitweise auch Zutat<br />

in Genussmitteln, zum Beispiel<br />

in Pralinen und Getränken.<br />

Der „Vin Mariani“, eine<br />

Mischung aus Wein und Kokablätterextrakt,<br />

hat viele prominente<br />

Fans: Papst Leo XIII., Jules<br />

Vernes, Thomas Edison,<br />

Queen Victoria.<br />

Im Jahr 1886 kommt Coca-<br />

Cola auf den Markt, bis 1903<br />

enthält sie Kokain. Die Werbung<br />

präsentiert<br />

sie als nervenstärkendes<br />

Getränk<br />

gegen Erschöpfung<br />

und Melancholie.<br />

Auch Sigmund<br />

Freud empfiehlt<br />

Kokain – zum Beispiel zum<br />

Entzug von Morphium. Keine<br />

gute Idee, wie man heute weiß.<br />

Dass Kokain abhängig macht,<br />

fällt bereits 1886 dem Psychiater<br />

Albrecht Erlenmeyer auf. Er<br />

beschuldigt Freud, die Kokainsucht<br />

als „Geißel der Menschheit“<br />

verantwortet zu haben,<br />

bleibt aber weitgehend ungehört.<br />

„Kokain war zunächst ein<br />

Oberschichten-Phänomen“,<br />

sagt die Historikerin Anne<br />

Gnausch. „Erst durch den Ersten<br />

Weltkrieg gelangte es in<br />

Fotos: akg-images, Getty/Corbis Historical, dpa picture-alliance/Imagno, SZ Photo<br />

Immer genug<br />

Stoff, auch<br />

ohne Geld<br />

Ortdes Vergnügens und des<br />

Lasters Ende der 20er ist auch<br />

der Femina-Palast mit seinem<br />

Tanzsaal. Der beliebte Treff<br />

befand sich in dem heute unter<br />

Denkmalschutz stehenden<br />

Gebäude an der Nürnberger<br />

Straße 50–56inSchöneberg.<br />

weitere Kreise der Bevölkerung.“<br />

In den Lazaretten verabreichen<br />

Mediziner den Soldaten<br />

gegen ihre schweren Verletzungen<br />

neben Morphium<br />

auch Kokain –oft zu lange und<br />

in zu hohen Dosen. Viele kehren<br />

süchtig nach<br />

Hause zurück.<br />

Der <strong>Berliner</strong><br />

Hygieniker Martin<br />

Hahn schätzte<br />

1925, dass in<br />

Berlin um die<br />

6000 Kokainsüchtige<br />

leben.<br />

Auffällig ist aber: In der Nervenklinik<br />

der <strong>Berliner</strong> Charité<br />

werden während der 20er-Jahre<br />

lediglich 85 Patientinnen<br />

und Patienten mit der Diagnose<br />

Cocainismus behandelt. Im klinischen<br />

Bereich spielen die Kokainsüchtigen<br />

also nur eine<br />

kleine Rolle.<br />

„Diese Statistik spiegelt aber<br />

nur einen Teil des Konsums wider“,<br />

sagt Anne Gnausch. „Bei<br />

den Patienten in der Charité<br />

handelt es sich nur um die Menschen,<br />

die extrem unter dem<br />

Konsum gelitten haben.“ Karl<br />

Bonhoeffer, damals Nervenarzt<br />

an der <strong>Berliner</strong> Charité, gibt in<br />

einer Studie zu bedenken, dass<br />

Kokainkonsumenten nur in<br />

Fällen von schwerem Missbrauch<br />

die Klinik aufsuchen.<br />

Die meisten schliefen ihren<br />

Rausch zu Hause aus. Und Gelegenheitsschnupfer<br />

seien statistisch<br />

gar nicht zu erfassen.<br />

„Wenn man bedenkt, dass zu<br />

dieser Zeit täglich drei bis vier<br />

Delikte wegen Drogen zum<br />

Verhör kamen, sind die Patienten<br />

in der Charité wohl nur ein<br />

Bruchteil der Konsumenten“,<br />

sagt Anne Gnausch. Zudem habe<br />

man keine Unterlagen aus<br />

weiteren Nervenanstalten.<br />

„Wie viele Menschen in anderen<br />

<strong>Berliner</strong> Kliniken – auch<br />

privaten –behandelt wurden,<br />

wissen wir nicht.“<br />

Unter den Patienten der<br />

Charité sind nur zehn Frauen.<br />

Eine davon ist Gertrud N., 29<br />

Jahre alt, Kontoristin. Im Jahr<br />

1924 wird sie in der Nervenklinik<br />

wegen ihrer Kokainsucht<br />

behandelt. Mit einer Freundin<br />

Die Süchtigen<br />

sprechen von<br />

„Kokolores“<br />

schnupft sie zum ersten Mal.<br />

Ihr Vater ist Apotheker. Durch<br />

Kokain habe sie sich „so leicht<br />

und unternehmungslustig gefühlt“,<br />

sagt N. den Ärzten, als<br />

sei sie „ein wenig angetrunken,<br />

dabei aber ganz klar im Kopf“.<br />

Das sei so schön gewesen, dass<br />

sie es immer wieder getan habe.<br />

Oft besuche sie Lokale in der<br />

Friedrichstadt, wo sie in „cocainistischen<br />

Kreisen“ verkehre,<br />

berichtet sie weiter. Dort bekomme<br />

sie immer<br />

genug Stoff,<br />

auch wenn ihr<br />

das Geld ausgegangen<br />

sei.<br />

In der <strong>Berliner</strong><br />

Szene kennt man<br />

sich. Der Konsum<br />

in den Lokalen sei offen, ohne<br />

Heimlichkeit, berichten auch<br />

die Suchtmediziner Joël und<br />

Fränkel in ihrer Kokain-Studie.<br />

Eine Prise werde kaum anders<br />

bestellt als ein Glas Cognac. Viele<br />

haben Kokainbüchsen bei<br />

sich, aus denen sie manchmal direkt<br />

schnupfen. Andere verwenden<br />

kleine Löffelchen, von deren<br />

Stiel sie das Pulver in die Nase<br />

ziehen. Zu einem Gefühl der<br />

Zusammengehörigkeit führe<br />

auch ein eigener Jargon unter<br />

den Besuchern der Lokale, so<br />

die Mediziner Joël und Fränkel.<br />

Sie sprechen von „einen hochziehen“,<br />

wenn sie schnupfen.<br />

Den Kokainrausch nennen sie<br />

„Kokolores“, das sinnlose Umhersuchen,<br />

das sie dabei zeigen,<br />

„Suchkokolores“.<br />

Gertrud N. hat irgendwann<br />

genug davon. Sie<br />

merkt, dass sie<br />

süchtig ist und<br />

das Schnupfen<br />

gar nicht mehr<br />

sein lassen kann,<br />

selbst wenn sie es<br />

will. „Aus Übermuth<br />

habe ich es begonnen und<br />

nachher ist es bitterer Ernst geworden“,<br />

klagt sie in der<br />

Charité.<br />

Ob sie dem Kokain nach ihrem<br />

Aufenthalt in der Nervenklinik<br />

für immer abgeschworen<br />

hat, ist nicht bekannt. Wiedergekommen<br />

ist sie jedenfalls<br />

nicht.<br />

Alice Ahlers<br />

Kokain schnupfen auf Rezept<br />

Bei der Internationalen Opiumkonferenz<br />

1912 in Den Haag bekräftigten<br />

mehrereLänder,inZukunft verhindern<br />

zu wollen, dassSubstanzen<br />

wie Kokain, Morphium oder Heroin<br />

„zu bloßen Genußzwecken“ konsumiert<br />

werden. Das Deutsche Reich<br />

unterzeichnete das Abkommen<br />

nicht.Man befürchtete wirtschaftliche<br />

Nachteile. Die deutsche Pharmaindustrie<br />

warder weltweit größte<br />

Produzent vonAlkaloiden. Morphin,<br />

Heroin, Codein, Kokain waren deutsche<br />

Exportschlager.<br />

Das deutsche Opiumgesetz von<br />

1920, zu dem Deutschland durch<br />

den Versailler Vertrag gezwungen<br />

war, regelte vorallem, dass Herstellung<br />

vonund Handel mit Kokain fortan<br />

staatlich kontrolliert wurden.<br />

Apotheker durften Kokain als Medikament<br />

abgeben, wenn ein Rezept<br />

vorlag. Ärzte hatten bei der Verschreibung<br />

zunächst noch einen<br />

großen Ermessensspielraum. Es<br />

war nicht verboten, Süchtigen Kokain<br />

zu verschreiben, damit sie ihre<br />

Sucht weiterhin stillen können. Es<br />

gabsogar Rezepte, die einmalig ausgestellt,<br />

immer wieder eingelöst<br />

werden konnten. Kokain zu konsumieren,<br />

warnicht illegal.<br />

Der Fall des Arztes Dr. Bier aus<br />

Dresden veränderte 1926 die Verschreibungspraxis<br />

von Kokain. Der<br />

Mediziner hatte innerhalb von fünf<br />

Monaten mehr als 3000 Rezepte an<br />

„Kokainschnupfer“ ausgegeben, die<br />

diese an andere Konsumenten weiterverkauften.<br />

Nach Biers Verurteilung<br />

verschrieben Ärzte Süchtigen<br />

kein Kokain mehr, weil sie befürchten<br />

mussten, sich strafbar zu machen.<br />

Die Abhängigen mussten auf<br />

anderen Wegen an ihren Stoffkommen<br />

und wurden so in die Kriminalität<br />

gedrängt. Erst 1930 wurde Kokain<br />

in Deutschlandverboten.

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