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Was die Sucht in einem Menschen<br />
anrichten kann, dringt<br />
damals erst allmählich ins allgemeine<br />
öffentliche Bewusstsein.<br />
Denn in der Medizin gilt<br />
Kokain lange als neues Wundermittel.<br />
Dem deutschen Chemiker<br />
Albert Niemann gelingt<br />
es 1860 erstmals, das Hauptalkaloid<br />
der Kokapflanze zu isolieren.<br />
Er gibt ihm den Namen<br />
Kokain. Schon zwei Jahre später<br />
kommt es als pharmazeutisches<br />
Präparat in den Handel.<br />
Der Augenarzt Carl Coller<br />
entdeckt 1884, dass er die Substanz<br />
als örtliches Betäubungsmittel<br />
nutzen kann. Er tröpfelt<br />
Tieren eine Kokainlösung in die<br />
Augen und berührt diese mit einer<br />
Stecknadel: Die Tiere spüren<br />
nichts. Ein Jahr später wird<br />
das Rauschgift in Berlin bei fast<br />
400 Augenoperationen verwendet.<br />
Bald darauf wird Kokain gegen<br />
alle möglichen Beschwerden<br />
empfohlen: Schnupfen,<br />
Heiserkeit, Asthma, Heuschnupfen,<br />
Verdauungsstörungen,<br />
Wehenschmerz, Menstruationsbeschwerden,<br />
Seekrankheit.<br />
In der Apotheke gibt<br />
es Kokain-Drops gegen Zahnschmerzen<br />
in hübschen Döschen<br />
mit bunten Bildern auf<br />
dem Deckel.<br />
Kokain ist zeitweise auch Zutat<br />
in Genussmitteln, zum Beispiel<br />
in Pralinen und Getränken.<br />
Der „Vin Mariani“, eine<br />
Mischung aus Wein und Kokablätterextrakt,<br />
hat viele prominente<br />
Fans: Papst Leo XIII., Jules<br />
Vernes, Thomas Edison,<br />
Queen Victoria.<br />
Im Jahr 1886 kommt Coca-<br />
Cola auf den Markt, bis 1903<br />
enthält sie Kokain. Die Werbung<br />
präsentiert<br />
sie als nervenstärkendes<br />
Getränk<br />
gegen Erschöpfung<br />
und Melancholie.<br />
Auch Sigmund<br />
Freud empfiehlt<br />
Kokain – zum Beispiel zum<br />
Entzug von Morphium. Keine<br />
gute Idee, wie man heute weiß.<br />
Dass Kokain abhängig macht,<br />
fällt bereits 1886 dem Psychiater<br />
Albrecht Erlenmeyer auf. Er<br />
beschuldigt Freud, die Kokainsucht<br />
als „Geißel der Menschheit“<br />
verantwortet zu haben,<br />
bleibt aber weitgehend ungehört.<br />
„Kokain war zunächst ein<br />
Oberschichten-Phänomen“,<br />
sagt die Historikerin Anne<br />
Gnausch. „Erst durch den Ersten<br />
Weltkrieg gelangte es in<br />
Fotos: akg-images, Getty/Corbis Historical, dpa picture-alliance/Imagno, SZ Photo<br />
Immer genug<br />
Stoff, auch<br />
ohne Geld<br />
Ortdes Vergnügens und des<br />
Lasters Ende der 20er ist auch<br />
der Femina-Palast mit seinem<br />
Tanzsaal. Der beliebte Treff<br />
befand sich in dem heute unter<br />
Denkmalschutz stehenden<br />
Gebäude an der Nürnberger<br />
Straße 50–56inSchöneberg.<br />
weitere Kreise der Bevölkerung.“<br />
In den Lazaretten verabreichen<br />
Mediziner den Soldaten<br />
gegen ihre schweren Verletzungen<br />
neben Morphium<br />
auch Kokain –oft zu lange und<br />
in zu hohen Dosen. Viele kehren<br />
süchtig nach<br />
Hause zurück.<br />
Der <strong>Berliner</strong><br />
Hygieniker Martin<br />
Hahn schätzte<br />
1925, dass in<br />
Berlin um die<br />
6000 Kokainsüchtige<br />
leben.<br />
Auffällig ist aber: In der Nervenklinik<br />
der <strong>Berliner</strong> Charité<br />
werden während der 20er-Jahre<br />
lediglich 85 Patientinnen<br />
und Patienten mit der Diagnose<br />
Cocainismus behandelt. Im klinischen<br />
Bereich spielen die Kokainsüchtigen<br />
also nur eine<br />
kleine Rolle.<br />
„Diese Statistik spiegelt aber<br />
nur einen Teil des Konsums wider“,<br />
sagt Anne Gnausch. „Bei<br />
den Patienten in der Charité<br />
handelt es sich nur um die Menschen,<br />
die extrem unter dem<br />
Konsum gelitten haben.“ Karl<br />
Bonhoeffer, damals Nervenarzt<br />
an der <strong>Berliner</strong> Charité, gibt in<br />
einer Studie zu bedenken, dass<br />
Kokainkonsumenten nur in<br />
Fällen von schwerem Missbrauch<br />
die Klinik aufsuchen.<br />
Die meisten schliefen ihren<br />
Rausch zu Hause aus. Und Gelegenheitsschnupfer<br />
seien statistisch<br />
gar nicht zu erfassen.<br />
„Wenn man bedenkt, dass zu<br />
dieser Zeit täglich drei bis vier<br />
Delikte wegen Drogen zum<br />
Verhör kamen, sind die Patienten<br />
in der Charité wohl nur ein<br />
Bruchteil der Konsumenten“,<br />
sagt Anne Gnausch. Zudem habe<br />
man keine Unterlagen aus<br />
weiteren Nervenanstalten.<br />
„Wie viele Menschen in anderen<br />
<strong>Berliner</strong> Kliniken – auch<br />
privaten –behandelt wurden,<br />
wissen wir nicht.“<br />
Unter den Patienten der<br />
Charité sind nur zehn Frauen.<br />
Eine davon ist Gertrud N., 29<br />
Jahre alt, Kontoristin. Im Jahr<br />
1924 wird sie in der Nervenklinik<br />
wegen ihrer Kokainsucht<br />
behandelt. Mit einer Freundin<br />
Die Süchtigen<br />
sprechen von<br />
„Kokolores“<br />
schnupft sie zum ersten Mal.<br />
Ihr Vater ist Apotheker. Durch<br />
Kokain habe sie sich „so leicht<br />
und unternehmungslustig gefühlt“,<br />
sagt N. den Ärzten, als<br />
sei sie „ein wenig angetrunken,<br />
dabei aber ganz klar im Kopf“.<br />
Das sei so schön gewesen, dass<br />
sie es immer wieder getan habe.<br />
Oft besuche sie Lokale in der<br />
Friedrichstadt, wo sie in „cocainistischen<br />
Kreisen“ verkehre,<br />
berichtet sie weiter. Dort bekomme<br />
sie immer<br />
genug Stoff,<br />
auch wenn ihr<br />
das Geld ausgegangen<br />
sei.<br />
In der <strong>Berliner</strong><br />
Szene kennt man<br />
sich. Der Konsum<br />
in den Lokalen sei offen, ohne<br />
Heimlichkeit, berichten auch<br />
die Suchtmediziner Joël und<br />
Fränkel in ihrer Kokain-Studie.<br />
Eine Prise werde kaum anders<br />
bestellt als ein Glas Cognac. Viele<br />
haben Kokainbüchsen bei<br />
sich, aus denen sie manchmal direkt<br />
schnupfen. Andere verwenden<br />
kleine Löffelchen, von deren<br />
Stiel sie das Pulver in die Nase<br />
ziehen. Zu einem Gefühl der<br />
Zusammengehörigkeit führe<br />
auch ein eigener Jargon unter<br />
den Besuchern der Lokale, so<br />
die Mediziner Joël und Fränkel.<br />
Sie sprechen von „einen hochziehen“,<br />
wenn sie schnupfen.<br />
Den Kokainrausch nennen sie<br />
„Kokolores“, das sinnlose Umhersuchen,<br />
das sie dabei zeigen,<br />
„Suchkokolores“.<br />
Gertrud N. hat irgendwann<br />
genug davon. Sie<br />
merkt, dass sie<br />
süchtig ist und<br />
das Schnupfen<br />
gar nicht mehr<br />
sein lassen kann,<br />
selbst wenn sie es<br />
will. „Aus Übermuth<br />
habe ich es begonnen und<br />
nachher ist es bitterer Ernst geworden“,<br />
klagt sie in der<br />
Charité.<br />
Ob sie dem Kokain nach ihrem<br />
Aufenthalt in der Nervenklinik<br />
für immer abgeschworen<br />
hat, ist nicht bekannt. Wiedergekommen<br />
ist sie jedenfalls<br />
nicht.<br />
Alice Ahlers<br />
Kokain schnupfen auf Rezept<br />
Bei der Internationalen Opiumkonferenz<br />
1912 in Den Haag bekräftigten<br />
mehrereLänder,inZukunft verhindern<br />
zu wollen, dassSubstanzen<br />
wie Kokain, Morphium oder Heroin<br />
„zu bloßen Genußzwecken“ konsumiert<br />
werden. Das Deutsche Reich<br />
unterzeichnete das Abkommen<br />
nicht.Man befürchtete wirtschaftliche<br />
Nachteile. Die deutsche Pharmaindustrie<br />
warder weltweit größte<br />
Produzent vonAlkaloiden. Morphin,<br />
Heroin, Codein, Kokain waren deutsche<br />
Exportschlager.<br />
Das deutsche Opiumgesetz von<br />
1920, zu dem Deutschland durch<br />
den Versailler Vertrag gezwungen<br />
war, regelte vorallem, dass Herstellung<br />
vonund Handel mit Kokain fortan<br />
staatlich kontrolliert wurden.<br />
Apotheker durften Kokain als Medikament<br />
abgeben, wenn ein Rezept<br />
vorlag. Ärzte hatten bei der Verschreibung<br />
zunächst noch einen<br />
großen Ermessensspielraum. Es<br />
war nicht verboten, Süchtigen Kokain<br />
zu verschreiben, damit sie ihre<br />
Sucht weiterhin stillen können. Es<br />
gabsogar Rezepte, die einmalig ausgestellt,<br />
immer wieder eingelöst<br />
werden konnten. Kokain zu konsumieren,<br />
warnicht illegal.<br />
Der Fall des Arztes Dr. Bier aus<br />
Dresden veränderte 1926 die Verschreibungspraxis<br />
von Kokain. Der<br />
Mediziner hatte innerhalb von fünf<br />
Monaten mehr als 3000 Rezepte an<br />
„Kokainschnupfer“ ausgegeben, die<br />
diese an andere Konsumenten weiterverkauften.<br />
Nach Biers Verurteilung<br />
verschrieben Ärzte Süchtigen<br />
kein Kokain mehr, weil sie befürchten<br />
mussten, sich strafbar zu machen.<br />
Die Abhängigen mussten auf<br />
anderen Wegen an ihren Stoffkommen<br />
und wurden so in die Kriminalität<br />
gedrängt. Erst 1930 wurde Kokain<br />
in Deutschlandverboten.