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Berliner Kurier 21.04.2019

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19<br />

Die Leserbriefschreiberin<br />

kann nicht wissen, dass ich mit<br />

dem Begriff Passdeutsche<br />

höchst positive Erinnerungen<br />

verbinde – und zwar an den<br />

Moment, als ich im Spätsommer<br />

1978 als DDR-Bürgerin<br />

meinen ersten Pass in die Hand<br />

bekam –und also zur Passdeutschen<br />

wurde. Er trug einen<br />

Stempel zur Ausreise in das<br />

Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet<br />

(NSW), nach Angola,<br />

zum Dolmetschereinsatz<br />

bei den Freundschaftsbrigaden<br />

der FDJ.<br />

Heute brauche ich meinen<br />

EU-Pass nur noch selten. Freies<br />

Reisen quer durch den Kontinent<br />

ist innerhalb einer Generation<br />

zum Normalzustand geworden.<br />

Der zweite Impuls, in mein<br />

genetisches Erbe zu blicken,<br />

rührt aus Dokumenten, die<br />

meine Großeltern väterlicherseits<br />

betreffen, die ich vor etwa<br />

20 Jahren im Steirischen Landesarchiv<br />

Graz aufgestöbert<br />

habe und seither in einem<br />

Pappkarton voller Ahnen-Sammelsurien<br />

verwahre. Die mit<br />

Hakenkreuzstempel versehenen<br />

Schriftstücke informieren<br />

über die Ergebnisse einer Rasseprüfung<br />

des Reichssippenamtes,<br />

durchgeführt im Jahr<br />

1939 an Frida und Martin Tkalec<br />

und deren Söhnen.<br />

Was da steht, klingt skurril.<br />

Martin sortierte man in die Kategorie<br />

„überwiegend dinarisch“,<br />

was sich auf das Dinarische<br />

Gebirge auf dem Balkan<br />

bezieht. Frida landete in der<br />

Schublade „überwiegend ostisch“.<br />

Beiden schrieb man die<br />

Qualitätsstufe „rassisch dem<br />

deutschen Volke ähnlich“ zu.<br />

Vollends absurd gerät das Urteil<br />

im Fall des ältesten Sohnes:<br />

„nordisch“!<br />

Wie das auf Äußerlichkeiten –<br />

Schädelform, Haar- und Augenfarbe<br />

etc. –basierende Rassegetue<br />

vor hundert Jahren begründet<br />

wurde, kann man unter<br />

anderem in den seinerzeit<br />

hochpopulären Schriften von<br />

Hans F. K. Günther, auch Rassen-Günther<br />

genannt, nachlesen,<br />

zum Beispiel in seinem<br />

Werk „Rassenkunde des Deutschen<br />

Volkes“, das 1922 erschien<br />

und 1933 in 16. Auflage<br />

vorlag. Seine Theorien wurden<br />

zeitweise zur maßgeblichen<br />

ideologischen Grundlage der<br />

nationalsozialistischen Rassenpolitik.<br />

Meiner „ostischen“ Oma<br />

dichtete Rassen-Günther „Verschlossenheit“,<br />

„Geduld“ und<br />

„Fleiß“ an; ihr überwiegend im<br />

Südwesten des deutschen<br />

Sprachraums lebender Volkstyp<br />

sei „empfänglich für Leitung<br />

und Führung“ sowie „bequem“<br />

und damit „fügsam als<br />

Untertan“. Zudem habe diese<br />

Sorte Leute eine besondere<br />

„Anhänglichkeit an Familie<br />

und Örtlichkeit“. Diese Persönlichkeitsbeschreibung<br />

ergibt<br />

ein mutmaßlich braves Element<br />

eines „Arbeitsvolkes“.<br />

Der „dinarische“ Opa wiederum<br />

zeichnete sich, wie Rassen-<br />

Günther wusste, durch einen<br />

„besonderen Sinn für Ehre“ aus<br />

und habe „überall eine stark vaterländische,<br />

besser: heimatliche<br />

Gesinnung“. Besonders bemerkenswert<br />

an dieser Rasse<br />

seien „Verlässlichkeit, Tapferkeit<br />

und Stolz“. Sie habe eine<br />

„gewisse händlerische und<br />

kaufmännische Begabung“ und<br />

neige „zu leichter Erregbarkeit<br />

MeineOma,<br />

„empfänglich<br />

fürLeitung<br />

undFührung“<br />

Die schlesische Uroma, Anna Radwitz, Mutter vonFrida, im Garten<br />

in Petersdorf(Piechowice) im Riesengebirge. Die Urgroßeltern<br />

väterlicherseits warenslowenische Bauern: Katharina Bobowec<br />

und Ivan Tkalec. Ihren Acker in Krizevci(Kreuzdorf) bewirtschaften<br />

heutemeine Verwandten.<br />

sowie zu schnellem Aufbrausen,<br />

ja zum Jähzorn und zu besonderer<br />

Rauflust“. Die dinarische<br />

Rasse sei darüber hinaus<br />

„gutmütig, derb, roh und sentimental“.<br />

Günther hatte in seinen Vergleichen<br />

die „nordische Rasse“<br />

als höchstentwickelte, aber<br />

auch als am stärksten bestandsgefährdete<br />

dargestellt.<br />

Es wäre ein Wunder, wenn<br />

vor diesem Hintergrund Gentests,<br />

die nach der Herkunft des<br />

Individuums schauen, hierzulande<br />

mit der gleichen Unbefangenheit<br />

betrachtet würden,<br />

wie es in den USA geschieht.<br />

Dort haben Millionen – allesamt<br />

Nachkommen freiwilliger<br />

oder per Sklavenschiff in die<br />

Neue Welt gezwungener Einwanderer<br />

–ihre DNA untersuchen<br />

lassen. Afroamerikaner<br />

konnten so erfahren, ob ihre<br />

Vorfahren aus dem heutigen<br />

Nigeria, Ghana oder Angola kamen.<br />

Doch was sagt ein solcher<br />

Test über Europäer, von denen<br />

noch immer manche glauben,<br />

sie seien schon immer dagewesen,<br />

wo ihre Familie gerade<br />

wohnt, und daraus bestimmte<br />

Vorrechte ableiten?<br />

Ancestry, ein kommerzieller<br />

Anbieter solcher DNA-Tests<br />

wie auch MyHeritage oder<br />

23andme und nach eigenen Angaben<br />

die weltweit größte Online-Plattform<br />

für Ahnenforschung<br />

und Verbraucher-Genomik,<br />

extrahiert aus der Speichelprobe<br />

DNA und analysiert<br />

sie robotergestützt in eigenen<br />

Das<br />

Rätsel<br />

umdas<br />

Ohrschmalz<br />

Laboren auf 700000 genetische<br />

Marker. Die Ergebnisse<br />

werden in Form einer Datei<br />

ausgegeben, die Ancestrys firmeneigene<br />

Algorithmen durchläuft<br />

und zwei Resultate liefert:<br />

Zum einen gibt sie die Ein-<br />

schätzung der Abstammungsmischung,<br />

die Daten aus mehr<br />

als 500 ethnischen Regionen<br />

heranzieht.<br />

Zum anderen weist sie Verbindungen<br />

zu lebenden Verwandten<br />

nach –Menschen, die<br />

in der unternehmenseigenen<br />

DNA-Verbraucherdatenbank<br />

gespeichert sind. Es soll die<br />

weltweit größte ihrer Art sein.<br />

Das heißt, meine Daten wurden<br />

mit denen von Menschen verglichen,<br />

die Ancestry bereits in<br />

den eigenen DNA-Datenbanken<br />

hat. Findet sich hohe Übereinstimmung<br />

mit der DNA eines<br />

Ancestry-Kunden, darf von<br />

gemeinsamer Herkunft ausgegangen<br />

werden. Ich habe auf<br />

diese Weise von 28 Cousins und<br />

Cousinen 4. Grades erfahren,<br />

kenne ihre Benutzernamen,<br />

nicht aber ihre Adresse. Die<br />

müsste ich auf andere Weise<br />

suchen. Manche haben Porträts<br />

eingestellt, manche nicht.<br />

Noch vor 15 Jahren wäre eine<br />

solche genomische Untersuchung<br />

für den normalen Menschen<br />

undenkbar gewesen –<br />

viel zu kompliziert, viel zu teuer.<br />

Als 1990 mehr als tausend<br />

Wissenschaftler aus 40 Ländern<br />

das Human Genom Project<br />

zur Entschlüsselung des<br />

gesamten menschlichen Erbguts<br />

in Angriff nahmen, kostete<br />

das etwa drei Milliarden Dollar.<br />

Dreizehn Jahre vergingen, bis<br />

die Mission als erfüllt gemeldet<br />

werden konnte: Das menschliche<br />

Genom mit seinen mehr als<br />

drei Milliarden Basenpaaren<br />

war vollständig entschlüsselt.<br />

Eines der überraschenden Ergebnisse:<br />

Es enthält nur etwa<br />

20000 bis 25000 Gene –nur<br />

doppelt so viel wie zum Beispiel<br />

eine Fliege! Etwa 100000 hatten<br />

die Forscher erwartet.<br />

Seither hat die Genforschung<br />

eine wahre Revolution erlebt<br />

und einen gigantischen Wissenszuwachs<br />

–inteilweise witzigen<br />

Details und hinsichtlich<br />

umfassender Erkenntnisse.<br />

Recht bekannt ist die europäische<br />

Besonderheit der Laktoseverträglichkeit<br />

im Erwachsenenalter,<br />

eine recht junge genetische<br />

Neuerung. Der Gletschermann<br />

Ötzi, der vor etwa<br />

5000 Jahren lebte, vertrug<br />

noch keine Kuhmilch. Weniger<br />

bekannt ist das Ohrschmalz-<br />

Rätsel: Europäer und Afrikaner<br />

produzieren eine feucht-klebrige<br />

Substanz, Ostasiaten eine<br />

krümelig-trockene. Das liegt an<br />

einer winzigen Veränderung<br />

auf Chromosom 16.<br />

Warum in Afrika und Europa<br />

die feuchte Variante dominiert,<br />

die in Südkorea praktisch gar<br />

nicht vorkommt, bedeutet für<br />

die jeweiligen Menschen gar<br />

nichts –weder für Gesundheit<br />

noch sonst für sein Leben. Weder<br />

ein evolutionärerVor- noch<br />

ein Nachteil ist nachweisbar.<br />

Offenbar entstanden die Varianten<br />

zufällig, und die trockene<br />

ist durch ebenso zufällige Gendrift<br />

gen Osten gewandert. Vermutet<br />

wird ein Zusammenhang<br />

mit dem Achselschweiß und seiner<br />

schwächeren Duftentfal-<br />

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