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Berliner Zeitung 09.08.2019

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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 183 · F reitag, 9. August 2019<br />

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Feuilleton<br />

Jubelnde Menschen bei der Ankunft des NazifunktionärsSigfried Uiberreither im slowenischen Maribor<br />

ULLSTEIN/HEINRICH HOFFMANN<br />

In den Zeiten des Überlebens<br />

Sloweniens größter lebender Erzähler,Drago Jancar,schreibt in seinem Roman „Wenn die Liebe ruht“ gegen das Verschweigen der Geschichte an<br />

VonMathias Schnitzler<br />

Die Zeit spielt verrückt.<br />

Sie springt zurück und<br />

vor, mal in großen, mal<br />

in kleinen Schritten,<br />

und manchmal bleibt sie stehen,<br />

um bald neuen Schwindel zu entfachen.<br />

Der allwissende Erzähler,<br />

möglicherweise ein erschöpfter<br />

Gott, hält die Fäden nicht in der<br />

Hand. Die Menschen fliehen oder<br />

verstecken sich, sie konspirieren,<br />

ziehen in den Kampf, werden zu<br />

Opfern und Tätern. Oder zu beidem.<br />

Andere versuchen, sich an Erinnerungen<br />

zu halten, doch „mitten<br />

in diesem Tod, der allgegenwärtig<br />

war, konnte man nicht so in die<br />

schöne Zeit entrückt sein“.<br />

DieZeit ist aus den Fugen, überall<br />

in Europa, doch besonders in Maribor,<br />

woHitler am 26. April 1941 seinen<br />

Schergen befiehlt: „Machen Sie<br />

mir dieses Land wieder deutsch!“<br />

Wieder deutsch? Slowenien gehörte<br />

seit dem 15. Jahrhundert zum Vielvölkerreich<br />

der Habsburger und<br />

nach dem Ersten Weltkrieg zum Königreich<br />

Jugoslawien, das 1941 von<br />

Nazideutschland überfallen, unter<br />

grausamen Verbrechen besetzt und<br />

aufgeteilt wird.<br />

Regelrecht zerstückelt wird Slowenien<br />

von den Deutschen, Italienern<br />

und Ungarn. Ebenso zerrissen<br />

DAS BUCH<br />

DragoJancar:Wenn die Liebe ruht<br />

Ausdem Slowenischen vonDaniela Kocmut.<br />

Zsolnay, Wien 2019.<br />

397 S.,25Euro<br />

wie das Land ist die Bevölkerung,<br />

wiederum extrem im nah an Österreich<br />

gelegenen Maribor. Seit dem<br />

Zusammenschluss Sloweniens mit<br />

Serbien und Kroatien wurde die<br />

deutsch-österreichische Mehrheitsbevölkerung<br />

im ehemaligen Marburg<br />

an der Drau stetig kleiner.<br />

1941, zu Beginn von Drago Jancars<br />

neuem Roman „Wenn die Liebe<br />

ruht“, sind die Deutschsprachigen<br />

in der Minderheit.<br />

So kämpfen nicht nur Partisanen<br />

gegen Besatzer, sondern auch<br />

deutschsprachige gegen slawische<br />

Slowenen, um alte Rechnungen zu<br />

begleichen. Nicht nur Faschisten,<br />

Kommunisten und Demokraten<br />

stehen sich gegenüber, auch Ärzte,<br />

Krankenschwestern, Bauern und<br />

Kinder werden in die lebensbedrohlichen<br />

Wirren hineingezogen. In<br />

dieser Welt am Abgrund lässt Jancar<br />

das Schicksal drei junge Menschen<br />

existenziell und moralisch auf die<br />

Probe stellen: die Medizinstudentin<br />

Sonja, den Vermessungsingenieur<br />

Valentin und den SS-Mann Ludwig.<br />

Es geht um die Liebe in den Zeiten<br />

des Überlebens.<br />

Als Sonja auf der Straße den<br />

Obersturmbannführer Ludwig<br />

trifft, ergreift sie die Chance, ihren<br />

Geliebten Valentin zu retten. DieSS<br />

hat ihn verhaftet und gefoltert, um<br />

die Namen von Partisanen zu erpressen.<br />

Der Sloweniendeutsche<br />

Ludwig, damals Ludek genannt,<br />

hatte Sonja einst als Kind aus dem<br />

Schnee gezogen, nun bittet sie ihn<br />

um Hilfe. Erregt von der Schönheit<br />

der jungen Frau und von seiner<br />

Macht verlangt Ludwig eine Nacht<br />

mit Sonja und lässt Valentin, unter<br />

Gefährdung seines eigenen Lebens,<br />

tatsächlich frei. Valentin jedoch<br />

hat vonSonjas Opfer erfahren<br />

und verlässt sie. Geschockt von ihremEinsatz,<br />

der ihm das Leben rettete,<br />

zieht er in die Berge zuden<br />

Partisanen.<br />

Die Geschichte Sloweniens im<br />

Zweiten Weltkrieg lässt Jancar, 1948<br />

in Maribor geboren und wohl der bedeutendste<br />

zeitgenössische Erzähler<br />

seines Landes, nicht los. In vielen<br />

seiner Romane und Essays bilden<br />

die Gräuel der Nazis und die Beteiligung<br />

der Kollaborateure, aber auch<br />

die Verbrechen der Partisanen an<br />

den eigenen Landsleuten den historischen<br />

Rahmen. Jancar selbst<br />

wurde 1974 wegen „feindlicher Propaganda<br />

und publizistischen Ungehorsams“<br />

für Monate vom jugoslawischen<br />

Tito-Regime inhaftiert;<br />

dreißig Jahrezuvor hatte sein vonder<br />

Gestapo festgesetzter Vater im selben<br />

Gefängnis gesessen.<br />

Das kleine Slowenien gilt heute<br />

vorallem wirtschaftlich als Musterland<br />

der EU. Das aber, was wir in<br />

Deutschland Vergangenheitsbewältigung<br />

nennen und das neuerdings<br />

doch nicht so vorbildlich<br />

scheint, wie wir einmal dachten,<br />

steht auf dem Balkan erst am Anfang.<br />

Jancar spricht in diesem Zusammenhang<br />

lieber von Erinnerungsarbeit.<br />

Das jahrzehntelange<br />

Schweigen in Slowenien, so sagte<br />

er einmal, beruhe auf Angst und<br />

schlechtem Gewissen.<br />

Man kann „Wenn die Liebe<br />

ruht“ auch als Fortsetzung von<br />

Jancars letztem Roman lesen. „Die<br />

Nacht, als ich sie sah“ wurde in<br />

Frankreich zum besten fremdsprachigen<br />

Buch des Jahres gewählt<br />

und auch in Deutschland zu<br />

Recht gefeiert. Aus fünf verschiedenen<br />

Blickwinkeln zeichnete Jancar<br />

das Bild einer schillernden<br />

Frau und ihres schrecklichen Endes<br />

wegen vermeintlicher Kollaboration<br />

mit den Deutschen. Es<br />

gibt, so die Lektion dieses Meisterwerks,<br />

niemals nur eine Wahrheit,<br />

weder in der Beurteilung eines<br />

Menschen noch der Geschichte.<br />

Zeitlich schließt der neue Roman<br />

an den Vorgänger an und beleuchtet<br />

vor allem die letzten Kriegsjahre sowie<br />

die Zeit der Befreiung, die für<br />

viele Slowenen ebenfalls traumatisch<br />

verläuft und von Gewalt geprägt<br />

ist. Statt der fünf Perspektiven<br />

auf eine Person verfolgt der Autor<br />

nun die persönlichen Verstrickungen<br />

seiner drei Protagonisten, zerrieben<br />

und zerstörtvom Krieg, vonmoralischem<br />

Verfall, echter und schuldloser<br />

Schuld. Sonja wird nach Ravensbrück<br />

deportiert und überlebt,<br />

weil die Nazis sie als Zwangsprostituierte<br />

für Soldaten in Ostpreußen<br />

missbrauchen. Ludwig kann aus einem<br />

Kriegsverbrecherlager fliehen,<br />

endet aber gemeuchelt in einem<br />

Straßengraben. Valentin macht Karrierebei<br />

den Partisanen, muss dabei<br />

jedoch Zivilisten erschießen.<br />

Es gibt in diesem Buch auch unterschiedlichste<br />

Nebenfiguren, deren<br />

Geschichten nur knapp, aber<br />

höchst konzentriert angerissen werden.<br />

Eine meisterliche Gabe des Autors.Kurzvor<br />

Ende des Romans führt<br />

Jancar, der auch Drehbücher geschrieben<br />

hat, seine drei Protagonisten<br />

dann noch einmal ganz nahe zusammen.<br />

Fatum und Furcht aber<br />

lassen sie sich knapp verpassen. Die<br />

Liebe ist nicht stärker als der Krieg.<br />

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