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Berliner Zeitung 09.08.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 183 · F reitag, 9. August 2019 3<br />

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Seite 3<br />

Es ist still. Kein entfernter Autolärm,<br />

keine Musik, keine Stimmen sind<br />

zu hören in Sant’Anna di Stazzema.<br />

Die wenigen Häuser liegen inmitten<br />

dichter Wälder, auf 700 Meter Höhe,<br />

fernab der Geschäftigkeit und Enge der Küstenebene<br />

mit ihren Seebädern Forte dei<br />

Marmi und Viareggio. Das einspurige Serpentinensträßchen,<br />

das steil in die Apuanischen<br />

Alpen hinaufführt, endet in<br />

Sant’Anna. Einfach so.Nur das Rauschen der<br />

Baumwipfel erfüllt noch die Luft.<br />

Ob es an jenem Augustmorgen vor75Jahren<br />

auch so still war, bevor eines der grausamsten<br />

Verbrechen des Zweiten Weltkriegs<br />

geschah? Am 12. August 1944 fielen deutsche<br />

Soldaten der 16. Panzergrenadier-Division<br />

„Reichsführer SS“ in das toskanische Bergdorfein.<br />

Siemisshandelten und ermordeten<br />

560 wehrlose Zivilisten. Frauen, Kinder, Babys,<br />

Schwangere, Greise.<br />

Heute leben nur noch 35 Menschen in<br />

Sant’Anna. Damals waren es weit mehr als<br />

tausend, wie der Mitarbeiter des kleinen Museums<br />

erklärt, das in der ehemaligen Schule<br />

an das Massaker erinnert. Die 400 Dorfbewohner<br />

hatten etliche Hundert Flüchtlinge<br />

aufgenommen, darunter viele Kinder.Eswaren<br />

Leute aus der Ebene, die in den Bergen<br />

Schutz vorden deutschen Truppen suchten.<br />

Sant’Anna war nur zu Fuß über Eselspfade<br />

zu erreichen. Es bestand aus verstreuten Höfen<br />

und einem kleinen Ortskern mit Kirche<br />

und Schule.<br />

Über das Leben in Sant’Anna und darüber,was<br />

genau an jenem Augustmorgen geschah,<br />

darüber können Enio Mancini und<br />

Enrico Pieriambesten Auskunft geben. Wieder<br />

und wieder haben die beiden erzählt, wie<br />

sie als Jungen das Massaker überlebten. Sie<br />

wollen die Erinnerung daran wachhalten,<br />

helfen, dass Lehren daraus gezogen werden.<br />

In Deutschland, aber vorallem in Italien, wo<br />

der Nationalismus wieder hoch im Kurs<br />

steht. Enio Mancini und Enrico Pieri<br />

schauen zurück. Aber ihnen liegt dabei die<br />

Zukunft am Herzen.<br />

Um die beiden zu treffen, muss man die<br />

Serpentinen wieder nach unten fahren, ins<br />

sieben Kilometer entfernte Valdicastello, wo<br />

Enio jetzt lebt. Wir sind in der Gaststätte an<br />

der Hauptstraße verabredet, eine typisch italienische<br />

Bar mit Fliegenfänger-Vorhang aus<br />

bunten Plastikstrippen am Eingang.<br />

Früher kam auch Enrico häufiger aus dem<br />

nahen Pietrasanta hierher, inzwischen<br />

sträubt er sich. DieWirtin ist Anhängerin des<br />

rechten, fremdenfeindlichen Innenministers<br />

Matteo Salvini geworden, wie so viele Italiener.AndiesemTagwill<br />

Enrico eine Ausnahme<br />

machen. Enio dagegen hat gar keine Wahl. Es<br />

ist die einzige Bar imOrt, sagt er entschuldigend.<br />

Am Tisch in einem kleinen Hinterraum<br />

der Gaststätte beginnt er von damals zu erzählen,<br />

ein liebenswerter älterer Herr mit<br />

freundlichem Blick. Von seiner Kindheit,<br />

vom spartanischen Dorfleben in Sant’Anna.<br />

„Die Leute hatten nur das, was sie auf den<br />

wenigen Feldern ringsum anbauten. Und<br />

dieses Wenige teilten sie mit den Flüchtlingen.“<br />

Sechs Jahrealt war Enio Mancini in jenem<br />

August. Seine Elternbeherbergten in ihremkleinen<br />

Haus gleich zwei vertriebene Familien,<br />

elf Leute insgesamt. Er schlief mit<br />

dem Bruder und zwei Flüchtlingskindern in<br />

einem Bett.<br />

Das abgelegene Sant’Anna schien während<br />

des Krieges lange ein sicherer Ort zu<br />

sein. Doch dann, im Frühjahr 1944, gab es in<br />

der Gegend Kämpfe zwischen deutschen<br />

Truppen, faschistischen Einheiten und Partisanen.<br />

DieMänner vonSant’Anna gingen oft<br />

schon vordem Morgengrauen in die Wälder,<br />

aus Angst, vonden Deutschen zur Zwangsarbeit<br />

deportiert zuwerden oder von Faschisten<br />

erschossen zu werden.<br />

Dann zündeten sie das Haus an<br />

Wassie nicht wussten, war, dass keine fünfzig<br />

Kilometer entfernt die „Goten-Linie“ lag.<br />

Eine Verteidigungsfront mit Bunkern und<br />

Gefechtsstellungen, von den deutschen<br />

Truppen auf ihrem Rückzug vor den Alliierten<br />

errichtet. Sie verlief von Carrara ander<br />

Tyrrhenischen Küste bis zur Adria. Im Frühjahr<br />

und Sommer 1944 wurde längs dieser Linie<br />

erbittert gekämpft. Die Deutschen zerstörten<br />

alles, was dem Gegner nützen<br />

konnte. Straßen, Brücken, Häuser, ganze<br />

Dörfer.Anvielen Orten töteten sie Dutzende,<br />

wenn nicht Hunderte Zivilisten.<br />

In Sant’Anna fielen sie an jenem Augusttag<br />

gegen 6.30 Uhrinder Frühe ein. EniosVater<br />

war noch vor Sonnenaufgang im Wald<br />

verschwunden. Keine Sorge, die Deutschen<br />

suchen nur nach uns Männern, hatte er die<br />

Familie wie immer beruhigt. Enio und die<br />

anderen Kinder waren gerade aufgestanden,<br />

als sie die aufgeregten Rufe hörten: „Die<br />

Deutschen kommen!“<br />

Kurz darauf sahen sie die Soldaten vor<br />

dem Haus.Ein Maschinengewehr mit langer<br />

Munitionskette war aufgebaut, erinnert sich<br />

Das Mahnmal in Sant’Anna di<br />

Stazzema erinnertandas<br />

Massaker vom 12. August<br />

1944. Die deutschen<br />

Soldaten ermordeten Frauen,<br />

Kinder und Greise. MAURITIUS IMAGES<br />

Die Mahner<br />

Im August 1944 überfielen deutsche Soldaten das toskanische Bergdorf<br />

Sant’Anna di Stazzema und ermordeten 560 wehrlose Zivilisten.<br />

Enio Mancini und Enrico Pieri waren damals, vor 75 Jahren, Kinder.<br />

Wieder und wieder haben sie seitdem erzählt,<br />

wie sie das SS-Massaker überlebten.<br />

Eine Begegnung mit zwei Männern, die trotz allem an die Jugend<br />

und die Zukunft Europas glauben<br />

VonRegina Kerner,Sant’Anna di Stazzema<br />

Kämpfer gegen das Vergessen: Enio Mancini (l.)<br />

und Enrico Pieri.<br />

REGINA KERNER<br />

Enio. Die Deutschen brüllten barsche Kommandos.<br />

„Raus, sofort raus“, übersetzte ein<br />

italienischer Faschist, der sie begleitete.Barfuß<br />

wurden die Frauen und Kinder ins Freie<br />

gejagt. Dann zündeten die Soldaten das<br />

Haus an.<br />

Sie trieben Enios Familie mit Schlägen<br />

und Stößen Richtung Tal. Überall waren<br />

Schüsse zu hören, Rauch stieg auf. Dann passierte<br />

etwas Überraschendes. Der Soldatentrupp<br />

entfernte sich rasch auf dem Waldpfad,<br />

nur ein Deutscher bewachte sie noch.<br />

Sehr jung sei er gewesen und blond, sagt<br />

Enio.„Er begann auf uns einzureden, wir verstanden<br />

nur seine Gesten: Ganz still sollten<br />

wir sein und schnell wieder zurücklaufen.“<br />

Dann gab der Soldat mehrereGewehrsalven<br />

in die Luft ab und verschwand. „Ertat so,als<br />

hätte er uns alle erschossen.“<br />

Erst am Nachmittag jenes Tages, als es<br />

schon lange wieder still geworden war, begriffen<br />

sie,was im Dorfpassiertwar.Sie gingen<br />

zu den abgebrannten Häusernihrer Verwandten<br />

und Nachbarn, wo überall verkohlte<br />

und blutige Körper lagen. Zumersten<br />

Malsah der sechsjährige Enio Tote.„DerGeruch<br />

von verbranntem Fleisch ist das, war<br />

mir am stärksten in Erinnerung geblieben<br />

ist“, sagt er.<br />

Zwei oder drei Stunden lang hatte die SS<br />

gewütet, ein Haus nach dem anderen durchkämmt,<br />

auf alles geschossen, was ihr begegnete,<br />

Menschen mit Flammenwerfern getötet.<br />

Zeugen berichteten später, einer<br />

schwangeren Frau sei der Bauch aufgeschlitzt<br />

worden und ein SS-Mann habe den<br />

Kopf einer Fünfjährigen so lange gegen die<br />

Wand geschlagen, bis der Schädel zersprang.<br />

Dasjüngste Opfer war 20 Monate alt.<br />

Aufdem Platz vorder kleinen Kirche wurden<br />

mehr als hundertDorfbewohner zusammengetrieben,<br />

erschossen und dann verbrannt.<br />

„Ich haben den Kirchplatz zum<br />

Glück nicht gesehen an jenem Tag“, sagt<br />

Enio. Ererinnert sich aber daran, wie die<br />

Männer aus den Wäldernzurückkamen und<br />

verzweifelt die Namen ihrer Frauen und Kin-<br />

der riefen. Undwie sie später Massengräber<br />

aushoben.<br />

Enios Familie überlebte damals, fast wie<br />

durch ein Wunder. „Ich weiß nicht, ob der<br />

junge Deutsche ein guter Mensch war“, sagt<br />

Enio,„aber er hat uns das Leben gerettet.“<br />

Inzwischen ist auch Enrico Pieri angekommen,<br />

entschuldigt sich für die Verspätung.<br />

Der 85-Jährige trägt kurze Hosen, ist<br />

braun gebrannt. Ihm ist anzusehen, dass er<br />

viel draußen ist, sich um seine Bienen und<br />

Olivenbäume kümmert.<br />

In der Gaststätte fühlt er sich spürbar unwohl,<br />

ist fahrig, wie auf dem Sprung. Doch<br />

als er über jenen Morgen spricht, an dem er<br />

alles verlor, wird sein Blick konzentriert.<br />

Seine Familie war von den Deutschen in die<br />

Küche eines Nachbarhauses gepfercht worden,<br />

sagt er. Dort hatte sich das Nachbarsmädchen<br />

in einem Hohlraum unter der<br />

Treppe versteckt und zog ihn zu sich. Alle in<br />

der Küche wurden erschossen. EnricosVater,<br />

seine Mutter, die schwanger war, seine Geschwister,Großeltern,<br />

Onkel und Tanten, die<br />

Nachbarn. Nurer, das Mädchen und ein weiteres<br />

Kind überlebten. Enrico hat alles mit<br />

angesehen. Er war zehn Jahrealt.<br />

„Was hatte Sant’Anna bloß mit dem Krieg<br />

zu tun?“, sagt Enrico. „Das frage ich mich<br />

heute noch.“<br />

AusAngst, die Deutschen könnten zurückkommen,<br />

hielten sich die Überlebenden wochenlang<br />

versteckt. Erst als die Amerikaner<br />

vorrückten, kehrten sie ins Dorf zurück und<br />

bauten ihre Häuser wieder auf. Danach<br />

schwiegen sie über das,was vorgefallen war.<br />

„Die Frauen sagten: Spielt nicht, schreit<br />

nicht rum, hier sind unsereLeute gestorben“,<br />

erinnert sich Enio. Auch als er älter wurde,<br />

blieb es beim Schweigen.„Uns Überlebenden<br />

schien es, als könnte man das Trauma so<br />

überwinden“, sagt er heute.„Wirhaben uns in<br />

uns selbst verschlossen.“ Enio litt jahrelang<br />

unter Alpträumen und war Bettnässer.Enrico,<br />

der zum Waisen geworden war,sagtnur:„Ich<br />

hatte eine schreckliche Kindheit.“ Kaum erwachsen,<br />

floh er weit weg, in die Schweiz, wo<br />

er als Tischler arbeitete.<br />

DerÖffentlichkeit blieb das Kriegsverbrechen<br />

von Sant’Anna di Stazzema viele Jahrzehnte<br />

lang verborgen. DieAkten einer amerikanischen<br />

Ermittlungskommission wurden<br />

in der Nachkriegszeit von den USA und<br />

Italien aus Rücksicht auf den Nato-Partner<br />

Deutschland unter Verschluss gehalten.<br />

„Aber auch, weil Italiens Politik kein Interesse<br />

daran hatte, inder Vergangenheit zu<br />

wühlen“, sagt Enio. Schließlich hatten Mussolinis<br />

Truppen in Äthiopien ebenfalls Massaker<br />

begangen.<br />

Enio Mancini konnte sich mit den Jahren<br />

langsam aus der inneren Erstarrung lösen.<br />

Anfang der Siebziger packte ihn der Wunsch<br />

nach Gerechtigkeit für die Toten von<br />

Sant’Anna. Er wollte gegen das Vergessen<br />

kämpfen, begann, Dokumente zu sammeln.<br />

Ihm ist es zu verdanken, dass in der<br />

ehemaligen Schule das Museum eingerichtet<br />

wurde.<br />

Die italienische Justiz beschäftigte sich<br />

erst viel später mit dem Massenmord. 1994<br />

holte ein Staatsanwalt die Akten aus dem<br />

Giftschrank, dem „Schrank der Schande“,<br />

wie es anschließend hieß. Und61Jahre nach<br />

dem Massaker verurteilte ein Militärgericht<br />

in La Spezia 2005 zehn Deutsche in Abwesenheit<br />

zu lebenslanger Haft. Doch die Bundesrepublik<br />

lieferte sie nicht aus. Und deutsche<br />

Ermittler stellten 2012 ihre Bemühungen<br />

ein. DieStaatsanwaltschaft Stuttgartließ<br />

damals wissen, es fehle der Beleg für eine individuelle<br />

Schuld von 14 namentlich bekannten<br />

Tätern. Besondere Grausamkeit sei<br />

ihnen auch schwer nachzuweisen.<br />

In Italien war man entsetzt. Für die Überlebenden<br />

war es wie ein Schlag ins Gesicht.<br />

Enrico Pieriversuchte,neueErmittlungenin<br />

Gang zu bringen. Vergebens. Der letzte der<br />

Beschuldigten, der ehemalige SS-Mann Gerhard<br />

Sommer, lebt bis heute unbehelligt in<br />

Hamburg.<br />

Hass,der zu nichts führte<br />

Auch der deutsche Staat rührte sich lange<br />

nicht. Erst 2004 besuchte ein Mitglied der<br />

Bundesregierung offiziell den Ort des Verbrechens,<br />

der damalige Innenminister Otto<br />

Schily. Dass vor fünf Jahren dann ein Bundespräsident<br />

in Sant’Anna um Entschuldigung<br />

bat, ist Enrico Pieris Verdienst. Er hatte<br />

Joachim Gauck einen sehr persönlichen<br />

Brief geschrieben und ihn zum 70. Jahrestag<br />

des Massakers eingeladen.<br />

Die beiden Überlebenden haben den<br />

Deutschen vergeben, trotz allem. Enrico<br />

sagt, er habe recht schnell begriffen, dass der<br />

Hass, den er empfand, zu nichts führte. SeinenSohnschickte<br />

er in der Schweiz ganz bewusst<br />

in eine deutschsprachige Schule.„Machen<br />

wir unsere Kinder zuEuropäern, sagte<br />

ich mir.“ Sein Sohn ist heute Lehrer in Basel.<br />

Dass Enio Mancini sogar sagen kann, er<br />

habe heute mehr Freunde in Deutschland als<br />

in Italien, liegt vorallem an einer Gruppe engagierter<br />

Stuttgarter. Eine Bürgerinitiative,<br />

die sich „Die Anstifter“ nennt, organisierte<br />

nach demdeutschenJustizskandal eine Solidaritätsfahrt<br />

nach Sant’Anna. Seitdem<br />

kämpft sie gemeinsam mit Enio und Enrico<br />

gegen das Vergessen. Und jeden Sommer<br />

treffen sich deutsche und italienische Jugendliche<br />

in einem Friedenscamp.<br />

Mit jungen Leuten über das Geschehen<br />

zu sprechen, finden Enio und Enrico wichtiger<br />

denn je. „Das geeinte Europa ist in den<br />

Konzentrationslagern und an Orten wie<br />

Marzabotto und Sant’Anna geboren worden“,<br />

sagt Enrico. „Aber die Jugendlichen<br />

sind sich darüber nicht im Klaren. Siefühlen<br />

Europa nicht.“<br />

Weil es für Besucher bisher keine Möglichkeit<br />

gibt, in Sant’Anna zu übernachten,<br />

hat Enrico Pierider Gemeinde das Haus seiner<br />

Familievermacht. Er möchte,dassesrenoviert<br />

und zu einer Jugendherberge umgebaut<br />

wird. Ein „Ostello della pace“ soll es<br />

werden,ein Ortdes Friedens und der Begegnung.<br />

Dann wäre die Stille von Sant’Anna di<br />

Stazzema wieder häufiger von jungen Stimmenerfüllt.<br />

Regina Kerner war tief beeindruckt<br />

vonEnio Mancini und Enrico Pieri nach<br />

dem Treffen in Valdicastello.

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