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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 183 · F reitag, 9. August 2019 5 *<br />
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Politik<br />
Wladimir Putin wird im Inland wie im Ausland bewundertund gefürchtet, verehrtund gehasst.<br />
AFP/YURI KADOBNOV<br />
Aufstand im Reich der gelenkten Demokratie<br />
Seit 20 Jahren führt Wladimir Putin in Moskau Regie. Er hat Russland mit Härte zu neuer Größe geführt. Doch die Stimmung im Land droht zu kippen<br />
VonStefan Scholl, Moskau,<br />
und Ulrich Krökel<br />
Blaugraue Gewitterwolken<br />
schwimmen heran, aber<br />
das schert die Moskauer<br />
nicht. Sie genießen in diesen<br />
Sommertagen ihren Feierabend.<br />
In der lauen Luft liegen melodischer<br />
Sowjetrock, Saxofon-Jazz und kaukasischer<br />
Rap. Lässig schlenderndie<br />
Moskauer vorbei an leuchtenden Läden.<br />
Über der Kamergerskaja-Fußgängerzone<br />
funkeln Kunststoffsterne.<br />
Plötzlich kommt heftiger<br />
Wind auf, reißt Dutzende Sterne von<br />
den Leinen. „Mama“, jubelt ein kleines<br />
Mädchen, „es regnet Sterne.“<br />
Gepflegtes Moskau<br />
Dasneue Moskau wirkt schöner und<br />
entspannter denn je. Stolz zeigen<br />
Hauptstädter etwa Gästen aus Berlin<br />
eine neuartige Attraktion nach der<br />
anderen: So etwas habt ihr doch in<br />
ganz Deutschland nicht.“ So etwas<br />
wie zum Beispiel den Sarjadje-Park<br />
am Ufer der Moskwa: zehn Hektar,<br />
mit viel Holz und viel Grün, mit<br />
künstlich angelegten Biotopen, tagsüber<br />
und erst recht abends anheimelnd<br />
wie eine gigantische Open-<br />
Air-Wellness-Landschaft. Das US-<br />
Magazin Time nahm den Park 2018<br />
in eine Liste der 100 „großartigsten<br />
Plätze der Welt“ auf. Die Moskauer<br />
nennen ihn, halb anerkennend, halb<br />
satirisch, „Putins Paradies“.<br />
„Die russische Hauptstadt“, urteilt<br />
sogar der notorische deutsche<br />
Russlandkritiker Boris Reitschuster,<br />
„ist mittlerweile gepflegter als die<br />
deutsche.“ DieStröme der Jogger,die<br />
an Moskaus Beachvolleyballplätzen,<br />
Pizzerias und Freilichtkinos vorbeilaufen,<br />
sind dicht wie im NewYorker<br />
Central Park. Weiter stadtauswärts<br />
turnen Kinder in Klettergärten über<br />
weichem Tartanbelag. Es könnte alles<br />
so schön sein in Moskau, Russlands<br />
alter und neuer Traumstadt.<br />
In jüngster Zeit aber hat sich das<br />
Gefühl drohenden neuen Unheils<br />
eingeschlichen in die Hinterköpfe der<br />
Hauptstadtbewohner. Der Sicherheitsapparat<br />
wirkt noch strenger als<br />
bisher,die Dissidenten noch vorsichtiger.AndiesemWochenende<br />
werden<br />
erstmals seit Beginn der jüngsten<br />
Proteste nicht mehr nur einige Tausend,<br />
sondernwohl mehr als 100 000<br />
Menschen auf die Straße gehen, um<br />
ein„Russland ohne Putin“ zu fordern.<br />
Wie kam es zu diesem Aufstand im<br />
Paradies des Zaren?<br />
„Der fragile Frieden, der bis vor<br />
kurzemzwischen Moskauer Stadtregierung<br />
und Zivilgesellschaft bestand,<br />
ist zum Teufel gegangen“,<br />
schreibt der russische Schriftsteller<br />
Viktor Jerofejew in einem am Donnerstag<br />
in der Frankfurter Allgemeinen<br />
<strong>Zeitung</strong> veröffentlichten Aufsatz.<br />
Die Zivilgesellschaft befinde<br />
sich längst „in quälender Erwartung<br />
der Ablösung des Putin-Regimes“.<br />
Die modernen Moskauer hätten erwartet,<br />
dass sich die Obrigkeit aber<br />
schon jetzt bemüht, Moskau „das<br />
Gesicht einer komfortablen europäischen<br />
Metropole zu geben“. Diese<br />
Bemühungen habe die Stadtregierung<br />
aufgegeben, als sie diverse unabhängige<br />
Kandidaten nicht zur<br />
Kommunalwahl am 8. September<br />
zuließ –„und hier begann der Krieg.“<br />
AusSicht des Kreml ist es eine undankbareAufwallung,<br />
die da in Gang<br />
gekommen ist. Die Stadt gibt pro<br />
Einwohner mehr aus als London<br />
oder Rom. Allein im vorigen Jahr hat<br />
Moskau 33 Kilometer U-Bahn-Linie<br />
und 17 neue Metrostationen in Betrieb<br />
genommen. Und dann gehen<br />
die Leute auf die Straße?<br />
Verständnislos blicktWladimir Putin<br />
auf ein neue russische Generation.<br />
Es sind junge Leute,die keinen anderen<br />
Herrscher vor ihm kannten, die<br />
aber auch noch gar nicht vertraut<br />
sind mit der ganzen Härte, zudenen<br />
die russische Führung notfalls fähig<br />
ist.Waswill Putin nun tun? Sieverprügeln<br />
lassen, sie einsperren? Im Zweifel<br />
hat der Präsident immer auf Härte<br />
gesetzt.<br />
Auf historischen Bildern steht Putin,<br />
damals 46 Jahrealt, wie ein Schüler<br />
aus neben dem einen halben Kopf<br />
größeren Präsidenten Boris Jelzin. Es<br />
ist der 9. August 1999 und Jelzin hat<br />
den unscheinbar wirkenden Chef des<br />
Geheimdienstes FSB, soeben zum<br />
russischen Ministerpräsidenten ernannt.<br />
Wohl kein Beobachter der<br />
Kreml-Zeremonie ahnt in diesem<br />
Moment, dass er Weltgeschichte miterlebt.<br />
Doch so ist es. Denn in Wahrheit<br />
ist Jelzin schwach, nicht Putin.<br />
DerPetersburger Arbeitersohn, der<br />
Jura studiert und beim KGBKarriere<br />
gemacht hat, ergreift seine Chance.<br />
Bombenanschläge in Russland, angeblich<br />
vonIslamisten, spielen ihm in<br />
die Hand. Im September 1999 verspricht<br />
der damalige Ministerpräsident<br />
seinen Landsleuten, er werdedie<br />
„Terroristen“ verfolgen, notfalls rund<br />
um den Planeten. „Und wenn wir sie<br />
auf der Toilette erwischen, werden wir<br />
sie auch dortabknallen.“<br />
Endlich hatte Russland wieder<br />
ein Feindbild. Endlich sahen sich<br />
Land und Leute wieder geeint hinter<br />
„Der fragile Frieden<br />
ist zum Teufel gegangen.“<br />
Viktor Jerofejew, russischer Schriftsteller,<br />
in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine <strong>Zeitung</strong><br />
einem starken Mann. Dem Herrscher<br />
im Kreml räumten die Russen,<br />
ganz nach Landessitte, nur allzu<br />
gern die Befugnis ein, hart durchzugreifen.<br />
VonAnfang an kreiste Putins Präsidentschaft<br />
um die Wiedergewinnung<br />
von nationaler Würde. Den<br />
Untergang der Sowjetunion in den<br />
Jahren nach dem Mauerfall hatte er<br />
als weltpolitische Katastrophe empfunden<br />
–und auch als persönliche<br />
Schmach. Unvergesslich blieben<br />
ihm die wirren Tage, indenen er als<br />
KGB-Offizier in Dresden, schon umlagert<br />
von bärtigen Bürgerrechtlern,<br />
umWeisungen aus Moskau bat –und<br />
keine Antwortbekam.<br />
Anfangs hielten viele in Moskau<br />
den neuen Präsidenten Putin noch<br />
für „lenkbar“. Doch das erwies sich<br />
als großer Irrtum. Putin lenkte alles<br />
lieber selbst. Heute, 20Jahre später,<br />
wirderimInland wie im Ausland bewundertund<br />
gefürchtet, verehrtund<br />
gehasst.<br />
Russland lag am Ende der Jelzin-<br />
Jahre amBoden. Nach dem Untergang<br />
der Sowjetunion war das Riesenreich<br />
in Anarchie verfallen. Der<br />
Staat zahlte keine Renten und Gehälter<br />
mehr. Die berüchtigten Oligarchen,<br />
die nichts anderes waren als<br />
Mafiapaten, rissen das Volkseigentum<br />
an sich. 1998 raubte die Rubel-<br />
Krise den Bürgerndie letzten Ersparnisse.ImJahr<br />
darauf vollzog die Nato<br />
ihre erste Osterweiterung und ließ<br />
im Kosovo-Krieg, mit Unterstützung<br />
vonRot-Grün in Berlin, Bomben auf<br />
Serbien fallen: Demütigungen für<br />
Russland, wohin man sah.<br />
Dem neuen Präsidenten gelang<br />
es dank sprudelnder Einnahmen aus<br />
Öl- und Gasgeschäften zwar schnell,<br />
die wirtschaftliche Lage einigermaßen<br />
zu stabilisieren. Den entscheidenden<br />
Schritt nach vorn aber wagte<br />
Putin nicht: Bis heute fehlt es dem<br />
Land an einer Gründerszene aus<br />
kleinen und mittleren Unternehmen.<br />
Dazu fehlen Russland drei Faktoren,<br />
die aus Sicht westlicher Investoren<br />
vor allem auf dem wichtigen<br />
Feld der modernen Datenwirtschaft<br />
unerlässlich sind: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit,<br />
Kreativität.<br />
Auch in der Außenpolitik hofft der<br />
Westen auf einen Kurswechsel in<br />
Moskau, auf mehr Öffnung, auf ein<br />
neues Miteinander. Anfangs setzte<br />
Putin, der als KGB-Offizier Deutsch<br />
gelernt hatte, noch auf eine Annäherung,<br />
wie seine Rede in Berlin im September<br />
2001 zeigte. Zwei Wochen<br />
nach den Terroranschlägen in den<br />
USA trat Putin im Bundestag ans Mikrofon<br />
und bot „in der Sprache von<br />
Goethe,Schiller und Kant“ eine neue<br />
Partnerschaft zwischen Ostund West<br />
an. „Wir tun dies als ein Volk, das gute<br />
Lehren aus dem Kalten Krieg und der<br />
verderblichen Okkupationsideologie<br />
gezogen hat.“ Abgeordnete aller Parteien<br />
applaudierten stehend.<br />
Pässe als Verhandlungsgegenstand<br />
Doch im Konflikt um die Ukraine gab<br />
Putin die mögliche Annäherung an<br />
den Westen wieder auf. Im Jahr 2014<br />
ließ er die Krim völkerrechtswidrig<br />
besetzen. In diesen Tagen lässt Putin<br />
zudem in der Ostukraine russische<br />
Pässe austeilen. Dassei, sagt Marieluise<br />
Beck, Russland-Expertin der Grünen,<br />
de facto eine „hybride Annexion<br />
der besetzten Gebiete des Donbass“.<br />
Völkerrechtlich erlaubt sei das nicht.<br />
Den russischen Präsidenten<br />
schert das nicht. Die Passvergabe<br />
kann er demnächst als Verhandlungsgegenstand<br />
in seinem großen<br />
internationalen Poker anbieten,<br />
zum Beispiel bei einem Treffen mit<br />
dem französischen Staatspräsidenten<br />
Emmanuel Macron am 19. August.<br />
Sein harter Kurs, verbunden<br />
mit einem ständiges Ausnutzen der<br />
„Trotteligkeit des Westens“ (Beck),<br />
hat Putin stets genützt.<br />
Die gelben Westen haben ausgedient<br />
Anfangs gingen Hunderttausende Franzosen gegen Macrons Reformpolitik auf die Straße. Der Protest lief ins Leere, weil niemand bessere Lösungen anbot<br />
VonBirgit Holzer,Paris<br />
Gelbwesten-Proteste bestimmten die Pariser Straßen im Frühjahr.<br />
Die Sonnabende in Paris haben<br />
sich wieder normalisiert. Geschäfte<br />
schließen derzeit höchstens<br />
wegen der Sommerferien, aber nicht<br />
mehr aus Sorge, bei Demonstrationen<br />
ins Visier von Randalierern zu<br />
geraten. Polizisten schieben nicht<br />
mehr Wochenend-Sonderdienste,<br />
immer einsatzbereit für den Fall einer<br />
Eskalation. Auf den Champs-<br />
Élysées sind wieder überwiegend<br />
Touristen statt aufgebrachte Demonstranten<br />
unterwegs.<br />
In gelben Warnwesten als Erkennungszeichen<br />
machten sie im Winter<br />
und Frühjahr immer sonnabends zunächst<br />
anVerkehrskreiseln im ganzen<br />
Land, später an symbolträchtigen Orten<br />
in den Metropolen ihrem Ärger<br />
auf die französische Regierung und<br />
die soziale Ungleichheit Luft. Einpaar<br />
Unermüdliche finden sich zwar weiterhin<br />
zusammen und versuchen,<br />
das Gefühl der Solidarität untereinander<br />
und den Widerstand aufrechtzuerhalten.<br />
Dennoch erscheint die<br />
Bewegung erschlafft – zumindest<br />
vorerst, denn die Ruhe ist trügerisch.<br />
Zu vieles liegt weiterhin im Argen in<br />
Frankreich und die Ursachen für die<br />
Wut sind keineswegs beseitigt. Sie<br />
entstand aus einem immensen Misstrauen<br />
vieler Franzosen gegenüber<br />
der Politik. DieKluft zwischen Globalisierungsgewinnernund<br />
-verlierern,<br />
zwischen der Elite und abgehängten<br />
sozialen Klassen, Stadt- und Landbewohnern<br />
wächst unaufhörlich. Die<br />
so entstandenen Spannungen verstärkten<br />
die Proteste.<br />
Nicht umsonst war deren Auslöser<br />
die geplante –und dann ausgesetzte<br />
–Erhöhung der Ökosteuer auf<br />
Kraftstoff. Auch zog Präsident Emmanuel<br />
Macron besonders den Zorn<br />
auf sich, weil er als Absolvent vonElitehochschulen<br />
und rasant aufgestiegener<br />
Politik-Karrierist mit allzu<br />
selbstsicherem Auftreten „die da<br />
oben“ vertritt, welche sich nicht für<br />
die Probleme der Normalbevölkerung<br />
interessieren. Dieses Image hat<br />
DPA<br />
sich nicht geändert, auch wenn Macrons<br />
bisher schwerste politische<br />
Krise vorerst überwunden scheint.<br />
Die heutige Schwäche der Gelbwesten<br />
erklärt sich zum einen daraus,<br />
dass sie Probleme aufzeigten<br />
und benannten, nicht aber deren<br />
Lösungen – was ja auch nicht die<br />
Aufgabe von Bürgern ist. Eine Führungsfigur<br />
fehlte,die ihredisparaten<br />
Anliegen zusammenfassen und gegenüber<br />
der Regierung vertreten<br />
konnte. Genau ein solches Sprachrohr<br />
hatte die Bewegung zugleich<br />
stets abgelehnt, die dezentral organisiertund<br />
in den sozialen Netzwerken<br />
entstanden war.<br />
Zum zweiten ließ infolge der Gewalt<br />
am Rande der Demonstrationen<br />
die Unterstützung der öffentlichen<br />
Meinung mit der Zeit nach. Sie<br />
aber war maßgeblich für die enorme<br />
Aufmerksamkeit für die Bewegung.<br />
Darüber hinaus nahm ihr Präsident<br />
Macron mit Bürgerdebatten und sozialen<br />
Zugeständnissen den Wind<br />
aus den Segeln. WieungestörterseinenWegweitergehen<br />
kann, lässt sich<br />
noch nicht absehen. Vonder schwachen,<br />
überwiegen orientierungslosen<br />
Opposition ist wenig Gegenwind<br />
zu erwarten. Undvon den„Gelbwesten“?<br />
Deren Bewegung wurde so unvorhersehbar<br />
schnell zu einem gesellschaftlichen<br />
und medialen Phänomen,<br />
das weit über die Grenzen<br />
Frankreichs hinaus von sich reden<br />
machte,dass sich eine Prognose darüber<br />
verbietet, ob sie dauerhaft erledigt<br />
ist. Im Herbst stehen heikle Reformen<br />
wie jene der Arbeitslosenund<br />
Rentenversicherung an, welche<br />
den Widerstand neu anzufachen<br />
drohen. Ruhe im Land dürfte erst<br />
einkehren, wenn Macron beweist,<br />
dass seine Politik die wirtschaftliche<br />
und soziale Lage entscheidend verbessert<br />
und die Chancen-Gleichheit<br />
erhöht. Er hat einige Schritte in diese<br />
Richtung gemacht, etwa durch höhereInvestitionen<br />
in die Schulen gerade<br />
in sozialen Brennpunkten, in<br />
Aus- und Weiterbildung.