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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 206 · D onnerstag, 5. September 2019 11<br />
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Berlin<br />
Seit 2012 ist „Hells Angel MC Berlin City“ verboten –und damit auch das Tragen der Kutten.<br />
DPA<br />
Blutige Rache<br />
Im Mordprozess gegen Rocker der Hells Angels hat die Staatsanwaltschaft am 296. Verhandlungstagplädiert. Sie fordert acht Mal lebenslänglich<br />
VonKatrin Bischoff<br />
Es scheint, als würde die<br />
zehn Angeklagten nicht interessieren,<br />
was die beiden<br />
Vertreter der Staatsanwaltschaft<br />
in den Plädoyers fordern. Die<br />
Rocker um Hells-Angels-Boss Kadir<br />
P. kauen demonstrativ auffällig Kaugummi,<br />
sie reden durch das Panzerglas<br />
miteinander, einer putzt die<br />
Scheibe, die ihn von einem seiner<br />
Mitangeklagten trennt. Der nächste<br />
liest gut sichtbar für alle im Schwurgerichtssaal<br />
500 des Landgerichts<br />
die Fußballzeitschrift „11 Freunde“.<br />
Nach fast fünf Jahren Prozessdauer<br />
hat derVorsitzende Richter am<br />
Dienstag überraschend die Beweisaufnahme<br />
im sogenannten Expekt-<br />
Rocker-Mordverfahren beendet und<br />
die Staatsanwaltschaft ihre Plädoyers<br />
gehalten. Am Abend fordert<br />
sie, sieben der zehn Männer wegen<br />
gemeinschaftlichen Mordes an Tahir<br />
Ö., begangen im Wettlokal „Expekt“,<br />
zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu<br />
verurteilen. Für den Rockerboss Kadir<br />
P. plädiert die Staatsanwaltschaft<br />
wegen Anstiftung zum Mord ebenfalls<br />
auf die Höchststrafe. Kassra Z.,<br />
genannt der Perser und Kronzeuge<br />
in dem Prozess, soll für zehn Jahre<br />
hinter Gitter.Bei dem zehnten Angeklagten,<br />
der nicht in Untersuchungshaft<br />
sitzt, sieht die Staatsanwaltschaft<br />
lediglich einen Verstoß gegen<br />
das Waffengesetz.<br />
Es ist der 296. Verhandlungstag in<br />
diesem Mammutverfahren, das sich<br />
damit dem Ende entgegen neigt.<br />
Und das als bisher aufwendigstes<br />
und längstes Rockerverfahren in die<br />
<strong>Berliner</strong> Justizgeschichte eingehen<br />
wird: 346 Zeugen wurden befragt,<br />
weit mehr,als zu Beginn des Prozesses<br />
in den Akten standen. 26 Sachverständige<br />
sagten aus. Jeder Angeklagte<br />
wird von zwei Anwälten vertreten,<br />
die zahlreichen Justizbediensteten<br />
und Polizeibeamten im<br />
und vor dem Verhandlungssaal tragen<br />
kugelsichereWesten.<br />
Es geht um den Mord an Tahir Ö.,<br />
einem Sympathisanten der mit den<br />
Hells Angels verfeindeten Bandidos.<br />
Der 26-Jährige musste offenbar aus<br />
Rache für eine drei Monate zuvor<br />
stattgefundene blutige Auseinandersetzung<br />
vor einer Diskothek am Alexanderplatz<br />
sterben, bei der Tahir Ö.<br />
einen Hells Angel mit einem Messer<br />
schwer verletzt haben soll.<br />
Der Staatsanwalt Christian Fröhlich<br />
sagt, Tahir Ö. sei aus niedrigen<br />
Beweggründen umgebracht worden.<br />
Er habe wegen eines archaischen<br />
Rocker-Ehrbegriffs sterben müssen,<br />
Prozessbeginn: Der Prozess<br />
um den Mord an Tahir Ö. begann<br />
am 14. November<br />
2014 vorder 15. Großen<br />
Strafkammer des <strong>Berliner</strong><br />
Landgerichts. Vorsitzender<br />
Richter der Schwurgerichtskammer<br />
ist Thomas Groß.<br />
der sich in dem Motorclub ausgeprägt<br />
habe. Der Mord sei wie eine<br />
Hinrichtung und ein Akt der Blutrache<br />
gewesen.<br />
Tahir Ö. wusste von der Gefahr.<br />
Der 26-Jährige war bei Bekannten<br />
untergetaucht, er hatte sich eine kugelsichere<br />
Weste besorgt und eine<br />
Schusswaffe. In seiner Lieblingskneipe,<br />
dem Reinickendorfer Wettlokal<br />
„Expekt“ fühlte sich Tahir Ö. sicher.<br />
Das „Expekt“ liegt in den Räumen<br />
einer ehemaligen Bankfiliale,es<br />
ist mit Panzerglas ausgestattet.<br />
Laut Staatsanwalt Fröhlich hatten<br />
13 teils vermummte Männer am 10.<br />
Januar 2014 das Wettlokal „einer<br />
MAMMUT-VERFAHREN<br />
Angeklagte: Zunächst waren<br />
zehn Mitglieder oder Sympathisanten<br />
der Hells Angelas<br />
sowie Rockerboss Kadir P.<br />
wegenMordes an Tahir Ö.<br />
angeklagt. Das Verfahren gegeneinen<br />
Mordverdächtigen<br />
wurde jedoch abgetrennt.<br />
Verhandlung: 296 Verhandlungstagehat<br />
es bisher gegeben.<br />
Es wurden 346 Zeugenbefragt<br />
und 26 Sachverständigegehört.<br />
Verlesen<br />
wurden unter anderem die<br />
Protokolle von150 Stunden<br />
Telefonüberwachung.<br />
Choreografie folgend“ gestürmt. Im<br />
Gänsemarsch liefen sie in das Hinterzimmer,<br />
wo Tahir Ö. Karten<br />
spielte. Esgibt von dem Überfall ein<br />
Video aus einer Überwachungskamera,<br />
das zeigt, wie der erste Mann<br />
des Trupps sofortauf den überraschten<br />
Tahir Ö. zielte. Achtmal drückte<br />
er ab, sechs Schüsse waren tödlich.<br />
Nach 25 Sekunden war das Killerkommando<br />
ebenso geordnet wieder<br />
verschwunden. Tahir Ö. sei zum<br />
Zeitpunkt der Attacke arg- und wehrlos<br />
gewesen, sagt der Staatsanwalt.<br />
Die kugelsichere Weste hing achtlos<br />
über der Stuhllehne. Fröhlich<br />
nannte den Film aus der Überwachungskamera<br />
„die Macht der Bilder“,<br />
die zeigten, dass die Angreifer<br />
durchaus einem vorher gefassten<br />
Plan folgend vorgegangen seien.<br />
Trotz der Vermummung bei dem<br />
Mordanschlag sei es gelungen, die<br />
Täter vom Video zu identifizieren,<br />
sagt der Staatsanwalt. Acht von ihnen,<br />
darunter der Todesschütze Recep<br />
O..säßen auf der Anklagebank.<br />
Zusammen mit dem Mann, der das<br />
Mordkommando „zweifelsfrei befehligt“<br />
habe: der 35-jährige Kadir P. Laut<br />
Fröhlich Kopf des 2012 verbotenen<br />
„Hells Angel MC Berlin City“. Der im<br />
Jahr 2010 von den Bandidos zu den<br />
Höllenengeln ging. Demniemand zu<br />
widersprechen wagte. Der als unangefochtenes<br />
Alphatier galt. Dessen<br />
Worte Gesetz waren. Fünf Beschuldigte<br />
sind noch auf der Flucht.<br />
Fröhlich sprach in dem Plädoyer<br />
auch das imProzess bekanntgewordene<br />
mögliche Versagen der Polizei<br />
an, die Tahir Ö. trotz Hinweisen eines<br />
V-Mannes vor einem Anschlag nicht<br />
gewarnt hatte.Auch bei Kadir P. gab es<br />
keine sogenannte Gefährderansprache.Der<br />
Vorsitzende Richter Thomas<br />
Groß hatte im Juli vergangenen Jahres<br />
einen entsprechenden rechtlichen<br />
Hinweis in demVerfahrengegeben.<br />
Danach sei es möglich, dass Ermittler<br />
Hinweisen auf einen Anschlag<br />
nicht nachgegangen seien,<br />
um anschließend gegen die Rocker<br />
vorzugehen. Dies könne sich auf das<br />
Strafmaß auswirken.<br />
Der Staatsanwalt sieht das nicht<br />
so. Unabhängig von einem möglichen<br />
polizeilichen Fehlverhalten<br />
gebe es keine Grundlage für einen<br />
Strafnachlass. Schließlich habe sich<br />
Kadir P. schon im Oktober 2013 zur<br />
Tatentschlossen. Eine Unterlassung<br />
durch die Polizei habe die Tatbegehnung<br />
nicht erleichtert. Tahir Ö. sei<br />
sich zudem der Gefahr durchaus bewusst<br />
gewesen. Fröhlich sagt, ein<br />
Straftäter dürfe sich auch nicht darauf<br />
verlassen, dass die Polizei eine<br />
Tat verhindere. Die individuelle<br />
Schuld der Angeklagten werdedurch<br />
ein mögliches Versagen der Polizei<br />
nicht geringer.<br />
Der Prozess wird am heutigen<br />
Donnerstag fortgesetzt. Dann sollen<br />
die Anwälte der Familievon TahirÖ.,<br />
die imProzess Nebenkläger ist, sowie<br />
die Verteidiger eines Angeklagten<br />
plädieren. Ein Urteil ist damit in<br />
greifbareNähegerückt.<br />
Katrin Bischoff hat nicht<br />
damit gerechnet, dass der<br />
Prozess sobald endet.<br />
Sozialisten-Pop im Hinterhof<br />
Ein Kleinod in Kreuzberg: Wieaus einem finnischen Kiosk ein Café wurde<br />
VonNikolaus Bernau<br />
Man soll ja grundsätzlich keine<br />
unbezahlte Werbung machen.<br />
Und schon gar nicht Leute anpreisen,<br />
die man mag. Dasvernebelt die<br />
nötige journalistische Distanz. Aber<br />
die Pulla von Anne-Marie von Löw,<br />
die sollte man schon einmal gegessen<br />
haben. Und den Kaffee dazu.<br />
Pulla, das sind kleine finnische<br />
Brötchen aus Hefeteig mit Streuselzucker<br />
drauf und immer mit Kardamon<br />
im Teig. So wie auch die Korvapuusti,<br />
die von Löw im Hinterhof<br />
der Kreuzberger Ritterstraße im<br />
Haus Mykita seit heute genau einem<br />
Jahr anbietet. Es soll gefeiert werden.<br />
Soweit die Lobpreisung. Jetzt die<br />
harte Faktennachricht: Dieser „Kioski“<br />
– in Finnland werden so die<br />
Büdchen genannt, an denen man<br />
von Zeitschriften und <strong>Zeitung</strong>en<br />
über seltsam weiche Gebilde,die als<br />
Wurst gelten, bis zum Schnaps unter<br />
der Theke den Notbedarf erwerben<br />
kann –ist nämlich neben allen<br />
olfaktorischen und zungenschmeichelnden<br />
Innereien auch ein ästhetisches<br />
Meisterwerk, gerettet wortwörtlich<br />
vom Schrotthaufen. Ende<br />
der 1960er-Jahreglaubten Architekten<br />
und Designer in der ganzen<br />
Welt, dass die Zukunft im Kunststoff<br />
läge,insanften Plastikformen.<br />
Einst ein Massengut<br />
Pop-Kultur und Hippies wollten<br />
keine strenge Moderne mehr, suchten<br />
nach dem flexiblen in der Zukunft.<br />
Nichts sollte mehr fest und<br />
stabil sein, alles sich gleich Blumen<br />
im Wind bewegen können. Der jugoslavisch-slovenische<br />
Designer<br />
und Architekt Sasa Mächtig entwarf<br />
K67also als kleinen Pavillon für <strong>Zeitung</strong>s-<br />
und sonstige Verkaufsstände<br />
mit abgerundeten Ecken, knallgelber<br />
Farbe, aufgeständert, sodass etwaige<br />
Straßenschäden nichts ausmachten.<br />
Ein Modulbau, von dem<br />
Das K67-Kiosksystem in der Ritterstraße, NewYorkhat auch eines.<br />
ropas war. Sie standen an Meeresküsten<br />
und an Passagen in den<br />
Städten, hoch in den Bergen und<br />
auch, verbunden zu langen, Perlenkettengleichen<br />
Gebilden, als Ferienhaus.<br />
K67 war der heitere Soziaman<br />
theoretisch unendlich viele<br />
aneinander schrauben kann, der<br />
mit Hubschrauber transportiert<br />
werden konnte.<br />
K67war einst ein Massengut in<br />
den sozialistischen Staaten Osteu-<br />
ARCHIV SAŠA MÄCHTIG<br />
lismus, ein bunter, lustiger Bruder<br />
der öd mattfarbigenen Schuppenästhetik,<br />
die oft das Straßenbild und<br />
den Alltag beherrschten. Aber auch<br />
ein Bruder jener Montagemöbel wie<br />
Lundia, Billy oder Ivar, die seinerzeit<br />
ihren Siegeszug in die Wohnungen<br />
des Westens begannen.<br />
EinExemplar im MoMA<br />
Das K67 besonders in Polen, Ungarn,<br />
der Tschechoslowakei, Bulgarien<br />
und eben inJugoslawien Erfolg<br />
hatte, war wenig verwunderlich: In<br />
diesen Gesellschaften verteidigte<br />
die Bevölkerung auch im Sozialismus<br />
eisern die privaten Freiräume<br />
gegen die Anmaßungen von Staat<br />
und Partei, und sei es mit dem Auflegen<br />
vonnettmodernistischen Häckeldeckchen,<br />
die genau zum roten<br />
Plastegeschirr passten.<br />
Da die Kunststoffoberflächen eigentlich<br />
unkaputtbar sind, nur einige<br />
Pflege benötigen, sogar gut isoliert<br />
werden können, ist K67zueinem<br />
Monument der heiteren Nachkriegsmoderne<br />
zwischen hartem<br />
Funktionalismus und ironischer<br />
Postmoderne geworden.<br />
Er steht im NewVorker Museum<br />
of Modern Art –dass das <strong>Berliner</strong><br />
Kunstgewerbemuseum nicht auch<br />
eine Variation besitzt, zeigt mal wieder,<br />
wie weit voraus amerikanische<br />
Museen oft sind. In Berlin muss<br />
man also in die Ritterstraße gehen,<br />
um dieses Kunstwerk anzusehen.<br />
Und dabei Korvapuusti zu essen.<br />
Die sind übrigens ebenfalls ein finnisches<br />
Hefegebäck. „Backpfeifen“<br />
könnte man den Begriff übersetzen,<br />
was die Sache nicht einfacher<br />
macht.<br />
Warum dieser aggressive Name<br />
angesichts eines sattweichen, buttertriefenden<br />
Zimtschneckchens?<br />
Sicherlich ungesund, so wie die<br />
meisten leckeren Sachen nicht besonders<br />
gesund sind. Aber lecker.<br />
Und sonett anzusehen vor diesem<br />
wohlrestaurierten K67.