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Berliner Zeitung 05.09.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 206 · D onnerstag, 5. September 2019 3<br />

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Seite 3<br />

Hongkonger Herbst<br />

Die Straße brennt: Trotz des Verbots einer Großdemonstration kam es in Hongkong am Wochenende erneut zu Protesten gegen die Regierung.<br />

DPA/KIN CHEUNG<br />

Der Helikopter hängt träge in der<br />

Luft über dem Queensway im<br />

Regierungsviertel von Hongkong.<br />

Es wirkt, als hätte ihn jemand<br />

mit einem Magnet an den Himmel gepinnt.<br />

Angie Te rät, den Schirm aufzuspannen.<br />

Der Regenschirm soll am Jahrestag der<br />

Regenschirmbewegung von 2014 nicht vor<br />

einem Wolkenbruch schützen. „Die haben<br />

Kameras da oben und filmen jeden, der mitmarschiert“,<br />

sagt die 25-jährige Hongkongerin.<br />

Sind es Tausende oder Zehntausende,<br />

die sich Rücken an Rücken die Straße unweit<br />

der Metrostation Admirality entlangschieben?<br />

Keiner wird esheute zählen. Die Demonstration<br />

ist illegal. Die Menschen sind<br />

schwarzgekleidet wie auf einer Beerdigung.<br />

Der Protestzug verharrt auf der Stelle und<br />

alle starren in Richtung der Kreuzung von<br />

Harcourt Road und Tamar Street. Dort, unter<br />

fettigen Rauchschwaden, liegt eine Nebelbank.<br />

Der Geruch von verschmortem Plastik<br />

mischt sich mit etwas Scharfem. Augen und<br />

Kehle brennen noch in Hunderten Metern<br />

Entfernung. In der Finsternis platzen Tränengasgranaten.<br />

Gummigeschosse peitschen<br />

durch den Qualm. DieStraßenschlacht an der<br />

Kreuzung ist hörbar,aber nicht zu sehen. Die<br />

Demonstranten auf dem Queensway halten<br />

kein Banner in die Höhe.Sie rufen keine Slogans.Sie<br />

warten stumm auf ein Signal.<br />

Krieger in schwarzerUniform<br />

Ein Schrei erklingt weit vorne, dort woder<br />

Qualm aufsteigt. Der Zug setzt sich wie eine<br />

Welle aus Beinen, Armen und Regenschirmen<br />

in Bewegung. Für einen Moment<br />

scheint es, als würde sie alles mitreißen und<br />

unter sich begraben. Dann erklingt ein<br />

Sprechchor: „Ein Schritt, zweiter Schritt.“<br />

DerRückzug vorder aus Richtung der Kreuzung<br />

anrückenden Polizei findet seinen Takt.<br />

DieWelle spült Männer und Frauen in die<br />

Shopping Malls entlang des Queensway. Sie<br />

tragen Motorradhelme, Gasmasken, Taucherbrillen,<br />

Wollmützen, eng anliegende<br />

schwarze Kleidung. Ein Mann windet sich<br />

auf dem Marmorboden, keucht und würgt.<br />

Eine Sanitäterin spritzt ihm Wasser ins Gesicht<br />

und versucht, seine Augen zu reinigen.<br />

Te erklärt, dass die Kaufhäuser eine gewisse<br />

Sicherheit böten. DiePolizei meide den Krawall<br />

zwischen den Auslagen von Louis Vuitton<br />

oder Hermès.<br />

Die Jurastudentin hat ihre schwarze Uniform<br />

heute zu Hause gelassen. Sie trägt ein<br />

weißes T-Shirtund unverfängliche Jeans.Sie<br />

will möglichst früh nach Hause und ein paar<br />

Stunden schlafen. Denn dazu wirdsie in den<br />

kommenden 48 Stunden kaum kommen. Te<br />

ist Teil einer Gruppe, die nach jedem Wochenende<br />

für die frisch Verhafteten Anwälte<br />

sucht. Ginge sie in Schwarzwie all die anderen,<br />

könnte sie selbst von der Polizei aufgehalten<br />

und durchsucht werden, sagt sie. Tes<br />

Ziel ist es,dass die festgenommenen Frauen<br />

und Männer so schnell wie möglich einen<br />

Längst geht es bei den Ausschreitungen in Hongkong um mehr als nur ein<br />

umstrittenes Gesetz. Die Demonstranten fordern Freiheit und das Recht<br />

auf Veränderung. Ein friedlicher Dialog zwischen den Protestparteien<br />

scheint immer unwahrscheinlicher<br />

VonCedric Rehman, Hongkong<br />

Rechtsbeistand an ihrer Seite haben. Siebittet<br />

die Anwälte, beim ersten Kontakt mit ihrenKlienten<br />

Fotos zu machen. Sind sie dann<br />

noch unversehrt, ist dokumentiert, dass spätere<br />

Verletzungen nicht bei den Verhaftungen<br />

geschehen sind. Die25-Jährige zeichnet<br />

auch Aussagen von Verletzten in den Krankenhäusernauf.<br />

Siehat eine Erklärung dafür,<br />

warum die Bewegung von 2019 auch nach<br />

drei Monaten ungebrochen scheint, während<br />

den Protesten von 2014 nach demselben<br />

Zeitraum die Puste ausging. „Die Polizei<br />

demütigt Demonstranten und macht uns jedes<br />

Wochenende nur noch wütender. Ich<br />

glaube, die Regierung will das so, damit sie<br />

den Ausnahmezustand verhängen und<br />

China um Truppen bitten kann“, sagt Te.<br />

Die Handschellen, die Prügel, erste Berichte<br />

über sexuelle Übergriffe auf Demonstrantinnen,<br />

all das bezeichnet die Studentin<br />

als„weißenTerror“. EineTagvor dem illegalen<br />

Marsch wurden Anführer der Protestbewegung<br />

von2014 wie Joshua Wong verhaftet. Er<br />

darf nun keine Interviews mehr geben. Auch<br />

das ist für Te der weiße Terror.Warum sich der<br />

Begriff unter Hongkongs Protestierenden eingebürgert<br />

hat, obwohl der Feind im Hintergrund,<br />

die Volksrepublik China, eine rote<br />

Flagge hat, kann sie nicht erklären. Aber der<br />

weiße Terror sei der Grund, warum auf den<br />

Märschen Schwarz getragen wird. Weiß und<br />

Schwarz, das Farbspektrum hat sich in Hongkong<br />

auf den schärfsten Kontrast verengt. Die<br />

Strategie der Protestbewegung beschreibt Te<br />

mit einem Satz, der sich einbrennt.„Entweder<br />

sie hören uns zu oder sie töten uns“, sagt sie.<br />

Anders als 2014 duldet die Bewegung keine<br />

Anführer. Sie organisiert sich in Chatrooms.<br />

Sienutzt das Internet, um den Gegner auszuspionieren.<br />

Steckbriefe von Polizisten kursieren<br />

im Netz. Die Regenschirmbewegung<br />

nannte sich auch „Occupy Central with Love<br />

and Peace“. Rund um die Metrostation Central<br />

liegen immer noch die wichtigsten Institutionen<br />

der Sonderverwaltungszone. Von<br />

„Love“und „Peace“ aber ist keine Spur mehr.<br />

Angie Te berichtet, dass die „Krieger“, wie die<br />

gewaltbereiten Demonstranten in den ersten<br />

Reihen genannt werden und die friedlich<br />

Marschierenden sich einig seien. Die Menge<br />

kleidetsich wie die Militanten, um deren Abtauchen<br />

zu erleichtern und wartet, bis die<br />

Krieger sich in ihr verteilt haben.<br />

Dass viele Hongkonger die Gewalt anders<br />

als 2014 duldeten, erklärt Tedamit, dass die<br />

Regierung die Millionenmärsche zu Beginn<br />

der Proteste einfach ignorierthabe.Erst nach<br />

den ersten Ausschreitungen habe Regierungschefin<br />

Carrie Lam das verhasste Auslieferungsgesetz<br />

auf Eis gelegt. Das Gesetz<br />

hätte Hongkongs Behörden erlaubt, von<br />

China verdächtigte und gesuchte Personen<br />

an die Volksrepublik auszuliefern.<br />

Die angehende Juristin Angie Te findet,<br />

dass nur Demokratien ein Monopol auf Gewalt<br />

zustünde.Bürgernstündeein Rechtauf<br />

Widerstand gegen Unterdrückung zu. Freie<br />

Wahlen ohne Auswahl der Kandidaten durch<br />

Desmond Lau, 17, spricht über die Verzweiflung<br />

der Demonstranten.<br />

CEDRIC REHMAN<br />

Peking,nichts darunter sei als Lösung akzeptabel,<br />

betont die Studentin. Hat Te nicht<br />

eben gesagt, dass Gewalt Lam in die Hände<br />

spiele, den Ausnahmezustand auszurufen<br />

und PekingsTruppen anzufordern?„Ich sehe<br />

keine Alternative dazu, als das zu riskieren.<br />

Lam muss nachgeben“, meint die Studentin.<br />

Sie spricht, als könnte Carrie Lam morgen<br />

freie Wahlen einfach ausrufen. Als wären einer<br />

Regierungschefin, die einer an die Öffentlichkeit<br />

durchgestochenen Tonbandaufnahme<br />

zufolge nicht einmal über ihren eigenen<br />

Rücktritt entscheiden kann, nicht die<br />

Hände gebunden durch Chinas rote Linien:<br />

DenFührungsanspruch der KP und die territoriale<br />

Integrität der Volksrepublik. Einige<br />

Tage später wirdLam dasumstrittene Gesetz<br />

endgültig beerdigen. Te wird die Entscheidung<br />

in einer Sprachnachricht als „nutzlos“<br />

bezeichnen. Vielleicht hätte sie vor drei Monate<br />

noch manchen Demonstrantengenügt,<br />

erklärt sie. „Für niemanden ist das jetzt der<br />

ultimative Deal“, meint die Studentin. Entweder<br />

sie hören uns zu oder sie töten uns,<br />

das hat Angie Te auch gesagt.<br />

Von Donnerstagnachmittag bis Sonnabend<br />

ist die Bundeskanzlerin in China zu<br />

Gast. Kurz vor Beginn der Reise hatten Anführer<br />

der Proteste Angela Merkel um ein<br />

Treffen gebeten. In einem offenen Brief, der<br />

der Bild-<strong>Zeitung</strong> vorliegt, warnt der Aktivist<br />

Joshua Wong vor einer Eskalation der Gewalt.<br />

Bisher antwortet die Bundesregierung<br />

aber lediglich mit Appellen an die Parteien<br />

der Hongkonger Proteste, den Konflikt im<br />

Dialog zu lösen. Doch die Hoffnung auf einen<br />

zielführenden Dialog haben in Hongkong<br />

viele schon aufgegeben.<br />

Der17-jährige Desmond Lau ist einer der<br />

Krieger, indenen Angie Te die Speerspitze<br />

der Demokratiebewegung sieht. Oder er ist<br />

es fast. Lau steht zwar an der Front. Er vermeide<br />

es aber,Straftatenzubegehen, sagt er.<br />

Lau gibt Interviews und lässt sich fotografieren.<br />

Das ist ungewöhnlich für die „Frontliner“<br />

genannten Straßenkämpfer.Lau erklärt<br />

die Wutder Jugend in Hongkong mit immer<br />

schwierigeren Lebensverhältnissen. In einer<br />

Stadt, in denen Menschen viel Geld zahlen<br />

müssen, um wenige Quadratmeter anzumieten,<br />

könnten Unzufriedene die Regierung<br />

nicht wegen verfehlter Wohnpolitik abwählen.<br />

„Wir sind dazu erzogen worden, frei<br />

zu denken. Aber in unserer Stadtkönnen wir<br />

nichts verändern“, sagt er.„Wirsind verzweifelt,<br />

weil wir nicht die Regierung haben können,<br />

die wir wollen. Und die Regierung ist<br />

verzweifelt, weil wir nicht so sind, wie sie uns<br />

haben will.“ Wie die Chinesen, meint er damit,<br />

unfähig persönliche Freiheit zu schätzen.<br />

„Chinesen sind wie Vögel, die in den Käfig<br />

wollen, weil sie Angst vordem Fliegen haben“,<br />

sagt er. Sowill Lau nicht sein. Gleichgültig,<br />

wie hoch eine verzweifelte Regierung<br />

auch den Preisfür das Fliegen noch ansetzen<br />

wird. Auch er bezeichnet die Rücknahme des<br />

Auslieferungsgesetzes einige Tage später als<br />

reines Ablenkungsmanöver Carrie Lams.<br />

DerDeutsche RobertPorsch geht am Morgen<br />

nach dem Aufruhr den Wegzueinem seiner<br />

Lieblingscafés.Esliegt nicht weit entfernt<br />

vonder chinesischenVertretung in Hongkong<br />

unweit der Metrostation Sai Ying Pun. Nach<br />

dem Aufstehen hat Porsch in den Nachrichten<br />

die Bilder gesehen, von dem Blut, das in<br />

der Nacht in der Prince-Edward-Station geflossen<br />

ist und von den brennenden Barrikaden<br />

in der Stadt. Porsch erzählt, dass er wegen<br />

der Gewalt am Wochenende kaum noch ausgehe.Kaumhat<br />

er das gesagt, da umringt eine<br />

Gruppe auf der anderen Straßenseite einen<br />

Mann. Fäuste fliegen, der Mann geht zu Boden<br />

und wird unter Geschrei weggeschleppt.<br />

Porsch murmelt:„Genau das meine ich.“<br />

Die Stadt, indie der Statistiker vor sechs<br />

Jahren zog, sei heute eine andere. Der Optimismus<br />

der Märkte angesichts der wirtschaftlichen<br />

Öffnung Chinas und all jener in<br />

Hongkong, die wie Porsch in der Finanzbranche<br />

arbeiten, sei Verunsicherung gewichen,<br />

meint er. Porsch beunruhigt der Hass<br />

auf beiden Seiten der Barrikaden.<br />

Montags kehrtder Alltag zurück<br />

Nach dem Irrsinn der Wochenenden kehre<br />

montags zwar bisher immer wieder der Alltag<br />

ein, aber die immer wiederkehrenden Bilder<br />

blieben in den Köpfen der in Hongkong lebenden<br />

Ausländer. Noch beschränkten sich<br />

die Auswirkungen auf einzelne Branchen wie<br />

den Tourismus. Aber auch andere europäische<br />

Wirtschaftsvertreter erklärten unter vier<br />

Augen, dass ein instabiles Hongkong seine<br />

Funktion als sicherer Hafenfür die Geschäfte<br />

in derVolksrepublik verliere. Porsch nennt das<br />

„China light“. Ein Hongkong, das nach einer<br />

Intervention Pekings nur noch China pur<br />

wäre, nutzeweder der KP noch dem Rest der<br />

Welt, meint er.Dennoch fehlt es Porsch an Zuversicht,<br />

dass bald Vernunft einkehrt. „Manche<br />

meinen ja, Carrie Lam oder China folgten<br />

irgendeinem Plan. Ich glaube, es herrscht<br />

Chaos,und das finde ich viel erschreckender.“<br />

Vielleicht liegt der Konflikt nicht nur darin<br />

begründet, wie Hongkong regiert wird. Die<br />

Idee einer Hongkonger Nation mit eigener<br />

Kultur vertreten Demonstranten, deren Eltern<br />

oft in den 60ern vor Maos Rotgardisten<br />

in das damalige britische Hongkong geflüchtet<br />

sind. Porsch beschreibt die Hongkonger<br />

als Grenzgänger zwischen westlichen und<br />

chinesischen Werten. „Ich glaube,sie wissen<br />

manchmal selbst nicht, was sie sind“, sagt er.<br />

Wenn es weiterhin nur Schwarzoder Weiß in<br />

Hongkong gibt, wird China diese Frage vielleicht<br />

schon in diesem Herbst endgültig beantworten.<br />

Cedric Rehmann<br />

fürchtet, dass sich die Krise in Hongkong<br />

noch verschärfen wird.

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