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Berliner Zeitung 05.09.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 206 · D onnerstag, 5. September 2019 – S eite 21 *<br />

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Feuilleton<br />

„Original Bauhaus“<br />

in der<br />

Berlinischen Galerie<br />

Seite 22<br />

„Es war ein unfassbar liebevoller und herzlicher Abend.“<br />

Herbert Grönemeyer über sein Konzert in der Waldbühne Seite 23<br />

Exorzismus<br />

Harry Potter<br />

musste weg<br />

Susanne Lenz<br />

über einen Vorgang an einer<br />

katholischen Schule<br />

Umdiese Meldung aus Nashville,<br />

Tennessee,richtig einordnen zu<br />

können, braucht man Vorkenntnisse.<br />

Esgeht dabei um Exorzismus,<br />

von dem manche vielleicht fälschlicherweise<br />

annehmen, dieses Thema<br />

sei in der heutigen Zeit passé. Weit<br />

gefehlt: Im vergangenen Jahr etwa<br />

fand im Vatikan ein Exorzismusseminar<br />

für 250 Priester und Ordensleute<br />

statt. Im Hörsal der Päpstlichen<br />

Universität Apostolorum wurde<br />

Grundlagenwissen vermittelt, unter<br />

den zwei Dutzend Dozenten waren<br />

Theologen, Psychologen, Mediziner<br />

und Juristen. Weltweit stiege die<br />

Nachfrage nach Exorzisten, teilte der<br />

Vatikan damals mit. DieZahl der Hilfesuchenden,<br />

die sich vonDämonen<br />

befreien lassen wollen, habe sich seit<br />

der Jahrtausendwende verdreifacht.<br />

Papst Franziskus selbst hält wie auch<br />

seine Vorgänger den Einsatz von<br />

Exorzisten für unverzichtbar.<br />

Unter den Teilnehmern an diesem<br />

Kurs waren auch Priester aus<br />

den USA. Ob Reverend Dan Reehill<br />

darunter war, ist uns nicht bekannt,<br />

sicher ist aber, dass seine Exorzismuskenntnisse<br />

ihn zu folgender,<br />

nicht sehr populären Entscheidung<br />

bewogen: Auf sein Geheiß hin<br />

musste die St. Edwards Catholic<br />

School in Nashville sämtliche sieben<br />

Harry-Potter-Bände aus der Bibliothek<br />

entfernen. In einer E-Mail an die<br />

Elternerklärte der Priester,der an der<br />

Schule unterrichtet, sein Vorgehen:<br />

„Diese Bücher beschreiben Zauberei<br />

als sowohl gut als auch böse.“ Doch<br />

das sei eine schlaue Täuschung. Die<br />

Zaubersprüche in den Büchernseien<br />

real. Würden sie gelesen, bestehe das<br />

Risiko,dass dadurch böse Geister heraufbeschworen<br />

werden könnten. Er<br />

habe sich dazu mit Exorzisten aus<br />

demVatikan beraten.<br />

Ob andere katholische Einrichtungen<br />

nachziehen? Es scheint sich<br />

bei Reverend Reehill um einen besonders<br />

eifrigen Priester zu handeln.<br />

Eine offizielle Haltung zu den erfolgreichen<br />

Büchern von J. K. Rowling<br />

hat die katholische Kirche jedenfalls<br />

–noch –nicht.<br />

VonArnoWidmann<br />

Der Modefotograf Peter<br />

Lindbergh hat die Branche<br />

revolutioniert.<br />

Gleich mehrfach. Er<br />

brach mit dem Glamour seiner Vorgänger.<br />

Seine Models liefen über die<br />

Straße, sie gingen und tanzten am<br />

Strand. Lindberghs Models waren in<br />

Bewegung. Keine Furcht einflößenden<br />

Statuen wie Helmut Newton sie<br />

liebte, sondern atmende, auch mal<br />

außer Atem geratende, lebendige<br />

junge Frauen.<br />

Damit veränderte er unseren<br />

Blick auf die Frauen. Schönheit<br />

schien nicht mehr das Produkt harter<br />

Arbeit vonVisagist, Designer und<br />

Fotograf zu sein, sie wurde gefunden.<br />

Auf der Straße, imBüro, im Alltag.<br />

Er lehrte uns, sie zu sehen. So<br />

wie er sie entdeckt hatte, ander Art<br />

wie Frauen eine Straße überqueren,<br />

wie sie einander zuwinken, so lehrte<br />

er uns sie in unserem Alltag zu sehen.<br />

Peter Lindbergh hat unsere<br />

Sinne erweitert.<br />

Jedes vonPeter Lindbergh fotografierte<br />

Model hörte auf, eines zu sein.<br />

Er machte sie kenntlich. Es heißt, er<br />

habe das Supermodel erfunden. Das<br />

ist nicht falsch. Aber wichtig ist es,zu<br />

begreifen, wie das geschah. Peter<br />

Lindbergh machte aus Kleiderständern<br />

Personen. Undwir, das die Modezeitschriften<br />

durchblätternde Publikum,<br />

erkannten sie wieder. Als<br />

Lindbergh im Januar 1990 auf das Titelblatt<br />

der britischen Vogue ein Foto<br />

brachte, auf dem sich Naomi Campbell,<br />

Cindy Crawford, Linda Evangelista,<br />

Tatjana Patitz und Christy Turlington<br />

tummelten, da waren sie bereits<br />

Supermodels. Aber sie waren es<br />

erst geworden, nachdem Lindbergh<br />

aus Models Menschen gemacht hat.<br />

Der Humanist Peter Lindbergh<br />

hatte ihnen die Schminke vom Gesicht<br />

gewischt. In einem Interview<br />

mit der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> erklärte er<br />

2015: „Wer möchte schon im Ernst<br />

mit einer dicken Make-up-Schicht<br />

über seiner Haut fotografiert werden?<br />

Man kommt sich doch vor wie<br />

eine Schildkröte. Ich denke, esgibt<br />

nichts Schöneres, als irgendwann<br />

man selbst zu sein und auch so auszusehen.“<br />

Das war die Botschaft seiner Fotografie.<br />

Erlehrte uns, die Person zu<br />

sehen, nicht das Image. Aber durch<br />

Als die Models laufen lernten<br />

Zum Toddes Fotografen und Filmemachers Peter Lindbergh<br />

Peter Lindbergh (1944–2019)<br />

ihn lernten wir auch zu begreifen,<br />

dass man dem Image nicht entkommt.<br />

Man selbst zu sein, wurde<br />

jetzt selbst zum Image,zueinem extrem<br />

lukrativen dazu. So wurden aus<br />

Models mit dem kurzen Durchgang<br />

der Vermenschlichung Supermodels,<br />

die wichtiger wurden als die<br />

Mode, die sie trugen. Nicht weil sie<br />

lebende,atmende Menschen waren,<br />

wie Lindbergh das sich gedacht<br />

hatte, sondern weil ihre „Natürlich-<br />

BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK<br />

keit“ sich als gigantische Wertsteigerungsmaschine<br />

herausstellte. Nicht<br />

allein für die Models,sondernfür die<br />

damals rasant wachsende Mode-Industrie<br />

insgesamt, inklusive der Fotografen<br />

und natürlich auch für Peter<br />

Lindbergh selbst. Als er 1992 einen<br />

Vertrag mit dem amerikanischen<br />

Harper’s Bazaar<br />

unterzeichnete, soll er, soberichtet<br />

Wikipedia, einen siebenstelligen Betrag<br />

kassierthaben.<br />

Unddie andereRevolution? Wieder<br />

ein Bruch mit der Welt der Ikonen,<br />

der statuarisch-schönen Bilder.<br />

Die italienische Vogue ermöglichte<br />

ihm, statt einzelne Modefotos<br />

zu machen, dreißigseitige Foto-Romane<br />

zu erzählen. Storytelling hat<br />

sich inzwischen als Technik der<br />

Markenentwicklung herumgesprochen.<br />

Als Peter Lindbergh Mode in<br />

Alltagsgeschichten verpackte, war<br />

das eine Revolution. Das inItalien<br />

in den 60er-Jahren so überaus erfolgreiche<br />

Genre des Fotoromanzo<br />

gab es schon lange nicht mehr. Es<br />

erschien aber wiedergeboren in<br />

Lindberghs Modestrecken: veredelt<br />

und banalisiert zugleich. Veredelt,<br />

weil Lindberghs Fotografien alles<br />

übertrafen, was die Handwerker des<br />

Fotoromanzo jemals zustande gebracht<br />

haben. Banalisiert aber<br />

auch, denn die Geschichten standen<br />

ja jetzt nicht mehr für sich allein,<br />

sondern sie lieferten Reklame<br />

fürdie Designer.<br />

Peter Lindbergh starb im Alter<br />

vonsieben Jahren. Denn mehr als 65<br />

Jahre lang hat im Pass des 1944 im<br />

heute polnischen Lezno Geborenen<br />

gestanden: Peter Brodbeck. Schon<br />

Anfang der Siebzigerjahre nahm er<br />

den Künstlernamen Lindbergh an,<br />

um nicht mit einem in Düsseldorf<br />

bereits ansässigen Fotografen verwechselt<br />

zu werden.Nach Abschluss<br />

der Volksschule arbeitete er als<br />

Schaufensterdekorateur bei Karstadt<br />

und Horten. Danach studierte er Bildende<br />

Kunst in Krefeld. 1971 machte<br />

er eine zweijährige Ausbildung als<br />

Fotograf. 1976 ging er nach Parisund<br />

startete eine der größten Karrieren in<br />

der Modefotografie des 20. Jahrhunderts.Wer<br />

sich für seine Fotos interessiert,<br />

der sehe sich seine Bücher<br />

bei Schirmer/Mosel und Taschen an.<br />

Er wird überrascht sein, wie viele er<br />

davon kennt. Lindbergh hat auch<br />

Filme gedreht. Über seine Arbeit,<br />

über Pina Bausch, aber auch Experimentelles.<br />

Peter Lindbergh gehörte –auf dieses<br />

„e“ würde ich gerne verzichten –<br />

zu jenen seltenen Menschen, denen<br />

es gelungen zu sein schien, aus dem<br />

Schildkrötenpanzer, indem wir alle<br />

uns verstecken, auszubrechen und<br />

sie selbst zu sein und nicht nur so auszusehen,<br />

sondern auch diesen Anblick<br />

ertragen zu können. Oh, wenn<br />

wir ihm das abgucken könnten!<br />

NACHRICHTEN<br />

Barenboim: Nicht<br />

geschüttelt, nur geschrien<br />

DerDirigent Daniel Barenboim (76)<br />

hat den Vorwurfeines körperlichen<br />

Übergriffs gegen eine Mitarbeiterin<br />

der Staatsoper zurückgewiesen. Er<br />

habe die Orchestermanagerin weder<br />

geschüttelt noch berührt, erklärte<br />

der Generalmusikdirektor der<br />

Staatsoper am Mittwoch in Berlin. Er<br />

sei bereit, dies eidesstattlich zu versichern,<br />

hieß es weiter in der Erklärung<br />

der Staatsoper,die der Deutschen<br />

Presse-Agentur vorliegt. Er<br />

räumte ein, die Mitarbeiterin bei einer<br />

Diskussion angeschrien zu haben.<br />

DieOrchestermanagerin hatte<br />

im Online-Klassikmagazin Vanberichtet,<br />

Barenboim habe sie im März<br />

2018 in der Garderobe der Staatsoper<br />

mit beiden Händen zwischen Schulter<br />

und Hals gegriffen und geschüttelt.<br />

In dem Berichtwarfdie Frau<br />

Staatsoper-Intendant Matthias<br />

Schulz vor, nicht ausreichend auf<br />

ihreBeschwerden reagiertzuhaben.<br />

IhrVertrag an der Staatsoper sei<br />

nicht verlängertworden. (dpa)<br />

Steffen Mensching erhält<br />

den Erich-Fried-Preis<br />

DerSchriftsteller und Theaterleiter<br />

Steffen Mensching, zuletzt mit dem<br />

Roman „Schermanns Augen“ aufgefallen,<br />

erhält den vomösterreichischen<br />

Bundeskanzleramt gestifteten<br />

und vonder internationalen Erich-<br />

Fried-Gesellschaft vergebenen<br />

Erich-Fried-Preis 2019. Ausgewählt<br />

wurde er vonChristoph Hein, der<br />

selbst im Jahr 1990 durch den Literaturwissenschaftler<br />

Hans Mayerzum<br />

ersten Preisträger bestimmt worden<br />

war.Das teilte der Wallstein-Verlag<br />

am Mittwoch mit. (BLZ)<br />

27. Wettbewerb Open Mike<br />

benennt seine Jury<br />

Wiedas Haus für Poesie mitteilt, sind<br />

die Schriftsteller Thomas Meinecke,<br />

Clemens Meyerund Uljana Wolf die<br />

neuen Jurorendes Wettbewerbs für<br />

junge Literatur Open Mike.Indiesem<br />

Jahr wurden fast 600 Texte eingesandt,<br />

aus denen voneiner<br />

Gruppe Lektoren deutschsprachiger<br />

Verlage bis zu 22 Teilnehmer für das<br />

Finale im Heimathafen Neukölln am<br />

9. und 10. November ausgewählt<br />

werden. (BLZ)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Maulfeil<br />

Bis der<br />

Arzt kommt<br />

VonUte Cohen<br />

Hatschi! Gesundheit! Danke, ist nur eine<br />

harmlose Sommergrippe! Zitroneneis<br />

mit Minzeund Ingwer,und schon geht’s wieder<br />

an den See! Die Spätesommergrippe ist<br />

eine Krankheit der harmloseren Art. Wasgegenwärtig<br />

zirkuliert, ist weit schwerer in den<br />

Griff zu kriegen.VonWirtschaftsdepression ist<br />

die Rede, viralem Marketing oder tödlicher<br />

Langeweile.Krankheitsmetaphernüberall!<br />

Eine Diagnose muss her,umder Pathologisierung<br />

der Gesellschaft auf den Grund zu<br />

gehen. Das Phänomen ist nicht neu: Bereits<br />

im Mittelalter verglich man Häretiker mit der<br />

Pest. Zuhauf tauchten Krankheitsmetaphern<br />

erst in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft<br />

auf. Der vereinzelte Mensch greift<br />

gern auf vereinfachte Mechanismen zurück,<br />

im digitalen Zeitalter auch gern auf binäre<br />

Strukturen. Krank oder nicht krank heißt es<br />

dann. Die Krücke der Pathologisierung aber<br />

ist ein notdürftiger Behelf. Es ist, als triebe<br />

man den Teufel mit dem Beelzebub aus: Einerseits<br />

fühlen sich alle krank, andererseits<br />

herrscht eine Wahnsinnsangst vorKrankheiten<br />

vor. Seltsam zumindest, wenn nicht, ups,<br />

schizophren.<br />

Jeder versucht gesund und fit zu sein und<br />

sich selbst zu optimieren. Der Verzicht auf<br />

gesundheitsschädigende Substanzen ist an<br />

der Tagesordnung, Krebserreger werden unentwegt<br />

gejagt. Andererseits pflegt man gern<br />

diffuse Leiden und sucht sich Sympathisanten<br />

in dieser als krank befundenen Gesellschaft.<br />

Weit entfernt sind wir da nicht mehr<br />

von diesem blond-blauäugigen Ideal, das<br />

sich schon einmal krakenhaft durchs Land<br />

gefressen hat. Die Gefahr droht, dass normale<br />

Veränderungsprozesse wie das Altern,<br />

KARL BURKHARD TIMM<br />

Abweichungen von der Norm als krankhaft<br />

betrachtet werden.<br />

Sogar die Deutsche Gesellschaft für<br />

Psychiatrie,Psychotherapie und Nervenheilkunde<br />

(DGPPN) warnt davor, nicht jede Lebenskrise<br />

als eine Erkrankung anzusehen.<br />

Warnen könnte man auch davor,Leid zu privatisieren<br />

und Zuflucht in allerlei Surrogaten<br />

zu suchen. Alkohol ist dein Retter in der Not?<br />

Das Exklusivrecht darauf ist nicht verbrieft.<br />

Es darf nicht nur Gin Tonic sein, auch Jesus<br />

und das gemeinsames Menstruieren im<br />

Mondschein stehen auf dem Plan. DieEsoterikbranche<br />

hat für jedes kränkelnde Menschlein<br />

etwas parat, von Getränkeherstellern<br />

und Pillendrehernganz zu schweigen.<br />

Statt Wunderwassern aller Art sollten wir<br />

es vielleicht mit der Neubenennung des Phänomens<br />

versuchen. Infirmitas ist im Lateinischen<br />

mehr als Krankheit, das Wort bezeichnet<br />

auch Ohnmacht. Ohnmacht aber ist<br />

nicht weit entfernt von Selbstermächtigung.<br />

Psychosoziales Elend ist im Kant’schen Sinne<br />

Ausdruck einer Unmündigkeit. Wollen wir<br />

unseren Politikern wirklich die Macht zusprechen,<br />

uns „mit Chloroform einzusprühen“,<br />

bis große Teile der „Population in eine<br />

Art Halbschlaf versinken“ (NZZ)? Wollen wir<br />

der Langeweile die Wirkung eines Sedativums<br />

zusprechen, einer tödlichen Waffe?<br />

Zunge raus und Asagen, ganz laut, bitte!<br />

Die zunehmende Pathologisierung gesellschaftlicher<br />

Veränderungen verstärkt Unmündigkeit<br />

und Handlungsunfähigkeit. Wer<br />

krank ist, kann nicht klar denken und erwartet,<br />

dass es der Arzt und ein paar Medikamente<br />

schon richtenwerden. Sedierungund<br />

Betäubung gehören mit in das Sprachregister.<br />

Diese bösen, unklaren Politiker-Miasmen!<br />

Frische Luft schnappen und ’ne Runde<br />

um den Block drehen, rät Doc Cohen! Dann<br />

klärtsich vieles auf!

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