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Berliner Zeitung 06.09.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 207 · F reitag, 6. September 2019 – S eite 21 *<br />

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Feuilleton<br />

PetraAhne über<br />

Ai Weiweis neue<br />

Ausstellung in Berlin<br />

Seite 23<br />

„Denn die Weltzeituhr ist nicht nur eine Vision.“<br />

Die Schriftstellerin Svenja Leiber entdeckt in der deutschen Hauptstadt Ähnlichkeiten mit Damaskus Seite 22<br />

Wendegedichte<br />

Zweisprachig<br />

aufgewachsen<br />

Cornelia Geißler<br />

hörte Dichtern<br />

beim Erinnernzu<br />

Die Stimmung ist sommerabendlich<br />

leicht, das Publikum<br />

freundlich den Auftretenden zugewandt.<br />

Der aus Bremen stammende<br />

Dichter Lutz Steinbrück fühlt sich ermuntert,<br />

vor seiner Lesung ein bisschen<br />

zu erzählen. Als Kind sei er<br />

manchmal bei Verwandten in Leipzig<br />

gewesen, und deshalb habe er<br />

später weniger Schwierigkeiten gehabt,<br />

diese Menschen zu verstehen.<br />

Wie er über die Ostdeutschen<br />

spricht, das klingt ähnlich dem, wie<br />

über Migranten geredet und geschrieben<br />

wird: Wer den direkten<br />

Kontakt mit Zugewanderten gewohnt<br />

sei, der habe heute auch weniger<br />

Berührungsängste mit Flüchtlingen,<br />

sagen die Soziologen. Für<br />

Mittwochabend hatte das Literaturhaus<br />

in Charlottenburg zu einem<br />

deutsch-deutschen Lyrikabend geladen.<br />

Zehn Dichter,fünf mit Ost-, fünf<br />

mit West-Geburtsort, waren gebeten,<br />

sich auf Gedankenreise in ihre<br />

Stimmung von1989 zu begeben.<br />

Mirko Bonné, im oberbayrischen<br />

Tegernsee geboren, erinnert sich an<br />

seine Großmutter: „Es klang wie<br />

,Herzgebüsch‘, wenn/ meine Großmutter<br />

erzählte von den/ ,Sommerferchen‘<br />

da, im Erzgebirge“. Er setzt<br />

die Dialektworte klangvoll zwischen<br />

sein klares Hochdeutsch. Die „Frocherei“<br />

über „domols“ und den<br />

„Kriech“ sei die Großmutter manchmal<br />

leid gewesen. „Vielleicht wurde<br />

ich Übersetzer, um/ sie zu verstehen“,<br />

heißt es in seinem Gedicht.<br />

Bonné schreibt nicht nur selbst, sondern<br />

überträgt auch zum Beispiel<br />

Emily Dickinson, John Keats und<br />

William Butler Yeats ins Deutsche.<br />

Noch dreißig Jahrenach der friedlichen<br />

Revolution brauchen wir jede<br />

Menge Ost-West-Übersetzungshilfe,<br />

wie die Wochen um die Landtagswahlen<br />

herum gezeigt haben. Manches<br />

ist vielleicht nur zu schnell dahingesagt.<br />

Diese Gedichte sind es<br />

nicht. Das Literaturhaus hat ein<br />

Büchlein zu dem Abend gemacht. Es<br />

heißt „Wir sind ein Volk?!“ Vielleicht<br />

verschwinden irgendwann die widersprüchlichen<br />

Satzzeichen.<br />

Gefühltes Wissen<br />

Wasdie Vorwürfe gegen Plácido Domingo, Daniel Barenboim und Christoph Metzelder trennt und verbindet<br />

VonPetraKohse und Harry Nutt<br />

Drei Nachrichten aus diesen<br />

Tagen:<br />

Gegen den Opernsänger<br />

und Dirigenten<br />

Plácido Domingo sind neue Vorwürfe<br />

der sexuellen Belästigung erhoben<br />

worden. Gegenüber der<br />

Nachrichtenagentur AP haben elf<br />

Frauen von Übergriffen und Belästigungen<br />

durch Domingo berichtet.<br />

Zu ihnen gehörtlaut AP die Sängerin<br />

Angela Turner Wilson, die bei einer<br />

Inszenierung an der Washingtoner<br />

Oper in der Spielzeit 1999/2000 auf<br />

ihn getroffen sei. Kurz vor einer Aufführung<br />

habe der Sänger, der zu der<br />

Zeit künstlerischer Leiter der Oper<br />

war, ihr plötzlich in den Ausschnitt<br />

gefasst. „Es tat weh, er hat fest zugepackt“,<br />

wird Wilson zitiert. Ferner<br />

berichtet eine Mitarbeiterin der<br />

Opern von Los Angeles und Houston,<br />

dass man hinter den Kulissen<br />

ohnehin seit geraumer Zeit komplexe<br />

Strategien entwickelt habe,um<br />

Domingo von bestimmten Sängerinnen<br />

fernzuhalten. Man habe darauf<br />

geachtet, keine Frauen in seine<br />

Garderobe zu schicken.<br />

Neue Vorwürfe sind inzwischen<br />

auch gegen Daniel Barenboim, den<br />

Generalmusikdirektor der Staatsoper<br />

Unter den Linden, erhoben<br />

worden. Eine Orchestermanagerin<br />

hatte im Online-Klassikmagazin Van<br />

behauptet, Barenboim habe sie im<br />

März 2018 in der Garderobe der<br />

Staatsoper mit beiden Händen zwischen<br />

Schulter und Hals gegriffen<br />

und geschüttelt, was Barenboim in<br />

einer Stellungnahme vom Mittwoch<br />

jedoch bestritt. Er habe sich bei der<br />

Mitarbeiterin dafür entschuldigt,<br />

dass er sie angeschrien habe.Erhabe<br />

sie aber „kategorisch nicht geschüttelt<br />

oder anderweitig berührt“.<br />

Ein dritter öffentlich mit großer<br />

Aufmerksamkeit bedachter Vorgang<br />

betrifft den früheren deutschen Fußball-Nationalspieler<br />

Christoph Metzelder.<br />

Gegen den 38-Jährigen wird<br />

wegen des Verdachts der Verbreitung<br />

von Kinderpornografie ermittelt.<br />

Das hatte die Staatsanwaltschaft<br />

HamburgamMittwoch bestätigt.<br />

Dies sind drei sehr unterschiedliche<br />

Fälle,die durch ihr bloßes zeitliches<br />

Zusammentreffen in einen Zusammenhang<br />

gezwungen werden,<br />

nicht zuletzt an dieser Stelle.Was sie<br />

Das Schlüsselloch ist riesig,das Licht grell.<br />

IMAGO IMAGES<br />

aber eint, ist die Prominenz der Betroffenen.<br />

In allen drei Fällen sind inzwischen<br />

Anwälte und Berater damit<br />

betraut, den Informationsfluss zu<br />

kanalisieren.<br />

Während bei Metzelder Polizei<br />

und Staatsanwaltschaft ermitteln,<br />

sind oder waren mit den Vorwürfen<br />

gegen Barenboim und Domingo<br />

auch die künstlerischen Einrichtungen<br />

damit befasst, die Folgen<br />

abzuschätzen und zur Aufklärung<br />

beizutragen. Denn neben der Frage<br />

nach strafrechtlicher Relevanz geht<br />

es dabei auch um den gesellschaftlichen<br />

Ruf von Personen und Institutionen.<br />

Undwer ein wenig ehrlich ist mit<br />

sich selbst, wird nicht abstreiten,<br />

dass er doch gernetwas genauer wissen<br />

möchte, was an den Vorwürfen<br />

dran ist, obwohl es geboten wäre, zunächst<br />

in aller Ruhe die zuständigen<br />

Instanzen ermitteln zu lassen. Ganz<br />

in diesem Sinne hatte Wolfgang Kubicki,<br />

der stellvertretende Bundesvorsitzende<br />

der FDP, in der ARD-<br />

Talkshow „Maischberger“ argumentiert:<br />

Die Berichterstattung einiger<br />

Boulevardmedien zögen Metzelder<br />

„die Schuhe aus“, sagte Kubicki und<br />

verwies auf die Unschuldsvermutung.<br />

Die Staatsanwaltschaft habe<br />

schließlich nur einen Anfangsverdacht.<br />

Die zunächst vorsichtig-kühle<br />

und wohl auch juristisch gebotene<br />

Haltung bewahrte Kubicki aber nicht<br />

davor, anschließend ein bisschen zu<br />

spekulieren. Er habe Metzelder<br />

mehrfach getroffen und auch, wenn<br />

das nicht reiche,wie er zugab,umjemanden<br />

wirklich zu kennen, betonte<br />

er: „Das würde mich sehr wundern,<br />

wenn der tatsächlich auf Kinderpornografie<br />

steht.“<br />

Es soll hier natürlich nicht darum<br />

gehen, die Urteilskraft des Politikers<br />

Kubicki infrage zu stellen. Vielmehr<br />

wirdandessen Einschätzung ein Reflex<br />

deutlich, der sich tief in die öffentliche<br />

Wahrnehmung eingenistet<br />

hat. Wenn es um Fragen der sexuellen<br />

Gewalt geht, scheint es seitens<br />

Außenstehender kaum noch möglich,<br />

Zurückhaltung zu üben. Denn<br />

obwohl auch Kubicki allgemein so<br />

etwas wie einen Zusammenhang<br />

zwischen juristischer und sozialer<br />

Vernunft angemahnt hat, konnte er<br />

persönlich trotzdem doch nicht widerstehen,<br />

sein Bild von der Person<br />

mit den neuen Vorwürfen abzugleichen.<br />

Angesichts einer forcierten medialen<br />

Dynamik sitzt inzwischen jeder<br />

nicht nur in der ersten Reihe,<br />

sondernkommt vondortschon routinemäßig<br />

als Experte mit auf die<br />

Bühne, um sein gefühltes Wissen<br />

zum Maß der Dinge zu machen. In<br />

einer gesellschaftliche Atmosphäre,<br />

in der die Hysterie des ständigenVerdachts<br />

herrscht und die in Nischenöffentlichkeiten<br />

liebevoll gepflegt<br />

wird, wächst auch das Misstrauen<br />

gegenüber den ermittelnden Instanzen.<br />

Der israelische Schriftsteller<br />

Sami Berdugo (siehe <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />

vom 3.September) hat darauf<br />

hingewiesen, dass die populistische<br />

Annäherung der Herrschenden<br />

an das Volk bei diesem den fatalen<br />

Umkehrschluss provoziert,<br />

auch selbst über unbegrenzte Deutungshoheit<br />

zu verfügen. Wo aber<br />

das Versprechen zu gelten scheint,<br />

dass alles vollständig und sofortgeliefert<br />

werden muss, stellt die Notwendigkeit<br />

einer nüchternen Aufklärung<br />

fast eine narzisstische<br />

Kränkung dar.<br />

NACHRICHTEN<br />

Dresdner Albertinum zeigt<br />

Kunst zum Mauerfall<br />

30 Jahrenach der friedlichen Revolution<br />

in der DDR zeigt das Dresdner<br />

Albertinum Werkevon drei Künstlernzum<br />

Thema Mauerfall. DerTitel<br />

der Ausstellung bezieht sich auf ein<br />

Zitat des damaligen Politbüromitgliedes<br />

Günter Schabowski, der mit<br />

einem Halbsatz den Fall der Mauer<br />

auslöste: „Das tritt nach meiner<br />

Kenntnis …ist das sofort…unverzüglich.“<br />

Wiedie Staatlichen Kunstsammlungen<br />

Dresden am Donnerstag<br />

mitteilten, werden die Arbeiten<br />

vonVia Lewandowsky,Henrike Naumann<br />

und MarioPfeifer ab 10. September<br />

bis zum Jahresende im Lichthof<br />

des Albertinum ausgestellt. Von<br />

Pfeifer ist ein neunstündiges Video<br />

aus Interviews mit Ostdeutschen zu<br />

sehen. (dpa)<br />

Spanien nominiert<br />

Almodóvar für den Oscar<br />

Spanien schickt PedroAlmodóvars<br />

Drama „Leid und Herrlichkeit“ ins<br />

Rennen für den Oscar als bester<br />

nicht-englischsprachiger Film. Dies<br />

teilte die spanische Filmakademie<br />

am Donnerstag auf Twitter mit. Der<br />

69-Jährige ist bereits zweifacher Oscar-Gewinner<br />

(mit „Alles über meine<br />

Mutter“ und „Sprich mit ihr“). „Leid<br />

und Herrlichkeit“ (im Original „Dolor<br />

yGloria“) ist einer der persönlichsten<br />

Filme Almodóvars. (dpa)<br />

Anzeige<br />

Morgen präsentiert sich<br />

Ihnen in dieser <strong>Zeitung</strong>:<br />

Späte Ehre für den<br />

Sänger Jackie Wilson<br />

DerUS-Sänger Jackie Wilson, bekannt<br />

geworden durch Hits wie<br />

„Whispers“ und „Lonely Teardrops“,<br />

hat am Mittwoch auf dem „Walk of<br />

Fame“ in Hollywood posthum eine<br />

Sternenplakette erhalten. Der1934<br />

in Detroit geborene Sänger ist 1984<br />

gestorben. (dpa)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Rom &Peter<br />

Wunder<br />

mit Wasser<br />

VonPeter Wawerzinek<br />

Als Julia Trolp sich einem Brunnen zuwendet,<br />

aus dem Wasser sprudelt und ihn<br />

mit beiden Händen wie einen lieben kleinen<br />

Gnom tätschelt, bahnt sich die erste Entdeckung<br />

in Rom an. Da sind wir auf unserem<br />

Rundgang noch gar nicht so weit von der<br />

Villa Massimo entfernt an der Außenmauer<br />

unterwegs, und bilden eine Gruppe um den<br />

Wasserspender. Obseiner Form, Länge und<br />

Krümmung Nasone genannt, was so viel wie<br />

Riesenzinken heißt.<br />

Unser deutsches Wort heißt auf Italienisch<br />

also mit. Dashaben die Römer mit den<br />

<strong>Berliner</strong>n gemein, jede städtische Neuerung<br />

bekommt prompt den passenden Kosenamen<br />

verpasst. Vonmir ein Zweizeiler dazu:<br />

Berlin hat jetzt einen Fernsehturm, dagegen<br />

ist der Mensch ein Wurm.<br />

Ich werde euch jetzt zeigen, wie man aus<br />

diesem Brunnen trinkt, sagt Julia. Beugt sich<br />

herunter, hält die flache Hand unter die<br />

Tülle.Wasser sprudelt in ihreHandfläche,an<br />

ihr vorbei zu Boden. Ich denke, sie will uns<br />

nicht etwa vorführen wie jedermann die<br />

Hand unter einen Wasserstrahl hält, mit<br />

Wasser füllt, an den Mund führt, den Durst<br />

stillt? Dann aber drückt sie die Öffnung des<br />

Rohrs einfach zu. Und, welch ein wirkliches<br />

Wunder! Einkleiner Strahl schießt im Pinkelbogen<br />

aus einem kleinen, etwas höheren<br />

Extraloch des Krummrohrs. Sie öffnet ihren<br />

Mund, bringt ihn über den Strahl, nimmt<br />

Wasser in sich auf. Davon habe ich vorher<br />

nichts gewusst.<br />

Es treibt mich zur Nasone hin, aus der Nebenhöhle<br />

zu trinken. Mitdiesem Schluck bin<br />

ich in Rom angekommen. Er ist eine Initialzündung.<br />

Ich bin überrascht worden, habe<br />

KLAUS ZYLLA<br />

ernsthaft kurz staunen müssen. Nun ist mir<br />

nicht mehr bange vor Stadt und Aufenthalt<br />

über Monate hier.Alle meine Ausflüge werde<br />

ich tätigen, mich an meinen Arbeitsplan halten.<br />

Wenn dabei hin und wieder solch sanft<br />

erschütternde Entdeckungen zu machen<br />

sind, werde ich nicht grollen wie einst Rolf<br />

Dieter Brinkmann seine Unzufriedenheit<br />

überallhin verspritzt hat.<br />

Gut. DerArmewar allein und auf sich gestellt,<br />

zudem vergeblich und schwer verliebt.<br />

Eine stressige Beziehung, die vorallem in seinem<br />

Hirn geisterte,mit der Realität nichts zu<br />

tun hatte.Was aber auch nur ansatzweise das<br />

Ungemach zu erklären hilft, wieso sich der<br />

ansonsten doch feine Mensch hier wie irre<br />

aufgeführtund alle nur genervt hat?<br />

Andrea und ich teilen uns das Wohnstudio<br />

neben dem seinen und sind darauf gespannt,<br />

was für Brünnlein bei uns zu sprudeln<br />

beginnen. Beim ersten Einkauf bekommen<br />

wir gelehrt, wie viel heftiger als jeder<br />

Brinkmann’sche Groll das Wetter mit Rom<br />

umgeht. Das gewaltige Gewitter zu unserer<br />

Begrüßung erleben wir hinter der sicheren<br />

Glasfront. Weiß vorAngst werden die Regentropfen<br />

quer über Bürgersteige, Straßenpflaster<br />

und den nahen Platz gegen die Fassaden<br />

gefegt. Es donnert, kracht im Karton.<br />

Die Stadt, ist vollkommen in den Griff von<br />

dieser Riesenwaschanlage genommen, widerstandslos.<br />

Urkräfte, die einmal nur kurz<br />

aufblitzen und sich darstellen. Dann lässt<br />

das Spektakel auch schon rapide nach. Der<br />

Regen fällt wie überall auf der Welt wieder<br />

brav vonoben herab.Der Regen hörtauf.Das<br />

Leben nimmt seinen weiteren Verlauf.<br />

Wir schleppen den Einkauf nach Hause,<br />

sprich in dieVilla. Seltsam der Mensch, sage<br />

ich.Wierasch er am fremden Ortvon seinem<br />

Zuhause faselt, obwohl er doch weiß, dass<br />

wir alle nur kurzzuGast auf Erden sind.

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