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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 207 · F reitag, 6. September 2019 5<br />
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Politik<br />
Seit Wochen wüten Tausende Feuer im Amazonasgebiet und den angrenzenden Steppengebieten. Allein im August verbrannten 29 944 Quadratkilometer,das entspricht einer Fläche von 4,2 Millionen Fußballfeldern.<br />
DPA/CHRISTIAN NIEL BERLINCK<br />
Kurz vor zu spät<br />
Beim Amazonas-Gipfel in Kolumbien wollen Südamerikas Staatschefs beraten, wie der Regenwald zu retten ist. Der brasilianische Präsident kommt nicht<br />
VonKlaus Ehringfeld, Bogota<br />
Was ist zu tun, damit der<br />
Amazonas-Regenwald<br />
auch in Zukunft als<br />
grüne Lunge der Welt<br />
erhalten bleibt? Wie sind die vor allem<br />
menschgemachten Zerstörungen<br />
zu stoppen, wie Ausbeutung und<br />
Schutz dieser einmaligen Biosphäre<br />
in Einklang zu bringen? Um all das<br />
soll es an diesem Freitag auf dem<br />
Amazonas-Gipfel im kolumbianischen<br />
Leticia gehen. Kein Ort wäre<br />
besser geeignet dafür als die Amazonas-Metropole<br />
im Dreiländereck Kolumbien,<br />
Brasilien und Peru. Leticia<br />
zeigt symbolisch, dass die Vernichtung<br />
des Regenwaldes keine nationale<br />
Angelegenheit ist, wie Brasiliens<br />
Präsident Jair Bolsonaro behauptet.<br />
Amazonien geht mindestens ganz<br />
Südamerika etwas an. Zwar liegen 58<br />
Prozent seiner Wälder in Brasilien,<br />
aber auch Peru (13 Prozent), Kolumbien<br />
(zehn Prozent), Bolivien (acht<br />
Prozent), Venezuela mit sechs Prozent<br />
sowie Ecuador, Surinam, Französisch-Guayana<br />
und Guyana mit<br />
kleineren Teilen haben ein riesiges<br />
Interesse daran, dass die galoppierende<br />
Zerstörung des Urwaldes gestoppt<br />
wird.<br />
Dementsprechend hat Kolumbiens<br />
Präsident Iván Duque die Präsidenten<br />
der Anrainer-Staaten zu dem<br />
Gipfeltreffen geladen, nur Venezuelas<br />
Machthaber Nicolas Maduro<br />
bleibt außen vor.<br />
Wie wichtig zum Beispiel für den<br />
Gastgeber schnelle Schutz-Maßnahmen<br />
sind, hat Duque verdeutlicht: 35<br />
Prozent des Landes sind Amazonas-<br />
Tropen. Und nach Brasilien ist Kolumbien<br />
das Land mit der größten<br />
Biodiversität auf der Welt. „Jedermann<br />
ist klar, dass die Welt die Herausforderungen<br />
des Klimawandels<br />
annehmen muss,der unsereWasserquellen,<br />
Flüsse und auch unsere<br />
Ökosysteme gefährdet.“<br />
Absurd, abwegig, chauvinistisch<br />
An diesem Punkt steht Duque in klaremWiderspruch<br />
zum irrlichternden<br />
brasilianischen Staatschef, dem er<br />
sonst politisch sehr nahe ist. Bolsonaro,<br />
der diesen Gipfel auf dem Höhepunkt<br />
der Kritik an ihm in den vergangenen<br />
Wochen selbst anregte, bleibt<br />
ihm aus medizinischen Gründen nun<br />
aber fern. Eine weitere Operation sei<br />
unaufschiebbar, behauptet er. Der<br />
Präsident leidet noch unter den Folgen<br />
einer Messerattacke auf ihn während<br />
des Wahlkampfes im vergangenen<br />
Jahr.Erwolle sich aber per Videokonferenz<br />
zuschalten, kündigte Bolsonaroan.<br />
Es klang wie eine Drohung.<br />
Man kann davon ausgehen, dass<br />
seine Kollegen die Abwesenheit des<br />
Brasilianers gut verschmerzen. Zu<br />
absurd, zu abwegig, chauvinistisch<br />
und von Nichtwissen geprägt sind<br />
Brände im<br />
Amazonasgebiet<br />
in den vergangenen<br />
48 Stunden<br />
Amazonasregion<br />
Pazifik<br />
KOLUMBIEN<br />
PERU<br />
Die Abholzung des<br />
brasilianischen Regenwaldes<br />
Jährlich gerodete Fläche in Quadratkilometer<br />
und jeweils amtierender Präsident<br />
30 000<br />
25 000<br />
20 000<br />
15 000<br />
10 000<br />
5000<br />
29 059<br />
seine Einlassungen in der Amazonasdebatte.Erst<br />
verneinte er die ungewöhnlich<br />
hohe Zahl der Brände in<br />
seinem Land, dann behauptete er,<br />
regierungsunabhängige Organisationen<br />
hätten sie gelegt, um ihm zu<br />
Amazonas<br />
BOLIVIEN<br />
27 772<br />
500 km<br />
BRASILIEN<br />
Brasília<br />
São Paulo<br />
Atlantik<br />
0<br />
88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12 14 16 1819<br />
Sarney Mello Franco Cardoso Lula da Silva Rousseff Temer<br />
rechtsgerichtet linksgerichtet<br />
Bolsonaro<br />
BLZ/GALANTY; QUELLE: INPE, AFP, FIRMS<br />
schaden, und zuletzt verhängte er<br />
ein zweimonatiges Verbot der<br />
Brandrodungen, das er dann umgehend<br />
wieder aufweichte. Ohne Bolsonaro<br />
gibt es tatsächlich Chancen<br />
auf das, was Kolumbiens Außenmi-<br />
nister Carlos Holmes Trujillo eine<br />
„convocatoria global“ nennt. Eine<br />
Art„globale Ausschreibung“, die von<br />
Leticia aus in die Welt gehen soll, um<br />
Amazonien zu retten.<br />
Derkritische „Tipping-Point“<br />
Denn die mehr als einhunderttausend<br />
großen und kleinen Feuer, die<br />
sich in diesem Jahr im Amazonas-<br />
Becken entzündet haben, können<br />
schwereAuswirkungen auf das Weltklima<br />
haben. Allein im August verbrannten<br />
29 944 Quadratkilometer,<br />
die einer Fläche von 4,2 Millionen<br />
Fußballfeldern entsprechen. Experten<br />
zufolge nähert sich der Amazonas-Regenwald<br />
bedenklich schnell<br />
dem sogenannten Tipping-Point<br />
von20Prozent Abholzung an. Dasist<br />
die Schwelle, über welcher sich der<br />
Regenwald nicht mehr selbst regenerieren<br />
kann und sich für „zwei bis<br />
drei Generationen in eine Savannen-<br />
Landschaft“ verwandelt, wie Oliver<br />
Salge, Amazonas-Experte von<br />
Greenpeace Brasilien sagt.<br />
In allen neun Amazonas-Anrainer-Staaten<br />
seien bisher 15 bis 17<br />
Prozent des Waldes verschwunden,<br />
aber gerade Brasilien steht ganz<br />
kurz vor dem Tipping-Point. „Vor<br />
unseren Augen wird der Amazonas<br />
weggebrannt und abgeholzt“, warnt<br />
Salge. Und Präsident Bolsonaro<br />
ziehe die unbequemen Wahrheiten<br />
ins Lächerliche.<br />
Tatsächlich fühlen Goldsucher,<br />
Sojabauern, Viehzüchter, Holzfäller<br />
und Kraftwerksbetreiber, all diejenigen,<br />
denen die wirtschaftliche Nutzung<br />
des Regenwaldes wichtiger ist<br />
als die Verhinderung des Klimawandels,<br />
politische Rückendeckung für<br />
ihr Tun. Dasgilt für den ultrarechten<br />
Brasilianer Bolsonaroebenso wie für<br />
den linken Präsidenten Evo Morales<br />
in Bolivien. In Lateinamerika mögen<br />
die Präsidenten rückwärtsgewandt<br />
oder fortschrittlich sein, aber grün<br />
sind sie eigentlich nie.Umweltpolitische<br />
Notwendigkeiten werden wirtschaftlichen<br />
Erwägungen stets untergeordnet.<br />
Brasilien und Bolivien<br />
sind die beiden Staaten Lateinamerikas,<br />
in denen in den vergangenen<br />
Jahren der größte Raubbau am Amazonas<br />
betrieben wurde.<br />
Daher muss von Leticia ein Zeichen<br />
ausgehen, dass der Umwelt<br />
künftig der Vorrang vor der wirtschaftlichen<br />
Ausbeutung in der grünen<br />
Lunge der Welt einzuräumen<br />
ist. Es muss ein länderübergreifender<br />
Verhaltenskodex erarbeitet werden,<br />
an den sich alle Staaten zu halten<br />
haben. Das wäre ein erster<br />
Schritt.<br />
Klaus Ehringfeld hat sich<br />
selbst ein Bild vomRaubbau<br />
am Amazonas gemacht.<br />
Der Spiegel hatte die AfD schon<br />
vor den Landtagswahlen in<br />
Brandenburg und Sachsen zur<br />
„neuen Volkspartei im Osten“ ausgerufen.<br />
Das Ergebnis beider Wahlen<br />
wurde dann von vielen Medien und<br />
politischen Akteuren im Spiegel’schen<br />
Sinne so interpretiert, als ob<br />
tatsächlich große Teile des Volkes in<br />
Brandenburg und Sachsen der AfD<br />
ihreStimme gegeben hätten. Auch in<br />
dieser <strong>Zeitung</strong> war zu lesen „Fast ein<br />
Viertel in Brandenburg hat AfD gewählt.“<br />
Doch diese Zahl bezieht sich<br />
nur auf diejenigen, die auch an der<br />
Wahl teilgenommen haben.Vonallen<br />
Wahlberechtigten in Brandenburg<br />
hat jedoch nur eine Minderheit von<br />
14 Prozent die AfD gewählt. Dieübergroße<br />
Mehrheit von 86Prozent aller<br />
Wahlberechtigten in Brandenburg<br />
aber wollte mit der AfD nichts zu tun<br />
haben: 47 von 100 Wahlberechtigten<br />
haben eine der anderen Parteien, 39<br />
gar nicht gewählt. Damit ist die AfD<br />
allein zahlenmäßig noch keine Volkspartei.<br />
Unabhängig von der immer<br />
noch eher geringen Zahl der Wähler<br />
fehlt der AfD aber auch ein entscheidendes<br />
Merkmal einer Volkspartei,<br />
nämlich dass heterogene Wählergruppen<br />
mit durchaus unterschiedli-<br />
Die AfD ist auch in Brandenburg keine Volkspartei<br />
chen Interessen und Werten so gebündelt<br />
werden, wie es den früheren<br />
Volksparteien SPD und CDU gelungen<br />
war,die zeitweise von40oder gar<br />
mehr Prozent aller Wahlberechtigten<br />
gewählt wurden. Die AfD-Wähler<br />
hingegen sind eine weitgehend homogene,<br />
überwiegend von Männern<br />
getragene verschworene Gemeinschaft,<br />
die großes Misstrauen gegenüber<br />
allen anderen Menschen, das<br />
Gefühl subjektiver Benachteiligung<br />
gepaart mit extrem pessimistischen<br />
Wirtschaftserwartungen, eine Verachtung<br />
des gesamten politischen<br />
Systems und eine große Anfälligkeit<br />
für völkisches Gedankengut eint.<br />
Anders als in der Berichterstattung<br />
nach der Wahl dargestellt, hat die AfD<br />
bei den Landtagswahlen auch keine<br />
neuen Wähler gewonnen. Im Gegenteil:<br />
Im Vergleich zur zwei Jahre zurückliegenden<br />
Bundestagswahl 2017<br />
erhielt sie sogar bei den Landtagswahlen<br />
in beiden Ländern weniger<br />
Stimmen. 2017 hatten in Brandenburg<br />
und Sachsen zusammen<br />
1012 000 Wahlberechtigte AfD oder<br />
NPD gewählt. 2019 sank die Zahl der<br />
Wähler der „rechten“ Parteien um<br />
mehr als 100 000 auf 906 000. Die<br />
Zahl der AfD-Anhänger wächst also<br />
nicht, wie vonvielen behauptet, sondernschrumpft<br />
sogar tendenziell.<br />
Zugenommen hat hingegen in<br />
Brandenburgdie Zahl der SPD-Wähler,die<br />
2019 um 69 000 Stimmen größer<br />
war als 2017 –eine Zunahme von<br />
fast 25 Prozent. Anders als in der Berichterstattung<br />
gemutmaßt, war das<br />
SPD-Ergebnis also keinesfalls das<br />
historisch schlechteste in Brandenburg.<br />
Dennoch hat die SPD ihreeinstige<br />
Bindekraft –noch 1998 wurde sie<br />
Gastbeitrag<br />
VonManfred Güllner<br />
DPA<br />
von gut einem Drittel aller Wahlberechtigten<br />
gewählt –eingebüßt und<br />
wurde auch nur noch von16von 100<br />
Wahlberechtigten gewählt.<br />
Die zahlenmäßig größte Gruppe<br />
war aber auch bei dieserWahl wieder<br />
mit 39 Prozent die „Partei der Nichtwähler“.<br />
Doch obwohl diese Gruppe<br />
fast dreimal so groß war wie die Zahl<br />
der AfD-Wähler, wurde darüber allenfalls<br />
am Rande berichtet. Diskutiert<br />
wurde dagegen fast ausschließlich<br />
über die im Vergleich zur „Partei<br />
der Nichtwähler“ viel kleinere Zahl<br />
der AfD-Wähler. Das ist allerdings<br />
nicht nur jetzt nach den Wahlen in<br />
Brandenburg und Sachsen zu registrieren.<br />
So wurde die AfD z. B. bei der<br />
Kommunalwahl in Frankfurt am<br />
Main im März 2016 nur von 3von<br />
100 Wahlberechtigten gewählt; 63<br />
von 100 Wahlberechtigten aber<br />
machten ihrem Frust über den Zustand<br />
der lokalen Politik und das unsägliche<br />
kommunale Wahlsystem in<br />
Hessen durch Wahlenthaltung Luft<br />
(in Frankfurtwar der Stimmzettel bei<br />
der Kommunalwahl über 1,50 Meter<br />
breit und man hatte 93 Stimmen!).<br />
Berichtetaber wurde auch seinerzeit<br />
nur über die kleine Minderheit der<br />
AfD-Wähler, nicht aber über die 20-<br />
mal größere „Partei der Nichtwähler“.<br />
Deren Frust steigt aber weiter,<br />
wenn man nur die wenigen AfD-<br />
Wähler, nicht aber die vielen Nichtwähler<br />
zur Kenntnis nimmt.<br />
Viele Nichtwähler auch in Brandenburg<br />
gehen nicht zur Wahl, weil<br />
sie auch unzufrieden sind mit der Art<br />
und Weise, wie manche politische<br />
Akteure Politik betreiben, und mit<br />
vielen anderen Unzulänglichkeiten<br />
im Land. Doch sie wollen mit der<br />
AfD nichts zu tun haben. Das zeigt<br />
sich auch bei einem Vergleich der<br />
politischen Selbsteinschätzung der<br />
Nichtwählerund derWähler der AfD.<br />
So verorten sich selbst auf einer sogenannten<br />
Links-Rechts-Skala mit<br />
einem Wert von 1(=links) bis 10 (=<br />
rechts) die Nichtwähler wie der<br />
Durchschnitt aller Wahlberechtigten<br />
im Land Brandenburg fast exakt in<br />
der Mitte mit einem Wert von 4.6<br />
(Mittelwert aller Brandenburger:<br />
4.5). Die AfD-Anhänger aber verorten<br />
sich mit 6.2 viel weiter rechts als<br />
der Durchschnitt aller Brandenburger<br />
und der Nichtwähler.<br />
Aufgabe der Politik in Brandenburg<br />
wäre esalso, inden nächsten<br />
fünf Jahren das Vertrauendieser großen<br />
Zahl von Nichtwählern zurückzugewinnen,<br />
zumal sich viele Nichtwähler<br />
auch gar nicht als„Nichtwähler“<br />
bezeichnen, sondern als „Wähler<br />
auf Urlaub“, die gerne wieder<br />
wählen möchten. Die Chance dafür<br />
ist im Übrigen um einVielfaches größer<br />
als die Rückgewinnung von<br />
Wählernaus der verschworenen Gemeinschaft<br />
der AfD-Anhänger.<br />
Manfred Güllner ist Geschäftsführerdes<br />
Meinungsforschungsinstituts Forsa.