Magazin von FRAGILE Suisse - Nummer 1, März 2011
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Die meisten Menschen mit einer Hirnverletzung sind arbeitsfähig. Wichtig ist die kompetente<br />
Begleitung der Reintegration, Anpassung der Arbeitsstelle und die Bereitschaft <strong>von</strong> Arbeitgeberseite<br />
zum Mitmachen.<br />
Arbeiten nach einer Hirnverletzung?<br />
Text: Carine Fluckiger, Fotos: Zentrum für Berufliche Abklärung<br />
Viele Betroffene stehen mitten im Erwerbsleben, wenn sie eine Hirnverletzung erleiden.<br />
Welche Chancen haben sie, wieder arbeiten zu können? Diese Frage muss<br />
sowohl aus Sicht des Betroffenen als auch Arbeitgebenden geklärt werden. Die<br />
Weiterbeschäftigung oder Anstellung <strong>von</strong> Menschen mit einer Hirnverletzung erfordert<br />
<strong>von</strong> den Arbeitgebenden Stellenanpassungen und ein Umdenken. Wirtschaftliche<br />
Gegebenheiten stehen dabei oft im Weg. Diese Tatsache gilt es bei der<br />
6. Revision der Invalidenversicherung zu berücksichtigen.<br />
Fragt man einen hirnverletzten Menschen<br />
nach seinem grössten Wunsch,<br />
wird er Ihnen mit Sicherheit antworten,<br />
dass er wieder arbeiten möchte. Gestützt<br />
auf eine 2004 durchgeführte Umfrage bei<br />
25 Schwerstbetroffenen in der Reha-Klinik<br />
Clinique romande de réadaptation (CRR)<br />
in Sion gehört die berufliche Wiedereingliederung<br />
zu den wichtigsten Kriterien<br />
für die Lebensqualität.<br />
Ein Graben zwischen Wunsch<br />
und Wirklichkeit<br />
Zwischen Wollen und Können klafft jedoch<br />
oft ein Graben, den die Betroffenen<br />
manchmal nicht erkennen. Cathy Barraud,<br />
Beraterin bei IPT Integration für alle, erlebt<br />
diesen Konflikt häufig: «Es sind willensstarke<br />
Menschen, die über spezielle Fähigkeiten<br />
verfügen und denen man eine<br />
Chance geben möchte. Aber manchmal<br />
haben sie Mühe, realistische Vorhaben zu<br />
entwickeln, und erkennen ihre Einschränkungen<br />
erst nach einiger Zeit.»<br />
*Namen geändert<br />
Auch das Umfeld hat einen Einfluss auf<br />
die Chancen einer Rückkehr an den Arbeitsplatz;<br />
namentlich die Lage auf dem<br />
Arbeitsmarkt, die Unterstützung seitens<br />
der Familie, des Bekanntenkreises und Arbeitgebenden<br />
sowie die Begleitung durch<br />
ein speziell auf Menschen mit Hirnverletzung<br />
zugeschnittenen Wiedereingliederungsprogramms.<br />
Die grössten Hürden<br />
Kognitive und Verhaltensänderungen gehören<br />
zu den grössten Hürden für eine<br />
langfristige Arbeitsintegration nach einer<br />
Hirnverletzung. «Wer Konzentrationsprobleme<br />
hat, wird unabhängig <strong>von</strong> seinem<br />
Beruf immer Mühe bei der Arbeit haben»,<br />
betont Dr. Philippe Vuadens, Leiter des<br />
Reha-Dienstes der CRR.<br />
In einem wirtschaftlichen Umfeld, das<br />
immer mehr Leistung und Rendite fordert,<br />
führen auch andere Schwierigkeiten der<br />
Betroffenen zu einer Verminderung der<br />
Arbeitsmarktfähigkeit: rasche Ermüdung,<br />
geringe Stressresistenz, mangelnde Flexibilität<br />
usw.<br />
David* ist hirnverletzt und Schreiner<br />
mit einem Arbeitspensum <strong>von</strong> 90 %. 2009<br />
bat er die Helpline <strong>von</strong> <strong>FRAGILE</strong> <strong>Suisse</strong> um<br />
Hilfe, um in einer telefonischen Besprechung<br />
mit seinem Chef über seine Arbeitszeiten<br />
bzw. mehr Ruhephasen zu<br />
reden. «Ich kann pro Tag nur ein, zwei<br />
wichtige Sachen machen; danach benötige<br />
ich eine Pause», erklärt er. Sein Arbeitgeber,<br />
der ihm inzwischen aus wirtschaftlichen<br />
Gründen kündigte, meinte<br />
dazu: «Er arbeitete gut, manchmal zu gut.<br />
Aber er war langsam und seine Leistung<br />
schwankte <strong>von</strong> Tag zu Tag. Weil man ihm<br />
nichts ansieht, möchte man ihn schütteln,<br />
vor allem in Stresszeiten. Seine Kollegen<br />
gaben alles, aber bei ihm hatte man<br />
das Gefühl, er sei nicht ganz bei der Sache.<br />
Das ist nicht förderlich für den Teamgeist.»<br />
«Am Anfang geht es gut»<br />
Ein Problem, das auch Dr. Vuadens bei<br />
seinen Patienten regelmässig feststellt:<br />
«Am Anfang geht es gut. Aber nach fünf<br />
bis sechs Monaten vergisst man Behinderungen,<br />
die nicht offensichtlich sind. Das<br />
führt zu Feindseligkeiten, die sich auf das<br />
ganze Team auswirken. Der Chef muss<br />
sich entscheiden.» Der Arzt zeigt sich zunehmend<br />
skeptisch: «Hirnverletzte Menschen<br />
wieder in die Arbeitswelt eingliedern?<br />
In den letzten Jahren stellte ich mir<br />
immer häufiger diese Frage. Die meisten<br />
Schwerstbetroffenen sind noch arbeitsfähig,<br />
aber es gibt nur wenige Arbeitgeber,<br />
die die erforderliche Sensibilität für eine<br />
langfristige Anstellung aufbringen.»<br />
Der stellvertretende Direktor des Westschweizer<br />
Unternehmensverbandes (Fédération<br />
des entreprises romandes), Olivier<br />
Sandoz, neigt dazu, diese Meinung<br />
zu bestätigen: «Hauptaufgabe eines Unternehmens<br />
ist es nicht, behinderte Menschen<br />
zu integrieren. Will ein Unternehmen<br />
dies tun, muss es prüfen, ob es in<br />
der Lage ist, den Betroffenen einzustellen,<br />
welche internen Tätigkeiten ihm übertragen<br />
werden können und welche Anpassungen<br />
es dazu braucht. Das ist nicht in<br />
allen Fällen möglich.»<br />
«Ich träume <strong>von</strong> einem zweiten Leben»<br />
Bei fehlenden Anpassungen laufen hirnverletzte<br />
Mitarbeitende Gefahr, einen hohen<br />
Preis für ihre Anstrengungen zu bezahlen.<br />
Christian* erlitt 1995 einen<br />
schweren Unfall und arbeitet seit mehr<br />
als zehn Jahren vollzeitlich in seinem Be-