Magazin von FRAGILE Suisse - Nummer 1, März 2011

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Sie müsste täglich Gesichtsgymnastik machen: «Aber ich bin nachlässig geworden. Es gehört jetzt einfach zu mir, dieses Lächeln.» «Ich möchte wieder eine Aufgabe haben.» Text: Verena Paris, Fotos: Tres Camenzind Die junge Grafikerin stand mitten im Leben, war voller Pläne. Doch kurz vor ihrem 27. Geburtstag geschah etwas, das vieles veränderte: Zusammen mit vier Freunden war Sonja A. mit dem Snowboard unterwegs. Die Gruppe genoss den Tag in den Bergen – bis zum Sturz von Sonja. Sie schlug auf einem Felsen auf und streifte den Stein mit Kopf und Gesicht derart heftig, dass sie noch auf der Unfallstelle ins Koma fiel. Rettung per Helikopter, Notoperation, ein Monat Spitalaufenthalt, acht Monate Rehabilitation. Heute lächelt die 33-Jährige ein besonnenes, etwas asymmetrisches Lächeln. «Ich hatte Glück», sagt sie, obwohl sie gekennzeichnet ist von den Folgen des Unfalles und sich zurück in den Arbeitsprozess sehnt. Aber sie gibt sich zuversichtlich: Dank gezieltem Coaching und Begleitetem Wohnen von FRAGILE Suisse gelingt ihr auch dieser Schritt noch. Wenn man die Altbauwohnung betritt, merkt man sofort: hier hat jemand ein Auge für Details, ein Flair für Farben und Kontraste. Die junge Frau setzt sich in die gemütliche Küche und sagt: «Ich bin froh.» Oft beginnt Sonja A. einen Satz, legt eine Pause ein, fährt dann nachdenklich fort. «Ja, ich bin froh und ich geniesse das Leben, so wie es ist.» Starke Worte von einer jungen, anmutigen Frau, deren Narben an Hals und Gesicht sie täglich an diesen schicksalhaften Tag im März 2004 erinnern. Nach dem tragischen Unfall in Verbier / VS standen ihre Chancen nicht gut. Die Ärzte waren sich lange nicht sicher, welche Prognose eintreffen würde. Überleben? Tod? Behinderung? Ihre Mutter kündigte ihre Arbeitsstelle und war Tag und Nacht am Krankenbett ihrer Tochter. Die 27-Jährige lag zwei Wochen im Koma. Als sie erwachte, war sie gelähmt, sie konnte weder sprechen noch schlucken. Ihr Schädel war von den Ärzten geöffnet worden und das entfernte Stück Schädeldecke in ihrem Bauch zwischengelagert. Sie konnte das rechte Auge nicht mehr schliessen, weil die Muskelstränge zwischen Auge und Mund total durchtrennt waren. «Ich erkannte am Anfang meine Eltern nicht, wusste nicht, wie ich heisse, ich erinnerte mich an rein gar nichts», erzählt Sonja A. gelassen. Vieles kam glücklicherweise mit der Zeit wieder. Sie war allerdings bereits in der Rehabilitation in Zihlschlacht, als ihr eine Freundin ein Modemagazin mitbrachte. «Ich blätterte es durch und konnte nichts anfangen damit. Als ich merkte, dass ich nicht mehr lesen konnte, da war ich wirklich schockiert und verzweifelt. Ich bin aus dem Zimmer gerannt.» Schiefes Lächeln Acht Monate verbrachte sie im Rehabilitationszentrum in Zihlschlacht – ein strenges Therapieprogramm begleitete sie von Tag zu Tag, von Fortschritt zu Fortschritt. Ein ganzes Jahr ist nach dem Unfall vergangen, bis sie wieder in ihre Wohngemeinschaft zurückkehren konnte, zurück zu ihren Freunden. Doch es waren weitere Operationen nötig. Damit sie das Auge wieder schliessen kann, wurde Muskulatur aus dem Wadenbein entfernt und im Gesicht eingesetzt. Dank dieser Operation gelingt ihr das spontane Lächeln wieder, die Mimik ist nicht mehr verzerrt. Mit ihrem Spiegelbild hat sie Frieden geschlossen, vernachlässigt auch gerne mal die Gesichtsübungen, die sie machen sollte. «Es gehört jetzt einfach zu mir, es ist mein Lächeln», sagt sie und blättert irgendwie nachdenklich, mit gedämpften Gefühlen durch das Fotoalbum, das Bilder aus der Rehabilitationszeit zeigt. Wunsch nach einer Aufgabe «Ich hab so vieles wieder gelernt, vieles funktioniert wieder.» Und sie hat ihre Erinnerungen wieder. Das sei sehr wertvoll. Sonja A. ist dankbar und sagt: «Ich hatte Glück, andere sind gestorben – ich lebe noch.» Sie hat akzeptiert, obwohl sie immer noch ein Rauschen hat im rechten Ohr, schnell erschöpft ist, oft von Kopfschmerzen geplagt wird und im Gespräch immer wieder mal nach Wörtern sucht. «Auch vor der Geschwindigkeit habe ich Angst, ich würde zum Beispiel nie mehr selber Auto fahren», gesteht sie. Grosse Ziele setze sie sich nicht, man wisse nie, was passiere. Aber einen grossen Wunsch hegt sie doch ganz tief in ihrem Herzen: «Ich möchte wieder eine Arbeit, eine Verpflichtung haben!» Doch der Weg zurück ins Berufsleben zieht sich hin. Sonja A. präsentiert zwar stilsichere Arbeiten in ihrem Portfolio, schwungvolle Logos und überzeugende 4 FRAGILE Suisse 01 | 2011
« Ich hatte Glück, andere sind gestorben – ich lebe noch.» Illustrationen. Trotzdem hapert es bei der Arbeitssuche. Die linke Hirnhälfte von Sonja A. ist beim Unfall verletzt worden und die linke Hemisphäre ist aktiv, wenn es um Logik, Rechnen, Analyse geht. «Die Kreativität ist mir nicht abhanden gekommen», hat Sonja A. erkannt, «es sind eher die technischen Abläufe und komplizierte Programme, die mir Mühe bereiten.» Es kann vorkommen, dass sie Fachbegriffe nicht aufs Erste begreift und nicht auf Anhieb weiss, welche Abläufe oder Regeln sich dahinter verstecken. Job-Coaching dank FRAGILE Suisse Sonja A. konnte bei einem früheren Arbeitgeber als Praktikantin einsteigen. Später folgte eine mehrmonatige Abklärung im Zentrum für berufliche Abklärung in Luzern. Die gelernte Grafikerin wurde engmaschig begleitet, konnte praktische Erfahrungen in einer Buchbinderei sammeln. «Sonja A. möchte unbedingt wieder in den ersten Arbeitsmarkt einsteigen, weil sie wieder anknüpfen will an ihr altes Leben.» Sylvianne Imhof organisiert das Begleitete Wohnen von FRAGILE Suisse und kennt Sonja A. schon seit mehreren Jahren. Zusammen mit der FRAGILE-Help line-Beraterin unterstützt sie die junge Grafikerin punktuell. Egal ob in administrativen Belangen oder bei Versicherungsfragen, es geht immer darum, dass Sonja A. lernt, selbstständig zu leben. Im Moment ist der Beruf das Hauptthema. «Frau A. braucht keinen geschützten Arbeitsplatz, aber einen Arbeitgeber, der bereit ist, ihr mehr Raum zu geben.» Sylvianne Imhof erklärt: «Sie muss in ihrem Tempo arbeiten können, sie braucht länger, bis sie Zusammenhänge erfasst.» Aus diesem Grund hat Sylvianne Imhof die Triage zu einem Job-Coach von «Wintegra» gemacht. Wintegra ist eine Fachstelle für Menschen mit einer Behinderung oder Lernschwäche. Wintegra vermittelt FRAGILE Suisse 01 | 2011 Frauen und Männern, die eine IV-Rente beziehen, Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft. Denn: Arbeit bedeutet mehr als den Lebensunterhalt verdienen. Arbeit stiftet Sinn, gibt Selbstvertrauen, schenkt Freiheit und Eigenständigkeit. Veränderungen annehmen Nicht nur im Berufsleben ist Sonja A. auf Spurensuche. Mit einer gewissen Sprunghaftigkeit nimmt sie oft gleichzeitig auf verschiedene Ziele Kurs. «Meine Mutter ist Japanerin. Ich wollte schon immer wissen, wie das Leben in Japan ist.» Aus diesem Grund ist sie ein Jahr zu ihren Verwandten nach Asien gegangen. Zurück in der Schweiz, hat sich einiges verändert: Die Wohngemeinschaft hat sich aufgelöst, ihre Freunde haben Familien gegründet. Sie wohnen aber in der Nähe und Sonja A. pflegt herzlichen Kontakt zu ihnen. Ihre Wohnung in der Stadt hat sie jetzt für sich alleine, was sie sehr schätzt. «Und Coco wohnt jetzt bei mir.» Ein Strahlen huscht über ihr Gesicht, die Augen leuchten. Die neue, quirlige «Mitbewohnerin» ist ein deutscher Pinscher. Die Hündin ist halbjährig, sehr aufgeweckt und verschmust. Mit dem Vierbeiner besuchte Sonja A. bereits die Welpenschule, jetzt absolviert sie den Junghunde-Kurs: «Coco ist im Moment meine Hauptaufgabe.» Informationen zum Thema Handlungsplanung finden Sie im Buch «Störungen der Exekutiv funktionen – wenn die Handlungs planung zum Problem wird.» Das Buch kann man in der Bibliothek von FRAGILE Suisse ausleihen. E-Mail an biasio@fragile.ch Die linke und die rechte Hirnhälfte (Hemisphären) des menschlichen Gehirns nehmen unterschiedliche Funktionen wahr. Linke Hirnhälfte Sprache, Lesen, Rechnen, Vernunft, Verstand, Logik, Regeln, Gesetze, Konzentration, Analyse, Details, Wissenschaft, Schritt für Schritt, Zeitempfinden Rechte Hirnhälfte Körpersprache, Bildsprache, Intuition, Gefühl, Kreativität, Spontaneität, Sprunghaftigkeit, Neugier, Risiko, Synthese, Überblick, Kunst, Tanz, Musik, Ganzheitlich / Zusammenhänge, Raumempfinden «Coco ist im Moment meine Hauptaufgabe.» Sonja A. absolviert den Junghundekurs mit ihrem Pinscher. Auch in der Freizeit setzt Sonja A. ihre kreativen Ideen gut und gerne um. 5
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