uchrezension Das Decamerone der KZ-Überlebenden www.mottingers-meinung.at Mottingers Meinung „Sind zwölf sehr alte ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald im April des Jahres 2020 nach Weimar gekommen ...“ Liest man ihn als subversiven Kommentar zur Skurrilität des und den Kampf ums Dasein, so beginnt Ivan Ivanjis aktuell bei Picus erschienener Roman Corona in Buchenwald wie ein jüdischer Witz. Zum 75. Jahrestag der Befreiung wollte dies Dutzend Überlebende, genannt die „Buchenwaldianer“, wie der spanische Schriftsteller Jorge Semprún vorgeschlagen hatte, die letzten Zeitzeugen allesamt rund um die neunzig Jahre alt, aus aller Welt nach Weimar kommen – doch wurde der Festakt abgesagt. Von einer Pandemie lassen sich die betagten Herren freilich nicht aufhalten, man will den Gedenktag unbedingt begehen, den toten Kameraden ein mutmaßlich letztes Mal die Ehre erweisen, und so reisen sie an: Chemielaborant Franco Miculleti aus den USA, Schriftsteller Sascha Mihályi-Mihajlovic ´ aus Serbien, Sportlehrer Jorgos Vargas aus Griechenland, Diplom-Ingenieur Leon- Leo Gutmann aus Israel, Botschafter Philippe Pharoux aus Frankreich, Journalist Hugo Braun-Barna aus Ungarn, Slawistik-Professor Viktor Weisz aus Tschechien, Gastwirt Michael Jung aus Deutschland, Schriftsteller Rodrigo Rosales Rosales aus Spanien, Kaufmann Stefan Seliger aus den Niederlanden, Polizist Nils Jensen aus Dänemark und Oberst Igor Iwatschew aus Russland. Versteht sich, die Berufe sind natürlich die gewesenen. Als Begleitung stellen sich Ehefrauen, Schwieger- und Enkelkinder ein; Rodrigos Freund Raphael wird sich als sein Lebensgefährte erweisen. Ivanji lässt sich Zeit, sein Szenario zu entwerfen, auch wenn er seine Charaktere mit zwei, drei kurzen Strichen skizziert – hager, Hängebacken, gemütlich, militärisch, exakter Haarschnitt, eleganter Anzug ... Man wird im Hotel Elephant einquartiert, wo sich schon im <strong>Juli</strong> 1926 ein gewisser „Adolf Hitler, Schriftsteller“ in das Gästebuch eintrug, später die Suite 100 speziell für ihn eingerichtet wurde und er sich – auf dem Balkon Reden schwingend – feiern ließ. Heute reflektiert eine Ausstellung in der Beletage diese „Führer“-Besuche. Amerikanische Soldaten schließlich trieben nach der nazideutschen Kapitulation die Bürger aus Weimar den Ettersberg hinauf, „um die verhungerten Leichen zu sehen. Seht her, das habt ihr gemacht. Ihr! Oder zumindest zugeschaut habt ihr. Bestenfalls weggeschaut“, denkt Igor. Bei der Annäherung der 3. US-Armee übernahmen am 11. April 1945 die Häftlinge die Leitung des Lagers von der abziehenden SS, nahmen 125 der Bewacher fest, öffneten die Tore und hissten die weiße Fahne. Bereits Tage zuvor hatten viele Häftlinge durch Boykott und Sabotage ihre von den Nationalsozialisten so genannte Evakuierung verhindert und die US- Armee per Funk zu Hilfe gerufen ... Nun also wieder einquartiert. In Weimar. Und sofort in Quarantäne, da einer der Buchenwaldianer positiv auf das Virus getestet ward. Corona, dazu fällt Sascha – man merkt, er schält sich als Protagonist heraus – maximal die Schröter ein, Schauspielerin und Sängerin Corona Schröter, Goethe- Protegé und 1779 dessen erste Iphigenie in einer Laienaufführung auf der Ettersburg auf dem Ettersberg – „so nah am Konzentrationslager“. Mit dem Dichterfürsten höchstselbst als Orestes und Herzog Karl <strong>August</strong> als Pylades. Eine Ménage a trois über die Goethe notierte: „Noch kann ich nicht von der Schröter weg. Ein edles Geschöpf in seiner Art“, während der Herzog dem Freund anvertraute: „Ich bin seit 24 Stunden nicht bei Sinnen, das heißt bei zu vielen Sinnen.“ Man lernt einander kennen, Igor erkennt Sascha, der Genosse war’s, der ins Außen-, ins Zwangsarbeitslager Langenstein- Zwieberge gestohlene Kaninchen brachte, „das erste gebratene Fleisch seit ...“, und Sascha, der nicht vorhat, sich die Zeit zu vertreiben, „im Gegenteil, ich will sie festhalten, um sie für etwas zu nutzen“, unterbreitet den anderen seine Idee, gleich der Gesellschaft in Boccaccios „Decamerone“ allabendlich zum Geschichtenerzählen zusammenzukommen. Dies geschieht, erst per Laptop, dann in der Hotelbibliothek. Autor Ivan Ivanji, 1929 als Sohn einer jüdischen Ärztefamilie im Banat geboren und vom NS-Regime in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald deportiert, war beinah alles, was seine Figuren sind, Lehrer, Journalist, Lektor, Theaterdirektor, Diplomat und Dolmetscher – von Tito. Seit der Pension ist der in Wien und Belgrad lebende Ivanji bekennender „Skribomane“. Pro Jahr ein Roman, möchte man sagen, meist einer, der die eigene Seelenlandschaft miterkundet, die Altherrenriege, die er jetzt um sich versammelt, ist unschwer als Alter Egos zu erkennen, von jedem ein bisschen ergibt ein ganzes Bild, doch am meisten von seinem Schöpfer hat der Serbe Sascha. Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift Mottingers-Meinung.at Ivan Ivanji Corona in Buchenwald 256 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-7117-2106-8, € 24,– | Picus 52 <strong>sortimenterbrief</strong> 7–8/21
J. Courtney Sullivan »Kleine menschliche und große gesellschaftliche Momente verpackt in eine richtig gute Geschichte. Ich liebe diesen Roman.« MEG WOLITZER Erscheint am 26. <strong>Juli</strong> <strong>2021</strong> Ü.: Andrea O’Brien und Jan Schönherr. 528 Seiten. Gebunden mit Lesebändchen und farbigem Vorsatzpapier. € 24,70 [A] ISBN 978-3-552-07251-0. Auch als E-Book Foto: © Peter Ross zsolnay.at Doris Knecht »Doris Knecht kann erzählen. Schnell und scharf umrissen, zeitgenössisch exemplarisch.« HUBERT WINKELS, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 256 Seiten. Gebunden. € 22,70 [A] ISBN 978-3-446-27176-0. Auch als E-Book Foto: © Heribert Corn hanser-literaturverlage.de Erscheint am 26. <strong>Juli</strong> <strong>2021</strong> HANSER BERLIN