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BIBER 09_21 OLAOLA

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Auch Narges, die junge, moderne Frau, die ich auf

der Demo in Wien kennenlernte, argumentierte mit

dem Sicherheitsaspekt. Genauso wie der Mann vom

Brunnenmarkt. Dieser Unwissende - wenn ich an ihn

denke, steigt mein Blutdruck. Tut mir leid, ich kann

die Emotionen nicht zurückhalten. Diese mittelalterlichen

Delinquenten werden mein Heimatland

doch nicht nach 40 Jahren endlich in ruhige Gefilde

führen?

WÖLFE IM SCHAFSPELZ

Es ist mittlerweile Mitte September. Ich sehe Videos

der Taliban, die Musik und Partys per Flyer verbieten

wollen. Meine Mutter erzählt mir von Minderjährigen

in gekaperten High-Tech-Helikoptern der amerikanischen

Streitkräfte und wie kurze Zeit später der

Hubschrauber wie betrunken über den Dächern

Herats torkelt. In einem anderen Video sehe ich die

Gotteskrieger in Vollmontur, wie sie Sportgeräte in

einem Fitnesscenter auf ihre ganz eigene Art und

Weise benutzen. Wäre das alles nicht so traurig, würde

ich vor Lachen auf dem Boden liegen. Ich erzähle

meiner Mutter vom Sympathieaufwind der Taliban

in Wien. „Schau, mein Sohn“, sagt sie mit ruhiger

Stimme in die Kamera und fängt zu erzählen an: über

die positive Entwicklung von Herat, über die Parks,

Spielplätze, Denkmäler, die neu gebaut wurden;

über die wieder lebendigen Restaurants und Straßen.

Frauen mussten in den letzten Jahren keinen

Tschador tragen und durften die Schule besuchen.

Manche Einwohner fühlten sich an wohlhabendere

Städte jenseits der iranischen Grenze erinnert. Es gab

zwar auch Anschläge, Plünderungen und Entführungen

– ein kleiner Lichtblick gab den Menschen aber

Hoffnung für die Zukunft, so meine Mama.

Unter den Taliban wurden jene errichteten Denkmäler

in den letzten Wochen zerstört. Frauen dürfen

nur mehr vollverhüllt auf die Straße. Versammlungen

mit Musik und Tanz sind untersagt. „Das kannst du

ruhig den jungen Menschen sagen. Sie sollen sich

selbst ein Bild von den angeblich geläuterten Taliban

machen“, wird meine Mutter plötzlich laut. Sie kriegt

sich schnell wieder ein, weil sie aufpassen muss,

nicht von den Nachbarn gehört zu werden, die sie

für wenige Afghani an die Taliban verpfeifen. Damit

spricht sie mir aus der Seele. Den Wölfen im Schafspelz

glaubt man nicht, sie sind noch immer Wölfe.

Und wenn ihr wirklich so überzeugt von ihnen seid,

geht nach Hause und baut mit ihnen Afghanistan

auf. ●

* Namen von der Redaktion geändert

Taliban-Kämpfer in Kandahar nach dem Abzug der US-

Truppen

BIBER: Warum sagen viele

AfghanInnen in Wien, das

Taliban-Regime sei ihnen lieber

als das Chaos im Krieg?

EMRAN FEROZ: Ich habe die

Erfahrung gemacht, dass junge

Männer in der Diaspora oft eine

andere Meinung als Frauen

haben. Frauen wissen, dass ihre

Rechte in Afghanistan seitens

der Taliban mit Füßen getreten

werden. Männer haben da eine

andere Position. Da spielt das

männliche Ego auch eine Rolle –

nach dem Motto: „Diese Männer

haben das Land erobert, und die

USA rausgekickt!“ Respekt also

für den langen Atem und die

Stärke, die Übermacht USA in die

Schranken verwiesen zu haben.

Was sehr auffällt, ist dieser

Sicherheitsaspekt, nach dem die

Lage beurteilt wird. Sie sagen

dann: Wir wollen den Krieg und

die Korruption nicht mehr, eine

Ordnungsmacht muss her. Die

Sehnsucht nach Sicherheit und

Ruhe ist sehr groß.

Hängen die Einstellungen der

EXPERTEN-INTERVIEW

„Das männliche Ego spielt auch

eine Rolle.“

Emran Feroz ist freier Journalist und hat

Ende August das Buch „Der längste Krieg.

20 Jahre War on Terror“ herausgebracht.

Interview: Aleksandra Tulej

jungen Afghanen in Wien mit der

korrupten Regierung Afghanistans

zusammen?

Wenn man 15-20 Minuten aus

Kabul hinausfährt, dann sieht

man, dass nichts von irgendwelchen

Geldern in den Dörfern

angekommen ist. In den größeren

Städten vielleicht eher, aber am

Land sieht man nichts davon, dort

leben die Leute in bitterer Armut.

Man muss auch sagen, dass vor

allem die jungen Afghanen ihre

Informationen oft aus Facebook,

Instagram oder TikTok beziehen,

wo diese Korruptionsvideos die

Runde machen. Das ist ja ein

offenes Geheimnis dort.

Welche Volksgruppen aus der

Region sind in Wien eher den

Taliban zugeneigt?

Dazu müsste man sich anschauen,

wie lange die Menschen, von

denen wir hier sprechen, schon

hier leben. Wenn wir von jenen

sprechen, die in den 80ern oder

90ern hergekommen sind, dann

war das eher die gebildetere

Schicht. Die hatten einen anderen

© JAVED TANVEER / AFP / picturedesk.com, © privat

Bezug zum Land – da wurde

mehr auf dieses Einheitsgefühl

geschaut, trotz der ethnischen

Unterschiede. Das ist bei den

Afghanen, die in den letzten

Jahren hergekommen sind,

aber schon anders. Da bleibt

man eher unter sich. Oft wird

gesagt, dass Hazara gebildeter

und weltoffener sind. Das

kann schon sein. Paschtunen

leben eher nach einem eher

konservativen, traditionellen

Weltbild. Aber dazu muss

ich auch sagen: Die von den

Taliban kontrollierten Gebiete

waren oft ländliche paschtunische

Regionen, da wurde der

War on Terror heftig geführt.

Wir sprechen hier von einem

dauerhaften Kriegszustand. Die

Menschen wurden links liegen

gelassen, aus Kabul kam keine

Hilfe an. Also war Schulbildung

dort auch nicht so möglich, und

somit auch die Gefahr, sich zu

radikalisieren, größer. Deshalb

sympathisieren mehr Pasch-

tunen auch mit den Taliban.

Übrigens: Die Taliban machen

jetzt auf „inklusiv“ und wollen

nicht mehr differenzieren, wer

woher kommt – aber in den

Führungspositionen bei ihnen

hast du fast nur Paschtunen.

Was sagen Sie als Experte

dazu, wenn ein junger Afghane

in Wien meint, die Taliban seien

das Beste für Afghanistan?

Dem sage ich: Du würdest

keinen Tag dort (über)leben

bzw. es dort aushalten. Solche

Aussagen kommen oft von

jungen Burschen, die selbst nie

unter den Taliban gelebt haben,

und die dann dazu tendieren,

das alles zu romantisieren

und da irgendeine Nostalgie

hineininterpretieren. Ich verstehe

natürlich die Kritik an der

Regierung, aber ich bin nicht

dafür, dass man die Taliban so

verharmlost, wie es jetzt auch

einige westliche Journalisten

tun.

VÖLKER AFGHANISTANS

SOLIDARITÄT

#FÜRDICH

DIE AK FORDERT EINEN GERECHTEN

SOZIALSTAAT, DER FÜR ALLE DA IST.

Laut Statista lebten 2020 In Afghanistan rund

33 Millionen Menschen. Das Land ist ein Vielvölkerstaat,

den größten Bevölkerungsanteil haben

Paschtunen (40%), Tadschiken (25%), Usbeken und

Hazara (beide rund 9%). Die meisten der Paschtunen

stammen aus dem pakistanischen Grenzland und

gehören zu muslimischen Sunniten. Ihre Sprache ist

Paschtu, die zweitgrößte Sprache des Landes neben

Dari. Die Hazara sind ein ehemaliges Nomadenvolk

aus der Mongolei, die sich in der Tradition von

Dschinghis Khan sehen. Sie sind Schiiten und sind

deswegen sowohl dem Taliban als auch dem IS ein

Dorn im Auge. Sie gelten als liberal und stellen einen

Großteil der 0,8 Millionen afghanischer Flüchtlinge

im Iran dar. Tadschiken gehören vor allem der Stadtbevölkerung

an und sind im Handel tätig. Genauere

Zahlen über die Zusammensetzung und Anzahl der

Bevölkerung sind extrem schwer zu zufinden. Die

Völker sind in viele Stämme unterteilt, das zerklüftete

und in weiten Teilen schwer erreichbare Bergland

Afghanistans und der 40jahre lange Kriegszustand

verunmöglichten bis jetzt eine Volkszählung. Die

erste und einzige Volkszählung wurde im Jahr

1979 durchgeführt, dem Jahr des Einmarsches der

Sowjetunion.

AK.AT/FÜRDICH

16 / POLITIKA /

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