Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Auch Narges, die junge, moderne Frau, die ich auf
der Demo in Wien kennenlernte, argumentierte mit
dem Sicherheitsaspekt. Genauso wie der Mann vom
Brunnenmarkt. Dieser Unwissende - wenn ich an ihn
denke, steigt mein Blutdruck. Tut mir leid, ich kann
die Emotionen nicht zurückhalten. Diese mittelalterlichen
Delinquenten werden mein Heimatland
doch nicht nach 40 Jahren endlich in ruhige Gefilde
führen?
WÖLFE IM SCHAFSPELZ
Es ist mittlerweile Mitte September. Ich sehe Videos
der Taliban, die Musik und Partys per Flyer verbieten
wollen. Meine Mutter erzählt mir von Minderjährigen
in gekaperten High-Tech-Helikoptern der amerikanischen
Streitkräfte und wie kurze Zeit später der
Hubschrauber wie betrunken über den Dächern
Herats torkelt. In einem anderen Video sehe ich die
Gotteskrieger in Vollmontur, wie sie Sportgeräte in
einem Fitnesscenter auf ihre ganz eigene Art und
Weise benutzen. Wäre das alles nicht so traurig, würde
ich vor Lachen auf dem Boden liegen. Ich erzähle
meiner Mutter vom Sympathieaufwind der Taliban
in Wien. „Schau, mein Sohn“, sagt sie mit ruhiger
Stimme in die Kamera und fängt zu erzählen an: über
die positive Entwicklung von Herat, über die Parks,
Spielplätze, Denkmäler, die neu gebaut wurden;
über die wieder lebendigen Restaurants und Straßen.
Frauen mussten in den letzten Jahren keinen
Tschador tragen und durften die Schule besuchen.
Manche Einwohner fühlten sich an wohlhabendere
Städte jenseits der iranischen Grenze erinnert. Es gab
zwar auch Anschläge, Plünderungen und Entführungen
– ein kleiner Lichtblick gab den Menschen aber
Hoffnung für die Zukunft, so meine Mama.
Unter den Taliban wurden jene errichteten Denkmäler
in den letzten Wochen zerstört. Frauen dürfen
nur mehr vollverhüllt auf die Straße. Versammlungen
mit Musik und Tanz sind untersagt. „Das kannst du
ruhig den jungen Menschen sagen. Sie sollen sich
selbst ein Bild von den angeblich geläuterten Taliban
machen“, wird meine Mutter plötzlich laut. Sie kriegt
sich schnell wieder ein, weil sie aufpassen muss,
nicht von den Nachbarn gehört zu werden, die sie
für wenige Afghani an die Taliban verpfeifen. Damit
spricht sie mir aus der Seele. Den Wölfen im Schafspelz
glaubt man nicht, sie sind noch immer Wölfe.
Und wenn ihr wirklich so überzeugt von ihnen seid,
geht nach Hause und baut mit ihnen Afghanistan
auf. ●
* Namen von der Redaktion geändert
Taliban-Kämpfer in Kandahar nach dem Abzug der US-
Truppen
BIBER: Warum sagen viele
AfghanInnen in Wien, das
Taliban-Regime sei ihnen lieber
als das Chaos im Krieg?
EMRAN FEROZ: Ich habe die
Erfahrung gemacht, dass junge
Männer in der Diaspora oft eine
andere Meinung als Frauen
haben. Frauen wissen, dass ihre
Rechte in Afghanistan seitens
der Taliban mit Füßen getreten
werden. Männer haben da eine
andere Position. Da spielt das
männliche Ego auch eine Rolle –
nach dem Motto: „Diese Männer
haben das Land erobert, und die
USA rausgekickt!“ Respekt also
für den langen Atem und die
Stärke, die Übermacht USA in die
Schranken verwiesen zu haben.
Was sehr auffällt, ist dieser
Sicherheitsaspekt, nach dem die
Lage beurteilt wird. Sie sagen
dann: Wir wollen den Krieg und
die Korruption nicht mehr, eine
Ordnungsmacht muss her. Die
Sehnsucht nach Sicherheit und
Ruhe ist sehr groß.
Hängen die Einstellungen der
EXPERTEN-INTERVIEW
„Das männliche Ego spielt auch
eine Rolle.“
Emran Feroz ist freier Journalist und hat
Ende August das Buch „Der längste Krieg.
20 Jahre War on Terror“ herausgebracht.
Interview: Aleksandra Tulej
jungen Afghanen in Wien mit der
korrupten Regierung Afghanistans
zusammen?
Wenn man 15-20 Minuten aus
Kabul hinausfährt, dann sieht
man, dass nichts von irgendwelchen
Geldern in den Dörfern
angekommen ist. In den größeren
Städten vielleicht eher, aber am
Land sieht man nichts davon, dort
leben die Leute in bitterer Armut.
Man muss auch sagen, dass vor
allem die jungen Afghanen ihre
Informationen oft aus Facebook,
Instagram oder TikTok beziehen,
wo diese Korruptionsvideos die
Runde machen. Das ist ja ein
offenes Geheimnis dort.
Welche Volksgruppen aus der
Region sind in Wien eher den
Taliban zugeneigt?
Dazu müsste man sich anschauen,
wie lange die Menschen, von
denen wir hier sprechen, schon
hier leben. Wenn wir von jenen
sprechen, die in den 80ern oder
90ern hergekommen sind, dann
war das eher die gebildetere
Schicht. Die hatten einen anderen
© JAVED TANVEER / AFP / picturedesk.com, © privat
Bezug zum Land – da wurde
mehr auf dieses Einheitsgefühl
geschaut, trotz der ethnischen
Unterschiede. Das ist bei den
Afghanen, die in den letzten
Jahren hergekommen sind,
aber schon anders. Da bleibt
man eher unter sich. Oft wird
gesagt, dass Hazara gebildeter
und weltoffener sind. Das
kann schon sein. Paschtunen
leben eher nach einem eher
konservativen, traditionellen
Weltbild. Aber dazu muss
ich auch sagen: Die von den
Taliban kontrollierten Gebiete
waren oft ländliche paschtunische
Regionen, da wurde der
War on Terror heftig geführt.
Wir sprechen hier von einem
dauerhaften Kriegszustand. Die
Menschen wurden links liegen
gelassen, aus Kabul kam keine
Hilfe an. Also war Schulbildung
dort auch nicht so möglich, und
somit auch die Gefahr, sich zu
radikalisieren, größer. Deshalb
sympathisieren mehr Pasch-
tunen auch mit den Taliban.
Übrigens: Die Taliban machen
jetzt auf „inklusiv“ und wollen
nicht mehr differenzieren, wer
woher kommt – aber in den
Führungspositionen bei ihnen
hast du fast nur Paschtunen.
Was sagen Sie als Experte
dazu, wenn ein junger Afghane
in Wien meint, die Taliban seien
das Beste für Afghanistan?
Dem sage ich: Du würdest
keinen Tag dort (über)leben
bzw. es dort aushalten. Solche
Aussagen kommen oft von
jungen Burschen, die selbst nie
unter den Taliban gelebt haben,
und die dann dazu tendieren,
das alles zu romantisieren
und da irgendeine Nostalgie
hineininterpretieren. Ich verstehe
natürlich die Kritik an der
Regierung, aber ich bin nicht
dafür, dass man die Taliban so
verharmlost, wie es jetzt auch
einige westliche Journalisten
tun.
VÖLKER AFGHANISTANS
SOLIDARITÄT
#FÜRDICH
DIE AK FORDERT EINEN GERECHTEN
SOZIALSTAAT, DER FÜR ALLE DA IST.
Laut Statista lebten 2020 In Afghanistan rund
33 Millionen Menschen. Das Land ist ein Vielvölkerstaat,
den größten Bevölkerungsanteil haben
Paschtunen (40%), Tadschiken (25%), Usbeken und
Hazara (beide rund 9%). Die meisten der Paschtunen
stammen aus dem pakistanischen Grenzland und
gehören zu muslimischen Sunniten. Ihre Sprache ist
Paschtu, die zweitgrößte Sprache des Landes neben
Dari. Die Hazara sind ein ehemaliges Nomadenvolk
aus der Mongolei, die sich in der Tradition von
Dschinghis Khan sehen. Sie sind Schiiten und sind
deswegen sowohl dem Taliban als auch dem IS ein
Dorn im Auge. Sie gelten als liberal und stellen einen
Großteil der 0,8 Millionen afghanischer Flüchtlinge
im Iran dar. Tadschiken gehören vor allem der Stadtbevölkerung
an und sind im Handel tätig. Genauere
Zahlen über die Zusammensetzung und Anzahl der
Bevölkerung sind extrem schwer zu zufinden. Die
Völker sind in viele Stämme unterteilt, das zerklüftete
und in weiten Teilen schwer erreichbare Bergland
Afghanistans und der 40jahre lange Kriegszustand
verunmöglichten bis jetzt eine Volkszählung. Die
erste und einzige Volkszählung wurde im Jahr
1979 durchgeführt, dem Jahr des Einmarsches der
Sowjetunion.
AK.AT/FÜRDICH
16 / POLITIKA /