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BIBER 09_21 OLAOLA

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KOLUMNE

„MEIN SOHN, WAS HABEN DIE

EUROPÄER MIT DIR GEMACHT?“

Auf Arabisch gibt es einen Spruch, der

besagt: Wenn man sich bei einem Stamm

vierzig Tage aufhält, wird man einer von

ihnen. Damit ist gemeint, dass man seine

Sitten und Gebräuche übernimmt. Nach

sieben Jahren in Österreich kann ich nicht

genau sagen, welche Aspekte ich von dem

„österreichischen“ Lebensstil verinnerlicht

habe. Ich glaube aber, dass sein Einfluss

auf mich inzwischen sehr groß ist. Ich

gehe mittlerweile wandern und das mache

ich freiwillig und gerne.

BEI UNS GEHT MAN

NICHT WANDERN

Falls ihr euch jetzt fragt, was daran so

bemerkenswert sei, würde ich euch bitten, einmal kurz

innezuhalten: Das erste Mal, als ich meiner Mutter vom

Wandern erzählte, verstand sie das einfach nicht. „Mein

Sohn! Bist du bekloppt? Was haben die Europäer mit

dir gemacht?“, wurde sie laut und verständnislos am

Handy. Ich fand auch kein arabisches Wort für ‘wandern’

oder ‚Wanderlust‘, um ihr das zu erklären. Bei uns geht,

läuft, spaziert oder bummelt man, aber wandern, nein,

das tut sich niemand an. In der Freizeit will man in einer

schattigen, kühlen Ecke mit seiner Liebsten sitzen, Sonnenblumenkerne

knabbern, Mokka und Matetee trinken,

sich gegenseitig Geschichten erzählen, die bei jeder

erneuten Erzählung mehr an Gewürzen und Spektakeln

bekommen. Auf den Berg zu gehen ist viel zu heiß und

anstrengend. Außerdem prangen auf den Bergspitzen

in Syrien keine Gipfelkreuze, sondern Militärbasen, und

man läuft dort in die Gefahr, erschossen zu werden.

Meine erste Wandererfahrung wurde mir aufgezwungen.

Es war ein Betriebsausflug meiner ehemaligen

Arbeitsstätte auf den Gaisberg. Oggi, mein damaliger

Arbeitskollege, meinte, ich bräuchte Wanderschuhe.

Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Dabei stellte

ich fest, dass jede Tätigkeit in Österreich eine eigene

Schuhkategorie benötigt. In Syrien kennt man nur Sportschuhe

und formelle Schuhe. Und das war es dann.

turjman@dasbiber.at

Jad Turjman

ist Comedian, Buch-Autor

und Flüchtling aus Syrien.

In seiner Kolumne schreibt

er über sein Leben in

Österreich.

Jetzt in Österreich habe ich Laufschuhe,

Freizeitschuhe, Wanderschuhe, Skischuhe,

Fußballschuhe, Hallenschuhe, Fahrradschuhe,

Eislaufschuhe, Winterschuhe, formelle

Schuhe, und ich bezeichne mich als

Kleinverdiener. Vermutlich gibt es Schuhe,

deren Namen ich gar nicht kenne.

WARUM HABT IHR FÜR

ALLES SCHUHE?

Mittlerweile liebe ich wandern. Ich gehe

am liebsten ganz alleine, und zwar immer

auf denselben Berg. Ich weiß nicht, warum

ich immer dieselbe Wanderstrecke nehme

und für andere Wege nicht aufgeschlossen

bin. Ich bemühe mich, auf diesem Wanderweg

jedes einzige Detail der Gegend in mein Unterbewusstsein

einzuprägen, jeden Baum, jeden gebrochenen

Ast und jeden Stein. Ich habe mir schon gemerkt, um

viel Uhr die Sonne an einer bestimmten Neigung steht

und durch den ganzen Wald strahlt und alle Blätter

beleuchtet. Wahrscheinlich ist das der Versuch, um dieses

eine Gefühl wieder erleben zu können: Heimat.

Ich habe mit dem Berg und dem Wald, durch den

ich immer gehe, eine Freundschaft auf Augenhöhe

geschlossen. Ich kenne jeden einzelnen Baum, und die

Bäume kennen mich inzwischen auch. Ich kann mich

beim Wandern ohne Wenn und Aber diesem Wald und

diesem Berg zugehörig fühlen. Ich musste gar nicht

beweisen, dass ich nicht schlimm wie meinesgleichen

bin, auch keine Leistung erbringen, um willkommen

zu sein. Ich rede mit ihnen sogar auf Arabisch und sie

verstehen mich. Meine Anwesenheit, meine Gedanken,

meine Sprache, meine Emotionen und Gefühle

und meine ganze Existenz wirken für den Wald und

den Berg selbstverständlich und vorbehaltlos. Wenn

mir auf dem Weg neue Gesichter begegnen, fühle ich

mich sogar wie der Einheimische und empfinde sie als

die Fremden. Wobei ich nicht glauben will, dass ein

Mensch in der Natur fremd sein kann. Mit oder ohne

Wanderschuhe.

Robert Herbe

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