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KOLUMNE
„MEIN SOHN, WAS HABEN DIE
EUROPÄER MIT DIR GEMACHT?“
Auf Arabisch gibt es einen Spruch, der
besagt: Wenn man sich bei einem Stamm
vierzig Tage aufhält, wird man einer von
ihnen. Damit ist gemeint, dass man seine
Sitten und Gebräuche übernimmt. Nach
sieben Jahren in Österreich kann ich nicht
genau sagen, welche Aspekte ich von dem
„österreichischen“ Lebensstil verinnerlicht
habe. Ich glaube aber, dass sein Einfluss
auf mich inzwischen sehr groß ist. Ich
gehe mittlerweile wandern und das mache
ich freiwillig und gerne.
BEI UNS GEHT MAN
NICHT WANDERN
Falls ihr euch jetzt fragt, was daran so
bemerkenswert sei, würde ich euch bitten, einmal kurz
innezuhalten: Das erste Mal, als ich meiner Mutter vom
Wandern erzählte, verstand sie das einfach nicht. „Mein
Sohn! Bist du bekloppt? Was haben die Europäer mit
dir gemacht?“, wurde sie laut und verständnislos am
Handy. Ich fand auch kein arabisches Wort für ‘wandern’
oder ‚Wanderlust‘, um ihr das zu erklären. Bei uns geht,
läuft, spaziert oder bummelt man, aber wandern, nein,
das tut sich niemand an. In der Freizeit will man in einer
schattigen, kühlen Ecke mit seiner Liebsten sitzen, Sonnenblumenkerne
knabbern, Mokka und Matetee trinken,
sich gegenseitig Geschichten erzählen, die bei jeder
erneuten Erzählung mehr an Gewürzen und Spektakeln
bekommen. Auf den Berg zu gehen ist viel zu heiß und
anstrengend. Außerdem prangen auf den Bergspitzen
in Syrien keine Gipfelkreuze, sondern Militärbasen, und
man läuft dort in die Gefahr, erschossen zu werden.
Meine erste Wandererfahrung wurde mir aufgezwungen.
Es war ein Betriebsausflug meiner ehemaligen
Arbeitsstätte auf den Gaisberg. Oggi, mein damaliger
Arbeitskollege, meinte, ich bräuchte Wanderschuhe.
Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Dabei stellte
ich fest, dass jede Tätigkeit in Österreich eine eigene
Schuhkategorie benötigt. In Syrien kennt man nur Sportschuhe
und formelle Schuhe. Und das war es dann.
turjman@dasbiber.at
Jad Turjman
ist Comedian, Buch-Autor
und Flüchtling aus Syrien.
In seiner Kolumne schreibt
er über sein Leben in
Österreich.
Jetzt in Österreich habe ich Laufschuhe,
Freizeitschuhe, Wanderschuhe, Skischuhe,
Fußballschuhe, Hallenschuhe, Fahrradschuhe,
Eislaufschuhe, Winterschuhe, formelle
Schuhe, und ich bezeichne mich als
Kleinverdiener. Vermutlich gibt es Schuhe,
deren Namen ich gar nicht kenne.
WARUM HABT IHR FÜR
ALLES SCHUHE?
Mittlerweile liebe ich wandern. Ich gehe
am liebsten ganz alleine, und zwar immer
auf denselben Berg. Ich weiß nicht, warum
ich immer dieselbe Wanderstrecke nehme
und für andere Wege nicht aufgeschlossen
bin. Ich bemühe mich, auf diesem Wanderweg
jedes einzige Detail der Gegend in mein Unterbewusstsein
einzuprägen, jeden Baum, jeden gebrochenen
Ast und jeden Stein. Ich habe mir schon gemerkt, um
viel Uhr die Sonne an einer bestimmten Neigung steht
und durch den ganzen Wald strahlt und alle Blätter
beleuchtet. Wahrscheinlich ist das der Versuch, um dieses
eine Gefühl wieder erleben zu können: Heimat.
Ich habe mit dem Berg und dem Wald, durch den
ich immer gehe, eine Freundschaft auf Augenhöhe
geschlossen. Ich kenne jeden einzelnen Baum, und die
Bäume kennen mich inzwischen auch. Ich kann mich
beim Wandern ohne Wenn und Aber diesem Wald und
diesem Berg zugehörig fühlen. Ich musste gar nicht
beweisen, dass ich nicht schlimm wie meinesgleichen
bin, auch keine Leistung erbringen, um willkommen
zu sein. Ich rede mit ihnen sogar auf Arabisch und sie
verstehen mich. Meine Anwesenheit, meine Gedanken,
meine Sprache, meine Emotionen und Gefühle
und meine ganze Existenz wirken für den Wald und
den Berg selbstverständlich und vorbehaltlos. Wenn
mir auf dem Weg neue Gesichter begegnen, fühle ich
mich sogar wie der Einheimische und empfinde sie als
die Fremden. Wobei ich nicht glauben will, dass ein
Mensch in der Natur fremd sein kann. Mit oder ohne
Wanderschuhe.
Robert Herbe
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