Die wiederentdeckte Langsamkeit Überholter Technikrausch: Sich lieber in der Firstclass verwöhnen lassen als halb so lang in einer engen Concorde über den Atlantik donnern.
MOBILITÄT Am Bedürfnis nach <strong>Mobilität</strong> lässt sich nicht rütteln. Doch die Beschleunigung des Transports von Menschen und Gütern hat zu immer mehr Stillstand geführt und eingesparte Zeit wird postwendend wieder vertilgt. War der Rausch der Geschwindigkeit ein Strohfeuer? Marcus Balogh, Redaktion Bulletin Foto: Peter Marlow/Magnum Die Evolution hat nicht vorgesehen, dass wir in kleinen Blechschachteln mit 250 Kilometern pro Stunde über den Asphalt schiessen. Denn der Mensch ist zur Langsamkeit geboren. Und während Tausenden von Jahren vollzog sich Fortbewegung in gemächlichem Tempo. Die Römer eroberten Europa zu Fuss, Goethe Italien in einer Kutsche. Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts erhöhte sich die Taktfrequenz des Alltags. Fabriken mit dampfbetriebenen Webstühlen verdrängten die Manufakturen. Und die in Massen produzierten Güter wurden statt mit Ochsenkarren erst mit dampfbetriebenen Fahrzeugen, später mit Lastwagen zu neu entstehenden Märkten gebracht. Diese Entwicklung wird heute oftmals mit gespaltenen Gefühlen betrachtet. Bilder einer guten alten Zeit werden beschworen. In Tat und Wahrheit sah sich eine Stadt wie New York Ende des letzten Jahrhunderts alljährlich mit etwa 2,5 Millionen Tonnen Pferdemist und rund 230 000 Litern Pferdeurin konfrontiert. Natürlich, heute kämpft man in New York mit anderen Problemen, die sich aus dem Bedürfnis nach <strong>Mobilität</strong> ergeben: Staus, Unfälle, Lärm und Umweltverschmutzung. Doch ganz sicher hat von allen Maschinen, die in den letzten 200 Jahren erfunden wurden, das Automobil den grössten Einfluss auf die Gesellschaft gehabt. «Das Auto hat uns befreit. Weil wir uns eine Pizza nach Hause liefern lassen können, bevor sie kalt ist, weil wir einen Tag an den Strand fahren können oder sogar die Schwiegermutter besuchen – ohne gleich bei ihr übernachten zu müssen», sagt Jeremy Clarkson, Journalist und einer der bekanntesten Autoexperten Grossbritanniens. Auf der anderen Seite hat das Auto in den letzten hundert Jahren mehr Menschen umgebracht als alle militärischen Schlachten der Menschheit. Und es hat wahrscheinlich Wesentliches zum blinden Rausch der Geschwindigkeit beigetragen, dem das 20.Jahrhundert verfallen war. «Als Karl Benz – übrigens Sohn eines Lokomotivführers – 1894 mit der Serienproduktion seines Autos begann, betrug die Höchstgeschwindigkeit 20 Kilometer pro Stunde. 25 Jahre später waren in den USA bereits über acht Millionen Autos immatrikuliert und der Geschwindigkeitsrekord lag jenseits von 200 Kilometer pro Stunde», so Clarkson. Die Beschleunigung verlangsamt sich selbst Diese Beschleunigung hat bis heute angehalten. Tatsächlich findet sich kaum ein Lebensbereich, der nicht schneller geworden ist. Das Paradoxe an der Beschleunigung des Lebens ist natürlich, dass der immer schnellere Transport für immer mehr Menschen und Güter heute zu immer langsamerem Fortkommen geführt hat. Moderne Autos haben praktisch ausnahmslos eine Höchstgeschwindigkeit, die über 200 Kilometer pro Stunde liegt. Doch statt flott vorwärts zu kommen, wird immer mehr Zeit im Stop-and-Go-Tempo verbracht: Erst stehen, dann hetzen, dann wieder stehen. Der Spass an der Geschwindigkeit hat sein Ende gefunden und statt schneller wird heute (fast) alles langsamer. Nicht nur, weil die Strassen und der Himmel immer öfter und immer länger verstopft sind. Wir haben in der Zwischenzeit auch aufgehört, immer schnellere Transportmittel zu bauen. Beweise dafür gibt es genug. Die Concorde zum Beispiel: Ihre Reisegeschwindigkeit betrug Mach 2,2, das sind 2333 Kilometer pro Stunde. Der Platz als schnellstes Passagier-Überschallflugzeug ist ihr wohl noch auf Jahrzehnte hin sicher. Zum Teil, weil die Entwicklung eines Überschallflugzeuges astronomische Summen verschlingt. Für die Concorde rund eine Milliarde Britische Pfund – und das war vor 25 Jahren. Aber auch deshalb, weil die meisten Flugpassagiere, die die exorbitant teuren Tickets der Concorde bezahlen könnten, sich heute lieber sechs Stunden in der Business- oder Firstclass verwöhnen lassen, als drei Stunden in einer engen, unbequemen, dafür schnellen Röhre Ellenbogen an Ellenbogen mit dem Sitznachbarn zu leiden. Aber selbst dort, wo das Geld weniger ein Thema ist und Bequemlichkeit keine vordergründige Rolle spielt, scheint die Suche nach noch mehr Geschwindigkeit abgeschlossen zu sein. Die Lockheed SR-71 der US Air Force, ein Aufklärungsflugzeug, erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von rund 3600 Kilometern pro Stunde. Und die gigantische Saturn-5-Rakete der NASA schoss die Apollo-Raumkapseln in eine Umlaufbahn, auf der sie die Geschwindigkeit von 40 000 Kilometer pro Stunde erreichten – was die höchste Geschwindigkeit darstellt, mit der sich je ein Mensch bewegt hat. Das bemerkenswerte an diesen Fakten ist jedoch: Der Jungfernflug der Concorde fand 1969 statt, die Lockheed SR-71 bekam ihre endgültige Form 1964 und auch die Saturn 5 wurde schon während der Sechzigerjahre eingesetzt. Selbst normale Verkehrsflugzeuge sind in den letzten dreissig Jahren nicht mehr schneller geworden. Die Reisegeschwindigkeit eines Airbus A320 liegt bei etwa 900 Kilometer pro Stunde – so schnell ist auch der 35 Jahre alte Jumbojet Boeing 747. Elektronik überholt Transportmaschinen All diese wundersamen Maschinen – so faszinierend sie auch waren – sind von einer anderen Art der Geschwindigkeit überholt worden: der Geschwindigkeit der Elektronen und Photonen. Damit lässt das elektronische das industrielle Zeitalter weit hinter sich. Die Zeit, die ein Signal vom Hirn zu den Fingerspitzen braucht, ist genauso lang wie die Credit Suisse Bulletin 1-<strong>04</strong> 11