11.09.2021 Aufrufe

bull_04_01_Mobilität

Credit Suisse bulletin, 2004/01

Credit Suisse bulletin, 2004/01

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

MOBILITÄT<br />

Dass Wale, Büffel oder Zugvögel in ihrem Leben Tausende von Kilometern zurücklegen, ist<br />

bekannt. Doch wer weiss schon um die ungestüme Wanderlust der Schmetterlinge? Die Winzlinge<br />

flattern von Nordafrika bis nach Island. Daniel Huber, Redaktion Bulletin<br />

Das Taubenschwänzchen ist ein eigenwilliges<br />

Kerlchen. Wie ein Kolibri ernährt<br />

sich der behaarte Schmetterling sozusagen<br />

stehend im Schwirrflug. Dabei ist das rostbraune<br />

hintere Flügelpaar deutlich kleiner als<br />

das graubraune vordere. Unermüdlich fliegt<br />

das Taubenschwänzchen von Blüte zu Blüte,<br />

bis zu hundert Mal in der Minute, rollt seinen<br />

langen Rüssel aus, dem es den lateinischen<br />

Namen Macroglossum verdankt, und saugt<br />

den Nektar ab.<br />

Beheimatet ist das Taubenschwänzchen<br />

in Südeuropa. Doch wenn sich dort der Frühling<br />

verabschiedet, packt es eine wundersame<br />

Wanderlust. Irgendetwas zieht es nach<br />

Norden. Was es ist, weiss auch die Wissenschaft<br />

nicht genau. Weder die Flucht vor der<br />

Trockenheit oder ein meteorologisch bedingter<br />

Sexualtrieb noch die Abnahme des Vitamin<br />

E im Nahrungsangebot sahen sich als<br />

Theorie in der Praxis eindeutig bestätigt. So<br />

konzentrieren sich die Wissenschaftler weiterhin<br />

aufs genaue Beobachten und Sammeln<br />

von Daten. Dabei können sie auf einen eingeschworenen<br />

Kreis von Freizeitforschern<br />

und Schmetterlingsliebhabern zählen. Diese<br />

dokumentieren in aller Welt akribisch genau<br />

ihre Sichtungen und Beobachtungen und<br />

stellen sie in speziell dafür eingerichtete<br />

Online-Foren.<br />

Auch Karlheinz Baumann ist der faszinierenden<br />

Welt der Schmetterlinge seit Jahren<br />

erlegen. Der deutsche Naturfilmer hat fünf<br />

Filme über die Geheimnisse dieser eigenwilligen<br />

Insekten gedreht, den ersten vor<br />

20 Jahren. In seinem letzten, «So weit die<br />

Flügel tragen», aus dem Jahr 20<strong>01</strong>, heftet er<br />

sich an die Flügel eines Taubenschwänzchens,<br />

das sich in der Toskana mit 80 Flügelschlägen<br />

pro Sekunde auf die grosse Reise nach<br />

Norden macht. Dabei zeigt er unter anderem,<br />

wie der kleine Wanderfalter den Widrigkeiten<br />

der Alpenüberquerung trotzt. Ausgeklügelt:<br />

Das Taubenschwänzchen verfügt<br />

über eine Art Zitterheizsystem. Damit kann<br />

es sich nach einer Ruhepause in frostiger<br />

Kälte auf die notwendige Starttemperatur<br />

von 41 Grad Celsius erwärmen. Nördlich der<br />

Alpen gehts mit bis zu 50 Stundenkilometern<br />

pro Stunde weiter entlang dem Rhein.<br />

«Natürlich ist das nur ein mögliches Beispiel»,<br />

erklärt Karlheinz Baumann, «die Taubenschwänzchen<br />

wandern in der Natur kreuz<br />

und quer durch Mitteleuropa. Doch Beobachtungen<br />

haben gezeigt, dass sie vorzugsweise<br />

Wasserläufen entlang fliegen. Gilt es, grosse<br />

Flüsse zu überqueren, benutzen sie zudem<br />

häufig Brücken.»<br />

Wohl noch lange ein Rätsel der Natur wird<br />

auch die Frage bleiben, wie die aus Südeuropa<br />

und Nordafrika stammenden Distelfalter<br />

bei ihren Wanderflügen nach Norden<br />

teilweise gar den Weg bis nach Island schaffen.<br />

Schliesslich liegen zwischen dem Festland<br />

und der Insel hoch im Norden 800 Kilometer<br />

Seeweg. Die Distelfalter sind auch in<br />

Deutschland und der Schweiz ab Mai häufig<br />

gesehene Besucher, wobei die Zahl von Jahr<br />

zu Jahr variiert. «2003 war ein gutes Jahr»,<br />

erzählt Baumann. «An einem Nachmittag<br />

konnte ich im Donautal innert kürzester Zeit<br />

sicher 400 Distelfalter bei einem Zwischenstopp<br />

beobachten. Sie reisten aber nicht<br />

etwa in einem Schwarm, sondern unscheinbar<br />

einzeln oder in kleinen Gruppen.» Entsprechend<br />

werden die spektakulären Wanderschaften<br />

der Schmetterlinge von den meisten<br />

Menschen nicht wahrgenommen. Schmetterlinge<br />

auf Wanderschaft erkennt man daran,<br />

dass sie geradliniger und steter dahinfliegen<br />

als ortsansässige Artgenossen auf Nahrungssuche.<br />

Entschlossen flattern sie ihrem<br />

Ziel entgegen und lassen sich von Hindernissen<br />

nur ungern vom Kurs abbringen. So<br />

werden Büsche, Bäume, Häuser oder ganze<br />

Waldpartien nicht um-, sondern mühsam<br />

überflogen.<br />

Wohl der weltweit bekannteste Wanderfalter<br />

ist der nordamerikanische Monarch.<br />

Dieser zugkräftige Schmetterling entpuppt<br />

sich im Herbst in Kanada. Kaum bei Kräften,<br />

fliegt er Richtung Süden. Dabei gibt es zwei<br />

Hauptpopulationen mit verschiedenen Ausgangspunkten.<br />

Ziel der westlichen, kleineren<br />

ist das Gebiet südlich von San Francisco.<br />

Ungleich weiter zieht es die Millionen<br />

Monarchen der östlichen Population: 5000<br />

Kilometer weit mitten durch den Kontinent<br />

bis tief nach Mexiko. Dort überwintern sie<br />

zu Hunderttausenden auf den gleichen<br />

Bäumen. Im März gehts dann wieder zurück.<br />

Doch nicht mehr den ganzen Weg. Nun hat<br />

der Monarch nur noch ein Ziel vor Augen. Er<br />

möchte möglichst schnell seine Eier legen,<br />

und zwar auf einem Wolfsmilchstrauch, der<br />

Futterpflanze seiner Raupen. Die Wahl der<br />

Pflanze ist clever. Der giftige Milchsaft macht<br />

die Raupen zur unbekömmlichen Beute für<br />

gefrässige Wegelagerer.<br />

Sind die Eier gelegt, sterben die weit<br />

gereisten Monarchen bald einmal. Erst ihre<br />

Nachfahren treffen dann im Frühsommer<br />

wieder in Kanada ein, um sich dort wiederum<br />

zu vermehren. Somit sind es erst die Enkel<br />

der ursprünglichen Südwanderer, die im<br />

Herbst die nächste Reise nach Süden unter<br />

die Flügel nehmen.<br />

Aber zurück zum italienischen Protagonisten<br />

von Karlheinz Baumanns Naturfilm:<br />

Für ihn ist die Reise seines Lebens nach<br />

2000 Kilometern in Schweden zu Ende.<br />

Auch er hat unterwegs, wo immer möglich,<br />

auf dem weiss blühenden Labkraut seine<br />

Eier hinterlegt. Daraus sind mittlerweile<br />

gefrässige grüne Raupen geschlüpft, die mit<br />

etwas Glück – wenn weder Wespe noch<br />

Vogel ihren Weg kreuzte – fünf Mal aus der<br />

Haut gefahren sind, bevor sie sich in einem<br />

unglaublichen Kraftakt zu einem neuen<br />

Leben als Schmetterling befreit haben. Ein<br />

Teil dieser neuen Generation von Taubenschwänzchen<br />

zieht es dann im Spätsommer<br />

wieder unwiderstehlich Richtung Süden,<br />

zurück zu ihren italienischen Wurzeln, wo<br />

sie bei milderen Temperaturen in kleinen<br />

Ritzen überwintern.<br />

❙<br />

Credit Suisse Bulletin 1-<strong>04</strong> 21

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!