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Credit Suisse bulletin, 2004/01

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MOBILITÄT<br />

Jährlich verlassen über 27 000 Schweizerinnen und Schweizer unser Land, um sich irgendwo im Ausland<br />

niederzulassen, sei es für immer, sei es für einige Jahre im Auftrag eines multinationalen Unternehmens<br />

oder um sich aus- und weiterzubilden. Wie sah es im 19.Jahrhundert aus? Andreas Schiendorfer, Redaktion Bulletin<br />

Ohne Kaffeepausen steht der Kopf still,<br />

insbesondere wenn man sich an ein Thema<br />

wie die schweizerische Auswanderung heranwagen<br />

will. Ulrich Pfister, früherer Leiter<br />

des Ressorts Public Affairs der Credit Suisse<br />

Group und immer noch Präsident der Soliswiss,<br />

nutzt die Gelegenheit und zieht, zufällig<br />

hat er es im Hosensack, das Buch «Über<br />

den Tellerrand hinaus» von Philipp Dreyer<br />

hervor. Es enthält 20 Lebensgeschichten von<br />

Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern.<br />

Eine Buchbesprechung? Unmöglich.<br />

Aber ich verspreche ihm, darin zu blättern,<br />

die interessante Geschichte von Hans Keller<br />

zu lesen, dessen noch junge Existenz als<br />

Hotelier in Ägypten durch den Terroranschlag<br />

in Luxor zerstört wurde und der dankbar<br />

für die Entschädigung war, die ihm die<br />

Soliswiss aus ihrem Solidaritätsfonds für<br />

Auslandschweizer ausbezahlte.<br />

Immer dieses Ägypten. Mit Genuss erinnere<br />

ich mich einmal mehr der köstlichen<br />

Lektüre des «ägyptischen Heinrichs» von Markus<br />

Werner, des «Munzinger Pascha» von Alex<br />

Capus. Hat aber Ägypten in der schweizerischen<br />

Auswanderung je eine Rolle gespielt?<br />

Der Auslandschweizerdienst auf der Homepage<br />

des Eidgenössischen Departements<br />

für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gibt<br />

auch hierüber Auskunft: Heute leben in Afrika<br />

nur gerade 17 602 Schweizerinnen und<br />

Schweizer, die meisten davon in Südafrika<br />

(8809, Tendenz steigend), Ägypten (1065),<br />

Tunesien (913), Marokko (861) und Kenia<br />

(797). Früher waren es deutlich weniger. Eine<br />

beachtliche Kolonie gab es in Algier (3024<br />

Personen im Jahr 1880).<br />

Es lockt Frankreich, es lockt Amerika<br />

Sprechen wir von Auswanderung, egal zu<br />

welchem Zeitpunkt, so gilt es zunächst zu<br />

beachten, dass die grösste Schweizerkolonie<br />

stets in Europa lebte. Gegenwärtig sind es<br />

dort 381695 Auslandschweizer, davon 96<br />

Prozent in den EU-Staaten, insbesondere<br />

in Frankreich (163034), Deutschland (69619),<br />

und Italien (44 544). Beträgt der europäische<br />

Anteil an der Fünften Schweiz – so nennt<br />

man die Auslandschweizerkolonie – jetzt gut<br />

62 Prozent, so erreichte er unmittelbar vor<br />

dem Zweiten Weltkrieg mit 80 Prozent seinen<br />

Höchststand. Im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />

hingegen war er bis auf 51 Prozent<br />

(1880) zurückgegangen – eine Auswirkung<br />

der Überseeauswanderung, die also auch<br />

statistisch fassbar wird und in drei Wellen um<br />

die Spitzenjahre 1817, 1854 und 1883 erfolgte,<br />

als in Europa jeweils Missernten und<br />

Konjunkturkrisen zusammenfielen.<br />

1850 lebten erst 72 500 Schweizer im<br />

Ausland, davon 28 Prozent in Amerika. Bis<br />

1880 stieg die Zahl gesamthaft auf fast<br />

235 000. Gleichzeitig nahm der Anteil Amerikas<br />

auf 46 Prozent zu, wie wir Leo Schelberts<br />

Standardwerk «Einführung in die schweizerische<br />

Auswanderungsgeschichte der Neuzeit»<br />

entnehmen. Von den Auslandschweizern<br />

in Nord- und Südamerika lebten rund 88 600<br />

in den USA, 12 100 in Argentinien, 4600 in<br />

Kanada, 2200 in Brasilien sowie ein paar<br />

wenige in Chile und Peru. Die Kolonie in den<br />

USA war damit sogar grösser als die französische,<br />

jene in Argentinien entsprach der<br />

italienischen, und Kanada konnte mit Österreich-Ungarn<br />

einigermassen Schritt halten<br />

(siehe auch Grafik auf Seite 16).<br />

Zwischen 1868 und 1883 wanderten im<br />

Jahresdurchschnitt 5365 Personen nach<br />

Übersee aus. Gut drei Viertel zogen nach<br />

Nordamerika und knapp ein Sechstel nach<br />

Südamerika. Die übrigen Destinationen – Afrika,<br />

Zentralamerika, Australien und Asien –<br />

spielten eine marginale Rolle.<br />

Weniger Auswanderer, dafür kaum Rückkehrer<br />

Heute umfasst die Fünfte Schweiz rund<br />

612 562 Personen (2003), also deutlich<br />

mehr als 1880. Dies hängt nicht zuletzt mit<br />

der Bevölkerungsentwicklung zusammen;<br />

1880 lebten in der Schweiz «nur» 2,8 Millionen<br />

Menschen. Auch war die <strong>Mobilität</strong> nicht<br />

vergleichbar mit heute – die Reise nach<br />

Übersee dauerte länger, kostete mehr und<br />

war gefährlich. Vor allem aber wollte der Entscheid<br />

wohl überlegt sein: Im Normalfall gab<br />

es aus Übersee keine Rückkehr mehr.<br />

Während heute 70 Prozent der Auslandschweizer<br />

Doppelbürger ihrer alten und neuen<br />

Heimat sind, erhielten die Einwanderer<br />

früher oft das neue Bürgerrecht, ohne den<br />

Schweizer Pass zu behalten beziehungsweise<br />

behalten zu dürfen. Heute bezeichnen<br />

sich deshalb rund eine Million Amerikaner als<br />

schweizstämmig; den Pass besitzen aber<br />

gerade mal 70 994.<br />

«Meine Vorfahren sind um 1855 aus Mollis<br />

nach Wisconsin ausgewandert», erklärt,<br />

auf ihren Glarner Namen angesprochen,<br />

auch Karen Ciucci-Zwicky, Übersetzerin bei<br />

der Credit Suisse. «Meines Wissens sind alle<br />

meine Verwandten Amerikaner. Ich selbst bin<br />

1976 erstmals im Rahmen eines AFS-Austauschjahres<br />

in die Schweiz gekommen. Ich<br />

wohnte ein Jahr lang bei einer Familie in<br />

Solothurn, mit der ich anfänglich französisch<br />

redete. Nach meiner Heirat ist die alte Heimat<br />

meiner Familie zu meiner persönlich neuen<br />

Heimat geworden.»<br />

Unterwegs geboren, gestorben, kaum gelebt<br />

Wenn wir heute in acht Stunden um die halbe<br />

Welt nach New York fliegen, so fällt es schwer,<br />

sich vorzustellen, dass dies vor nicht allzu<br />

langer Zeit eine wirkliche Weltreise darstellte.<br />

Noch im Jahre 1711 benötigten Berner Auswanderer<br />

bis nach Virginia 177 Tage, wovon<br />

sie jedoch nicht weniger als deren 93 mit<br />

Warten in Rotterdam, Newcastle und im<br />

amerikanischen Shields zubrachten.<br />

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die<br />

Auswanderung professionalisiert, so dass<br />

zumindest die lästigen und teuren Aufenthalte<br />

minimiert wurden. Zudem verkürzten<br />

die technischen Fortschritte die Überseefahrt<br />

erheblich. Während die «Santa Maria»<br />

des Kolumbus 1492 noch 71 Tage gesegelt<br />

Credit Suisse Bulletin 1-<strong>04</strong> 15

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