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Credit Suisse bulletin, 2004/01
Credit Suisse bulletin, 2004/01
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WEALTH MANAGEMENT TOPICS<br />
Fotos: Martin Stollenwerk<br />
die Positionen festgefahren scheinen. Kommen<br />
andere Verfassungsinhalte ins Spiel,<br />
um Raum für Kompromisse zu schaffen?<br />
Schwierig abzuschätzen, da über den Verhandlungsstand<br />
insgesamt wenig bekannt<br />
ist. Umstritten sind etwa die Kommissionsgrösse,<br />
der neue Ratspräsident oder der Abbau<br />
von Vetomöglichkeiten. Oder wird doch<br />
ein Paket mit Zugeständnissen im EU-Budget<br />
geschnürt? Schwer vorstellbar – das Geld ist<br />
knapp geworden. Statt Entgegenkommen signalisieren<br />
die Nettozahler finanziellen Druck.<br />
Findet 20<strong>04</strong> keine Annäherung statt,<br />
schwinden die Chancen der Verfassung. Es<br />
könnten sich Stimmen mehren, die Taten statt<br />
Worte fordern. Die Möglichkeit zur verstärkten<br />
Zusammenarbeit einer Ländergruppe<br />
bietet zwar auch der Nizza-Vertrag. Allerdings<br />
gibt es Ausnahmen – eine gewichtige<br />
bei der Verteidigungspolitik. Hier müssten<br />
Integrationsschritte ausserhalb der EU stattfinden.<br />
Das wäre kein Novum. Der Schengen-<br />
Raum ohne Grenzkontrolle ist so entstanden.<br />
Doch es könnte ein Schritt in eine Zukunft<br />
Institutionen<br />
Ratspräsidentschaft<br />
Politikbereiche<br />
Bürgerbegehren<br />
Austrittsklausel<br />
sein, in der die EU mehr zwischenstaatlich<br />
als gemeinschaftlich funktioniert.<br />
Die Priorität liegt vorerst auf der Verfassungslösung,<br />
so der Tenor in Europa. Der<br />
vorliegende Entwurf verspricht mehr Gestaltung<br />
und weniger Blockierung. Er fördert die<br />
Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit<br />
einzelner Mitglieder – gerade auch bei der<br />
Verteidigungspolitik. Selbst Frankreich, das<br />
stets im Verdacht steht, Grösse durch zwischenstaatliche<br />
Zusammenarbeit ausserhalb<br />
der EU-Regeln zu suchen, hat die Verfassung<br />
noch nicht abgeschrieben. «Im Rahmen<br />
der Bestimmungen der künftigen Verfassung»,<br />
hielt Frankreichs Aussenminister Dominique<br />
de Villepin fest, würden zusätzliche Integrationsanstrengungen<br />
diejenigen vereinen, die<br />
bereit sind, weiter zu gehen. Die EU sucht<br />
Flexibilität – für ihre immer zahlreicheren<br />
Mitglieder und für die Beziehungen zu den<br />
Nachbarn in Europa und den Partnern in der<br />
Welt. Die EU sucht aber auch eine Klammer.<br />
Hans-Peter Wäfler<br />
Tel. <strong>01</strong> 333 28 08, hans-peter.waefler@credit-suisse.com<br />
Das will der EU-Verfassungsentwurf<br />
Die Verfassung soll das Regelwerk der EU vereinfachen. Sie rüttelt aber auch an der<br />
Machtverteilung und enthält neue Ideen. Quelle: Credit Suisse Economic & Policy Consulting<br />
■ Ministerrat: Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen erfordern die<br />
Mehrheit der Mitgliedstaaten sowie 60 Prozent der EU-Bevölkerung.<br />
■ Kommission: Die Anzahl Kommissare mit Stimmrecht wird<br />
von 25 auf 15 reduziert. Die Mitgliedstaaten wechseln sich ab.<br />
■ Europäisches Parlament: Sein Mitentscheidungsrecht wird<br />
ausgeweitet. Es wählt den Kommissionspräsidenten.<br />
■ Neu geschaffen wird das Amt eines Ratspräsidenten.<br />
Die halbjährliche Rotation der Mitgliedsländer<br />
in der Ratspräsidentschaft fällt weg.<br />
■ Die Beschlussfassung wird erleichtert, indem das<br />
Abstimmungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit statt<br />
mit Einstimmigkeit auf weitere Politikfelder angewendet wird.<br />
■ Aussenpolitik: Das nationale Vetorecht bleibt. Neu geschaffen wird<br />
das Amt eines EU-Aussenministers.<br />
■ Verteidigungspolitik: Einzelne Mitglieder können sich zu einer<br />
verstärkten Zusammenarbeit entschliessen.<br />
■ Wirtschafts- und Sozialpolitik: Eine stärkere Koordinierung<br />
wird möglich.<br />
■ Steuerpolitik: Bei Entscheidungen zu direkten Steuern bleibt<br />
das nationale Vetorecht.<br />
■ Asyl- und Einwanderungspolitik: Das nationale Vetorecht fällt weg.<br />
■ 1 Million EU-Bürger können mit ihrer Unterschrift die Kommission<br />
veranlassen, zu einem bestimmten Thema einen neuen<br />
Vorschlag auszuarbeiten.<br />
■ Erstmals wird ein Mechanismus geschaffen, damit ein Land<br />
die EU verlassen kann.<br />
«Eine Kern-EU ist<br />
unwahrscheinlich»<br />
Dr. Stephan Kux, Leiter Wirtschaftsförderung,<br />
Amt für Wirtschaft und<br />
Arbeit des Kantons Zürich<br />
Braucht die EU eine Verfassung?<br />
Ein Binnenmarkt ohne Grundrechtskatalog,<br />
eine Währung<br />
ohne Verfassung sind problematisch.<br />
Faktisch hat die EU<br />
auch bereits eine Verfassung –<br />
eine Wirtschaftsverfassung.<br />
Wichtig ist der Prozess, der zu<br />
einer europäischen Verfassung<br />
führt. Erstmals haben wir dann<br />
auch eine gesamteuropäische<br />
Konstituante.<br />
Können die Differenzen zwischen<br />
den «kleinen» und den «grossen»<br />
Ländern zu einer Art Kern-EU<br />
führen?<br />
Differenzen zwischen «kleinen»<br />
und «grossen» Mitgliedstaaten<br />
hat es immer gegeben. Das<br />
politische System der EU ist aber<br />
geprägt durch Konkordanz und<br />
Verhandlungslösungen – auch<br />
wenn die «Grossen» ihre Interessen<br />
manchmal durch das Veto<br />
oder andere Instrumente durchsetzen.<br />
Auch mit 25 Mitgliedstaaten<br />
ist eine Kern-EU wenig<br />
wahrscheinlich.<br />
Welche Herausforderungen stellen<br />
sich in den nächsten Jahren?<br />
Sicher muss die EU die Erweiterung<br />
verdauen. Es wird Jahrzehnte<br />
dauern, bis die neuen<br />
Mitgliedstaaten ihren wirtschaftlichen<br />
Rückstand aufgeholt<br />
haben. Die zentrale<br />
Herausforderung bleiben aber<br />
Wettbewerbsfähigkeit und<br />
Innovationskraft. Hier kann die<br />
Erweiterung als Frischzellenkur<br />
wirken – die gilt es zu<br />
nutzen, sonst fällt der Kontinent<br />
endgültig in eine Eurosklerose.<br />
Credit Suisse Bulletin 1-<strong>04</strong> 47