Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
58 BILDUNG & ERZIEHUNG<br />
„Kinder denken einfach anders“ – was wir<br />
Es stimmt schon. Ein gewisses Maß an Impulskontrolle<br />
ist eine wichtige Kompetenz – gerade in einer<br />
Zeit, in der immer alles sofort verfügbar ist. Das gilt<br />
für Erwachsene ebenso wie für Kinder. Fassen wir uns<br />
daher zuerst an die eigene Nase (#wielangehalteichmeinen<strong>2022</strong>vorsatzdurch):<br />
Wir könnten uns vor jedem<br />
vorschnellen „Bestellen“-Klick bei den beliebtesten Onlineversandhändlern<br />
fragen, ob wir deren Gründer zu<br />
weiteren Umsatzrekorden verhelfen wollen oder ob es<br />
ausreicht, erst beim nächsten Stadtbummel nach dem<br />
Objekt der Begierde Ausschau zu halten. Und haben<br />
wir dieses bis dahin längst vergessen, na dann sparen<br />
wir das Geld eben für den langersehnten Urlaub. Auch<br />
für Kinder ist der Belohnungsaufschub manchmal eine<br />
einfache Übung: Beim Adventskalender darf jeden Tag<br />
nur ein Türchen geöffnet werden, und den leckeren<br />
Quetschie gibt’s erst, nachdem er an der Supermarktkasse<br />
bezahlt wurde. Für „Fortgeschrittene“ gilt: Nicht<br />
jede heruntergefallene Kugel Eis muss durch eine neue<br />
ersetzt werden! Wenn wir unseren Kindern mit Verständnis<br />
begegnen und sie ihrem Ärger kurz Luft machen<br />
dürfen, trainieren auch durchgestandene Wutanfälle<br />
langfristig die Impulskontrolle.<br />
Kritische Forscher nahmen den Marshmallow-Test jedoch<br />
genauer unter die Lupe, und siehe da, sie relativierten<br />
die enorme Vorhersagekraft der Entscheidung<br />
um den Mäusespeck für das spätere Sozial- und Berufsleben.<br />
Wir können daher aufatmen (nein, wir sollten<br />
grundsätzlich erst gar nicht in Panik verfallen!), falls<br />
ein Kind sich für eine sofortige Belohnung entscheidet<br />
– es wird sicherlich nicht sozial inkompetent oder gar<br />
ohne Schulabschluss enden!<br />
Außerdem zeigen weitere Befunde, dass die Entscheidung<br />
um das Marshmallow nicht zuletzt mit individuellen<br />
Vorerfahrungen korreliert und von der Tagesform<br />
abhängt. Und damit kommen wir zu zwei wichtigen<br />
Botschaften an uns Eltern. Erstes will heißen, Kinder<br />
brauchen Verlässlichkeit. Ganz klar: Warum auf ein<br />
zweites Marshmallow warten, wenn Eltern ihre Versprechen<br />
nie einhalten? Ebenso nachvollziehbar: Abwarten<br />
ist unnötig, wenn quengeln oder betteln hilft,<br />
damit Eltern doch noch die ganze Tüte Süßkram rausrücken.<br />
schon lang geahnt haben, ist dank Elisabeth<br />
Rose jetzt Gewissheit. Spannende<br />
Themen der Entwicklung behandelt die<br />
Kinder- und Jugendpsychologin in ihrem<br />
Buch. Und in unserer <strong>ELMA</strong>.<br />
Zweitens: Nach einem anstrengenden Tag im Kindergarten<br />
kann die Impulskontrolle aufgebraucht sein.<br />
Das erklärt, warum unser Kind in der KiTa stets gelobt<br />
wird, aber zuhause aus jeder Mücke einen Elefanten<br />
macht. Uns selbst geht das übrigens nicht anders. Etwa<br />
wenn wir uns nach einem anstrengenden Arbeitstag<br />
dabei ertappen, wie wir die für dieses Experiment<br />
vorgesehenen Marshmallows selbst verputzen. Dieses<br />
Phänomen wird unter Psychologen Ego-Depletion<br />
(„Selbsterschöpfung“) genannt. Und das ist überhaupt<br />
nicht schlimm! Wir müssen uns und unseren Kindern<br />
keine absolute Selbstbeherrschung antrainieren! Selbst<br />
Mischel betonte, dass es immer um die Freiheit geht,<br />
bewusst entscheiden zu können, ob man sich einer<br />
Versuchung hingibt oder nicht. Denn neben der Impulskontrolle<br />
gibt es noch weitere wichtige Lernerfahrungen<br />
– zum Beispiel die, dass eine kleine Süßigkeit<br />
zwischendurch glücklich machen kann, wenn man sie<br />
ohne schlechtes Gewissen bewusst genießt (#auchneujahrsvorsätzesindnichtschlechternurweilmansieabundanbricht).<br />
© Andreas Schönberger