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Gesellschaft<br />

Gesellschaft<br />

Özlem Türeci<br />

Biontech – Pfizer<br />

Namen, die heute jeder kennt<br />

Ugur Sahin<br />

Solange wir denken können, ziehen die Menschen auf<br />

dieser Erdkugel umher. Die Ströme gehen von Ost<br />

nach West, von Nord nach Süd. Wir kennen alle die<br />

Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit, mit deren Bilder wir<br />

heute konfrontiert werden. Doch es gab zu allen Zeiten Auswanderer.<br />

Ursachen waren Kriege und Hungersnöte, Menschen<br />

die aus Glaubensgründen oder der Arbeit wegen, ihr<br />

Heimatland oder den Kontinent verließen.<br />

So zog es, unter vielen anderen, auch einen Familienvater<br />

aus der Türkei nach Deutschland. In Köln, bei den<br />

Ford-Werken fand er Arbeit und die Möglichkeit, wenige<br />

Jahre später seine Frau und den kleinen vierjährigen Sohn<br />

nachkommen zu lassen. Wie andere Kinder spielte er Fußball,<br />

doch er interessierte sich mehr für wissenschaftliche<br />

Bücher, die er in der Kirchenbücherei auslieh. Zunächst<br />

wurde dem Grundschüler mit Migrationshintergrund ein<br />

weiterführendes Gymnasium verwehrt. Erst die Fürsprache<br />

eines Nachbarn ermöglichte einen Schulwechsel und<br />

1984 machte er, als erstes türkischstämmiges Facharbeiterkind,<br />

am heutigen Erich-Kästner-Gymnasium in Köln-<br />

Niehl das Abitur.<br />

Längst ist aus dem einstigen Einwandererkind ein namhafter<br />

deutscher Mediziner und Forscher geworden, der als<br />

Professor an der III. Medizinischen Klinik der Universität<br />

Mainz für experimentelle Onkologie forschte.<br />

Die Rede ist von Ugur Sahin, der zusammen mit seiner<br />

Frau Özlem Türeci schon 2006 den Grundstein der Biontechnologie<br />

legte. Damals dachte hierzulande noch niemand<br />

an jenen Virus, der uns nun schon so lange belastet.<br />

Als Inhaber verschiedener Patente vereinbarte Mitte März<br />

2020 das Unternehmen Biontech die Zusammenarbeit mit<br />

den beiden Partnern Fosun Pharma (Shanghai) für den chinesischen<br />

Markt und dem amerikanischen Konzern Pfizer<br />

für den Rest der Welt. Schon 2020 hatte Ugur Sahin erkannt,<br />

dass sich die Pandemie weltweit ausbreiten würde<br />

und er entwickelte den Impfstoff BNT162b2 gegen CO-<br />

VID-19. Heute zählt das Ehepaar Sahin/Türeci weltweit<br />

3 Fotos: Wikimedia Commons<br />

Gedenktafel<br />

zu den führenden Entwicklern des Impfstoffes der neuentdeckten<br />

Infektionskrankheit.<br />

Aber wer von unseren Lesern ahnt, dass der Name des<br />

Unternehmens Biontech-Pfizer, speziell des Konzerns Pfizer<br />

ebenfalls auf deutsche, genauer: schwäbische Wurzeln<br />

zurückblicken kann?<br />

Am 22. März 1824, also 140 Jahre vor Ugur Sahin,<br />

wurde im schwäbischen Ludwigsburg ein gewisser Karl<br />

Pfizer geboren. Als einziger Sohn und fünftes Kind eines<br />

Konditormeisters und Kolonialwarenhändlers, entwickelte<br />

er in seiner Zeit einen weitreichenden Unternehmergeist.<br />

Innerhalb der gut situierten bürgerlichen Familie absolvierte<br />

Karl Pfitzer eine kaufmännische Ausbildung, dann<br />

eine zusätzliche Lehre als Apotheker. Außerdem erlernte<br />

er den Beruf eines Feinchemikers. Gerade einmal 24 Jahre<br />

alt, brach er 1848 zusammen mit seinem vier Jahre älteren<br />

Cousin Karl Erhardt, auch der Konditorzunft zugehörig,<br />

zu einer Reise nach Amerika auf.<br />

Im Gegensatz zu anderen Auswanderern verfügte Pfizer<br />

über Sprachkenntnisse, hatte sich über die amerikanische<br />

Geschichte informiert und verfügte über ein stattliches<br />

Startkapital. Als Kredit lieh er sich 5000 Gulden bei<br />

seinem Vater, dazu hatte er sich einen Teil seines Erbes<br />

auszahlen lassen. Beide schwäbischen Cousins wollten<br />

ihre Ideen produktiv umsetzen und kauften zunächst ein<br />

kleines schlichtes Backstein-Gebäude in Brooklyn. In<br />

dem damals noch hauptsächlich von Deutschen bewohnten<br />

„Häusle“ am East River richteten sich beide Schwaben<br />

ein Büro, einen Lagerraum und ein kleines „Fabrikle“<br />

für die Produktion von feinchemischen Erzeugnissen ein.<br />

Zunächst produzierten sie die Chemikalie Santonin, ein<br />

Mittel gegen parasitäre Würmer, von der die amerikanische<br />

Bevölkerung arg befallen war. Dieses Medikament<br />

schmeckte bis dahin unangenehm bitter. Erhardt hatte den<br />

glücklichen Einfall und ersann als ehemaliger Konditor<br />

eine süße Hülle „wie bei nem Pralinle“, die erste Dragee-<br />

Tablette. Santonin wurde zum Verkaufsschlager.<br />

Bereits 1863 wurden Karl Pfizer und Karl Erhardt eingebürgert,<br />

für sie änderten sich beider Vornamen in Charles.<br />

Zeitlebens hielten sie zu ihrer schwäbischen Heimat einen<br />

sehr engen Kontakt. In Ludwigsburg ehelichte Charles Erhardt<br />

eine Schwester von Charles Pfizer. Aus dem Vetter<br />

wurde auch der Schwager. In Ludwigsburg lernte Charles<br />

Pfizer Anna Hausch kennen, auch sie heirateten in der alten<br />

Heimat.<br />

Für die aufwärtsstrebende Firma wurde das Backstein-<br />

Gebäude zu klein. Beide Cousins eröffneten im Stadtzentrum<br />

von Manhattan schon zeitig ein neues Büro. Das kleine<br />

Unternehmen stellte Borax und Borsäure her und wurde<br />

damit der erste wichtige Produzent dieser Chemikalie in<br />

den USA. Durch Schutzzölle begünstigt begannen sie<br />

mit der Herstellung von Weinsäure, mit der die Wunden<br />

der Unions-Soldaten während des amerikanischen Bürgerkrieges<br />

behandelt wurden. Rasch vergrößerten sie die<br />

Produktpalette. Campher, Jod und Jodsalze, Borax, Weinstein,<br />

Ether, Chlorophorm und Quecksilberverbindungen,<br />

usw. kamen aus dem Hause Pfizer. Das Unternehmen expandierte<br />

und beschäftigte 1876 bereits 150 Arbeiter und<br />

vier Chemiker. Limonaden wie Coca-Cola und Pepsi-Cola<br />

wurden durch die Massenherstellung von Zitronensäure<br />

beispielsweise erst möglich.<br />

Auf der Weltausstellung von 1876 in Philadelphia wurde<br />

Pfizer auch internationale Anerkennung zuteil. Eine<br />

Zeitschrift schrieb: „Der Eigenthümer, ein Württemberger,<br />

hat es verstanden, innerhalb von 20 Jahren aus nichts eine<br />

der größten amerikanischen Industrien zu schaffen.»<br />

Beide Vettern hatten schon zu Lebzeiten ihr Unternehmen<br />

in eine Aktiengesellschaft „Charles Pfizer & Co“<br />

umgewandelt. Charles Erhardt starb 1891, Charles Pfizer<br />

1906. Die weitere Geschäftsleitung teilten sich drei Kinder<br />

beider Familien.<br />

Die Pfizer-Forschung entwickelte 1941 ein Verfahren<br />

zur großtechnischen Fermentierung des Penicillins. Pfizers<br />

Antibiotikum war 200-mal ergiebiger als das herkömmliche<br />

Penicillin und belieferte ab 1944 die halbe Welt.<br />

In den 1950er Jahren suchte der amerikanische Pfizer-<br />

Konzern einen Produktionsstandort in Deutschland. Der<br />

Heimatort Ludwigsburg war in der engeren Wahl. Doch<br />

den Zuschlag bekam Karlsruhe, dort bot sich ein günstigeres<br />

Gelände an.<br />

Die deutsche Pfizer-Niederlassung veranlasste1966 am<br />

Geburtshaus von Karl Pfizer eine Gedenktafel anzubringen,<br />

aber schon 1972 wurde das Haus abgerissen.<br />

Weltweit stand der Pharmakonzern 1998 im Rampenlicht.<br />

Eigentlich wollte Pfizer ein Medikament gegen Herzinfarkte<br />

und ähnliche Durchblutungsstörungen entwickeln.<br />

Eine Wirksamkeit konnte nicht bewiesen werden, stattdessen<br />

wirkte das Mittel bei den männlichen Probanden<br />

an völlig unerwarteter Stelle und führte zu Erektionen. Es<br />

wurde unter dem Handelsnamen Viagra bekannt, als das<br />

erste Potenzmittel. Für Pfizer wurde es ein weiterer Riesenerfolg.<br />

Auch in unserer Umgebung wurde innerhalb der schlimmen<br />

Entwicklung der Pandemie nach einer neuen Stätte für<br />

die Entwicklung und Produktion eines BioNTech-Impfstoffs<br />

gesucht. Ins Gespräch kam Marburg. Die Hoffnungen<br />

und Erwartungen waren groß. Mit der Produktion wurde<br />

im Frühjahr/Sommer des letzten Jahres begonnen. Was nun<br />

auch in unserer näheren Umgebung entwickelt wird, ist für<br />

uns Menschen wirklich wichtiger als Gold geworden.<br />

Deshalb: Denken SWie an Karl Pfizer und Ugur Sahin<br />

und lassen Sie sich impfen. Vor allem „bleiben Sie gesund“.<br />

Eva-Maria Herrmann<br />

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