db-WEB 1-2022
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Gesellschaft<br />
Gesellschaft<br />
Özlem Türeci<br />
Biontech – Pfizer<br />
Namen, die heute jeder kennt<br />
Ugur Sahin<br />
Solange wir denken können, ziehen die Menschen auf<br />
dieser Erdkugel umher. Die Ströme gehen von Ost<br />
nach West, von Nord nach Süd. Wir kennen alle die<br />
Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit, mit deren Bilder wir<br />
heute konfrontiert werden. Doch es gab zu allen Zeiten Auswanderer.<br />
Ursachen waren Kriege und Hungersnöte, Menschen<br />
die aus Glaubensgründen oder der Arbeit wegen, ihr<br />
Heimatland oder den Kontinent verließen.<br />
So zog es, unter vielen anderen, auch einen Familienvater<br />
aus der Türkei nach Deutschland. In Köln, bei den<br />
Ford-Werken fand er Arbeit und die Möglichkeit, wenige<br />
Jahre später seine Frau und den kleinen vierjährigen Sohn<br />
nachkommen zu lassen. Wie andere Kinder spielte er Fußball,<br />
doch er interessierte sich mehr für wissenschaftliche<br />
Bücher, die er in der Kirchenbücherei auslieh. Zunächst<br />
wurde dem Grundschüler mit Migrationshintergrund ein<br />
weiterführendes Gymnasium verwehrt. Erst die Fürsprache<br />
eines Nachbarn ermöglichte einen Schulwechsel und<br />
1984 machte er, als erstes türkischstämmiges Facharbeiterkind,<br />
am heutigen Erich-Kästner-Gymnasium in Köln-<br />
Niehl das Abitur.<br />
Längst ist aus dem einstigen Einwandererkind ein namhafter<br />
deutscher Mediziner und Forscher geworden, der als<br />
Professor an der III. Medizinischen Klinik der Universität<br />
Mainz für experimentelle Onkologie forschte.<br />
Die Rede ist von Ugur Sahin, der zusammen mit seiner<br />
Frau Özlem Türeci schon 2006 den Grundstein der Biontechnologie<br />
legte. Damals dachte hierzulande noch niemand<br />
an jenen Virus, der uns nun schon so lange belastet.<br />
Als Inhaber verschiedener Patente vereinbarte Mitte März<br />
2020 das Unternehmen Biontech die Zusammenarbeit mit<br />
den beiden Partnern Fosun Pharma (Shanghai) für den chinesischen<br />
Markt und dem amerikanischen Konzern Pfizer<br />
für den Rest der Welt. Schon 2020 hatte Ugur Sahin erkannt,<br />
dass sich die Pandemie weltweit ausbreiten würde<br />
und er entwickelte den Impfstoff BNT162b2 gegen CO-<br />
VID-19. Heute zählt das Ehepaar Sahin/Türeci weltweit<br />
3 Fotos: Wikimedia Commons<br />
Gedenktafel<br />
zu den führenden Entwicklern des Impfstoffes der neuentdeckten<br />
Infektionskrankheit.<br />
Aber wer von unseren Lesern ahnt, dass der Name des<br />
Unternehmens Biontech-Pfizer, speziell des Konzerns Pfizer<br />
ebenfalls auf deutsche, genauer: schwäbische Wurzeln<br />
zurückblicken kann?<br />
Am 22. März 1824, also 140 Jahre vor Ugur Sahin,<br />
wurde im schwäbischen Ludwigsburg ein gewisser Karl<br />
Pfizer geboren. Als einziger Sohn und fünftes Kind eines<br />
Konditormeisters und Kolonialwarenhändlers, entwickelte<br />
er in seiner Zeit einen weitreichenden Unternehmergeist.<br />
Innerhalb der gut situierten bürgerlichen Familie absolvierte<br />
Karl Pfitzer eine kaufmännische Ausbildung, dann<br />
eine zusätzliche Lehre als Apotheker. Außerdem erlernte<br />
er den Beruf eines Feinchemikers. Gerade einmal 24 Jahre<br />
alt, brach er 1848 zusammen mit seinem vier Jahre älteren<br />
Cousin Karl Erhardt, auch der Konditorzunft zugehörig,<br />
zu einer Reise nach Amerika auf.<br />
Im Gegensatz zu anderen Auswanderern verfügte Pfizer<br />
über Sprachkenntnisse, hatte sich über die amerikanische<br />
Geschichte informiert und verfügte über ein stattliches<br />
Startkapital. Als Kredit lieh er sich 5000 Gulden bei<br />
seinem Vater, dazu hatte er sich einen Teil seines Erbes<br />
auszahlen lassen. Beide schwäbischen Cousins wollten<br />
ihre Ideen produktiv umsetzen und kauften zunächst ein<br />
kleines schlichtes Backstein-Gebäude in Brooklyn. In<br />
dem damals noch hauptsächlich von Deutschen bewohnten<br />
„Häusle“ am East River richteten sich beide Schwaben<br />
ein Büro, einen Lagerraum und ein kleines „Fabrikle“<br />
für die Produktion von feinchemischen Erzeugnissen ein.<br />
Zunächst produzierten sie die Chemikalie Santonin, ein<br />
Mittel gegen parasitäre Würmer, von der die amerikanische<br />
Bevölkerung arg befallen war. Dieses Medikament<br />
schmeckte bis dahin unangenehm bitter. Erhardt hatte den<br />
glücklichen Einfall und ersann als ehemaliger Konditor<br />
eine süße Hülle „wie bei nem Pralinle“, die erste Dragee-<br />
Tablette. Santonin wurde zum Verkaufsschlager.<br />
Bereits 1863 wurden Karl Pfizer und Karl Erhardt eingebürgert,<br />
für sie änderten sich beider Vornamen in Charles.<br />
Zeitlebens hielten sie zu ihrer schwäbischen Heimat einen<br />
sehr engen Kontakt. In Ludwigsburg ehelichte Charles Erhardt<br />
eine Schwester von Charles Pfizer. Aus dem Vetter<br />
wurde auch der Schwager. In Ludwigsburg lernte Charles<br />
Pfizer Anna Hausch kennen, auch sie heirateten in der alten<br />
Heimat.<br />
Für die aufwärtsstrebende Firma wurde das Backstein-<br />
Gebäude zu klein. Beide Cousins eröffneten im Stadtzentrum<br />
von Manhattan schon zeitig ein neues Büro. Das kleine<br />
Unternehmen stellte Borax und Borsäure her und wurde<br />
damit der erste wichtige Produzent dieser Chemikalie in<br />
den USA. Durch Schutzzölle begünstigt begannen sie<br />
mit der Herstellung von Weinsäure, mit der die Wunden<br />
der Unions-Soldaten während des amerikanischen Bürgerkrieges<br />
behandelt wurden. Rasch vergrößerten sie die<br />
Produktpalette. Campher, Jod und Jodsalze, Borax, Weinstein,<br />
Ether, Chlorophorm und Quecksilberverbindungen,<br />
usw. kamen aus dem Hause Pfizer. Das Unternehmen expandierte<br />
und beschäftigte 1876 bereits 150 Arbeiter und<br />
vier Chemiker. Limonaden wie Coca-Cola und Pepsi-Cola<br />
wurden durch die Massenherstellung von Zitronensäure<br />
beispielsweise erst möglich.<br />
Auf der Weltausstellung von 1876 in Philadelphia wurde<br />
Pfizer auch internationale Anerkennung zuteil. Eine<br />
Zeitschrift schrieb: „Der Eigenthümer, ein Württemberger,<br />
hat es verstanden, innerhalb von 20 Jahren aus nichts eine<br />
der größten amerikanischen Industrien zu schaffen.»<br />
Beide Vettern hatten schon zu Lebzeiten ihr Unternehmen<br />
in eine Aktiengesellschaft „Charles Pfizer & Co“<br />
umgewandelt. Charles Erhardt starb 1891, Charles Pfizer<br />
1906. Die weitere Geschäftsleitung teilten sich drei Kinder<br />
beider Familien.<br />
Die Pfizer-Forschung entwickelte 1941 ein Verfahren<br />
zur großtechnischen Fermentierung des Penicillins. Pfizers<br />
Antibiotikum war 200-mal ergiebiger als das herkömmliche<br />
Penicillin und belieferte ab 1944 die halbe Welt.<br />
In den 1950er Jahren suchte der amerikanische Pfizer-<br />
Konzern einen Produktionsstandort in Deutschland. Der<br />
Heimatort Ludwigsburg war in der engeren Wahl. Doch<br />
den Zuschlag bekam Karlsruhe, dort bot sich ein günstigeres<br />
Gelände an.<br />
Die deutsche Pfizer-Niederlassung veranlasste1966 am<br />
Geburtshaus von Karl Pfizer eine Gedenktafel anzubringen,<br />
aber schon 1972 wurde das Haus abgerissen.<br />
Weltweit stand der Pharmakonzern 1998 im Rampenlicht.<br />
Eigentlich wollte Pfizer ein Medikament gegen Herzinfarkte<br />
und ähnliche Durchblutungsstörungen entwickeln.<br />
Eine Wirksamkeit konnte nicht bewiesen werden, stattdessen<br />
wirkte das Mittel bei den männlichen Probanden<br />
an völlig unerwarteter Stelle und führte zu Erektionen. Es<br />
wurde unter dem Handelsnamen Viagra bekannt, als das<br />
erste Potenzmittel. Für Pfizer wurde es ein weiterer Riesenerfolg.<br />
Auch in unserer Umgebung wurde innerhalb der schlimmen<br />
Entwicklung der Pandemie nach einer neuen Stätte für<br />
die Entwicklung und Produktion eines BioNTech-Impfstoffs<br />
gesucht. Ins Gespräch kam Marburg. Die Hoffnungen<br />
und Erwartungen waren groß. Mit der Produktion wurde<br />
im Frühjahr/Sommer des letzten Jahres begonnen. Was nun<br />
auch in unserer näheren Umgebung entwickelt wird, ist für<br />
uns Menschen wirklich wichtiger als Gold geworden.<br />
Deshalb: Denken SWie an Karl Pfizer und Ugur Sahin<br />
und lassen Sie sich impfen. Vor allem „bleiben Sie gesund“.<br />
Eva-Maria Herrmann<br />
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