21.02.2022 Aufrufe

db-WEB 1-2022

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Neues Instrument der<br />

Bürgerbeteiligung<br />

Am 22. Dezember 2021 beschloss der Rat der Universitätsstadt<br />

Siegen die Einführung von Bürgerräten.<br />

Die Inanspruchnahme dieses anerkannten Instruments<br />

der Bürgerbeteiligung hatte die Gruppe „Transition<br />

Siegen“ vorgeschlagen.<br />

Was ist ein Bürgerrat? 1)<br />

Bürgerräte sind Gremien aus zufällig ausgelosten Bürgerinnen<br />

und Bürgern, welche zu einzelnen kommunalen Themen<br />

Ideen, Vorschläge, Anregungen und Kritik erarbeiten. Dies<br />

erfolgt mit Hilfe von externer professioneller und unabhängiger<br />

Moderation und mündet in einen thematischen Konzeptvorschlag,<br />

welcher der Verwaltung, Politik und Öffentlichkeit<br />

vorgestellt wird. Das Positionspapier des Bürgerrats kann den<br />

Rat der Stadt Siegen sowie weitere Gremien hinsichtlich der<br />

Beschlusskompetenz durch neue, sachlich fundierte und konstruktive<br />

Vorschläge unterstützen. Bürgerinnen und Bürgern<br />

wird dadurch eine weitere Möglichkeit zur Teilhabe und Partizipation<br />

ermöglicht. Sie können mitwirken und Entscheidungsprozesse<br />

von Verwaltung und Politik begleiten und mitgestalten.<br />

Die Besetzung des Bürgerrates wird ausdrücklich nicht<br />

aufgrund von Vorschlägen durch Fraktionen, Lobbyverbände<br />

und anderen Interessensgruppen besetzt. Diese sind<br />

auch in der Mitarbeit nicht vorgesehen.<br />

Üblicherweise erarbeiten Bürgerräte in mehrtägigen<br />

Werkstätten eine unmittelbare Empfehlung aus der Bürgerschaft<br />

an die Ratspolitik zu ausgewählten großen, gesamtstädtischen<br />

Herausforderungen. Und daran besteht in<br />

Siegen kein Mangel. Die Stadt befindet sich im Wandel: in<br />

der Innenstadtentwicklung, in der Mobilität, beim Wohnen,<br />

bei der Digitalisierung, beim Klima, bei Themen der Teilhabe,<br />

der Bildung und sozialen Gerechtigkeit. Wie wäre<br />

es, wenn bei diesen großen Fragen unserer Zeit die Leute<br />

mitreden? Zum Beispiel „Wie können wir angemessen auf<br />

den Klimawandel reagieren?“ oder „Wie kann das Pflegesystem<br />

verbessert werden?“<br />

Bürgerrat in Siegen<br />

Wie funktioniert ein Bürgerrat? 1)<br />

Zunächst ist ein Thema zu definieren, über das ein Bürgerrat<br />

beraten soll. Das Thema sollte von öffentlichem<br />

Interesse und möglichst konkret sein, um somit zielgenau<br />

arbeiten zu können. Hier bieten sich Themen aus vielfältigen<br />

gesellschaftlichen Bereichen an, wie z. B. Klimaschutz,<br />

nachhaltige Mobilität, ausgewählte Städtebauprojekte,<br />

Digitalisierung oder Stärkung von Freizeit- und Sportangeboten.<br />

Die Auswahl erfolgt durch die Verwaltung.<br />

Sobald ein Thema festgelegt wurde, steht die Auswahl<br />

von Bürgerinnen und Bürger an. Diese werden in einem<br />

mehrstufigen Prozesses zunächst über eine Zufallsstichprobe<br />

aus dem Einwohnermelderegister ausgewählt und zur<br />

Mitarbeit eingeladen. Die ausgewählten Bürgerinnen und<br />

Bürger erhalten daraufhin ein Anschreiben mit Bitte um<br />

Rückmeldung hinsichtlich der Bereitschaft der Teilnahme…<br />

Weiteres Vorgehen 1)<br />

…Wenn sich der Prozess im Ganzen als positiv darstellt,<br />

sollten Bürgerräte langfristig in das Portfolio der Bürgerbeteiligungen<br />

der Stadt Siegen aufgenommen werden. Die<br />

Auswahl der Themen obliegt der Verwaltung. Die Gesamtkosten<br />

der Maßnahme werden mit jährlich 15 Tsd. Euro<br />

veranschlagt.<br />

Das Verfahren ist mit dem Etikett „Bürgerbeteiligung“<br />

ausgestattet. Aber die Auswahl der Themen obliegt der<br />

Verwaltung. Demnach hat diese maßgebenden Einfluss. Es<br />

wird sich zeigen müssen, ob das mit direkter Demokratie<br />

zu tun hat oder mit einer bloßen Konsultation der Bürger.<br />

Damit bleibt den gewählten und demokratisch legitimierten<br />

Ratsmitglieder vorbehalten, ob und welche Konsequenzen<br />

sie daraus ziehen und wann das geschieht.<br />

„Wir werden uns verändern müssen“<br />

Am 04. Juli 2021 gab Bundespräsident Frank-Walter<br />

Steinmeier dem ZDF ein Interview. 2) Der Bundespräsident<br />

56 durchblick 1/<strong>2022</strong><br />

Foto: Wikimedia Commons<br />

äußerte sich über Folgen des Klimawandels, ohne ahnen<br />

zu können, wie dramatisch sich diese wenige Tage später<br />

mit dem Hochwasser vom 14. Juli zeigen sollten. Dennoch<br />

traf er den richtigen Ton: „Wir werden uns verändern müssen“<br />

lautete seine Kernbotschaft. Auch im Zusammenhang<br />

mit der Corona-Pandemie sowie der ständig wachsenden<br />

Digitalisierung sei Veränderung unvermeidlich: „Das geht<br />

an keinem Bereich der Gesellschaft vorbei, Wohnen Bauen,<br />

Mobilität, Autofahren, Schule, Landwirtschaft, Zukunft<br />

des ländlichen Raumes.“ Als unverzichtbare Grundlage<br />

für Veränderungen bezeichnete der Bundespräsident<br />

ein „strategisches Dreieck“, wie es in Island praktiziert<br />

werde. Die Eckpunkte:<br />

1. effektiver Klimaschutz,<br />

2. funktionierende Wirtschaft,<br />

3. Zusammenhalt der Gesellschaft.<br />

Idealerweise lokal<br />

Island? Der größte Teil der dortigen Bevölkerung<br />

(insgesamt ca. 3,6 Mill. Einwohner) lebt in der Hauptstadt<br />

Reykjavik. Hier, in einer überschaubaren Region,<br />

auf lokaler Ebene, lassen sich Gemeinschaftsaufgaben<br />

am leichtesten erkennen und bearbeiten. Sozusagen als<br />

Lokale Agenda. Damit orientieren sich die Isländer an<br />

Empfehlungen einer bereits 1992 stattgefundenen UN-<br />

Konferenz. Damals stellten die Regierungsvertreter aus<br />

178 Nationen fest, dass ein für die Zukunft der Menschheit<br />

verantwortbares Handeln vorrangig auf lokaler<br />

Ebene eingefordert und durchgesetzt werden kann.<br />

Weltweit sollten Städte jeweils örtliche Erfordernisse benennen<br />

und in einen sogenannten AGENDA 21-Prozeß<br />

einbringen. Als Maßstab für das weitere Vorgehen sollte<br />

gelten, was laut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier<br />

jetzt beispielhaft in Island geschieht: Lokale Projekte mit<br />

dem Anspruch auf ökologische, ökonomische und soziale<br />

Nachhaltigkeit. Die Forderungen der Konferenz von 1992<br />

wurden in den 90er Jahren von zahlreichen Kommunen<br />

aufgegriffen. Auch in Deutschland.<br />

„Was heißt das auf Deutsch?“<br />

Im April 1998 folgte der Rat der Stadt Siegen einem<br />

Aufruf der Bundesregierung und beschloss, ein Programm<br />

für die zukunftsfähige Entwicklung der Stadt zu konzipieren.<br />

Dies sollte unter Beteiligung aller gesellschaftlichen<br />

Gruppen, öffentlichen Einrichtungen und der Wirtschaft<br />

geschehen. Bereits kurz nach dem Beschluss zeigten<br />

Mitglieder des Stadtrates Reaktionen von staunender Ahnungslosigkeit<br />

(„Hab ich noch nie gehört, was heißt das<br />

auf Deutsch?“) über Misstrauen bis zu strikter Ablehnung<br />

(„Mit Umwelt haben wir uns lange genug befasst. Jetzt<br />

geht es um Arbeitsplätze!“). Erhebliche Vorbehalte äußerte<br />

auch die Industrie- und Handelskammer Siegen und<br />

stellte Bedingungen für eine Beteiligung. Der Prozess startete<br />

mit 13 Arbeitsgruppen. Als die erste Euphorie verpufft<br />

war, gab’s noch sieben.<br />

Gesellschaft<br />

Nach uns die Sintflut?<br />

Der Siegener Seniorenbeirat setzte (ebenfalls kurz nach<br />

dem Ratsbeschluss) den Schwerpunkt „Soziale Nachhaltigkeit“<br />

obenan auf seine Prioritätenliste. Die damit befasste<br />

Arbeitsgruppe (Agenda-AG ALTERaktiv)<br />

• regte die Einrichtung einer Geschäftsstelle für die Agendaarbeit<br />

an einschließlich Engagement für deren Finanzierung<br />

im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme<br />

• organisierte und begleitete eine von der UNI Siegen<br />

durchgeführte Befragung älterer Menschen in Siegen<br />

• gründete 2000 das landesweit erste Internetcafé für<br />

Senioren (Senecafé)<br />

• richtete einen Internet-Auftritt ein (senioren-siegen.de)<br />

• setzte sich für die Gründung einer Bürgerstiftung ein,<br />

außerdem für eine Anlaufstelle für ehrenamtliches<br />

Engagement.<br />

Eine beantragte Unterstützung in Höhe von 1 Tsd. DM für<br />

entstandene und absehbare Aufwendungen wurde vom<br />

Haupt- und Finanzausschuss (HFA) des Stadtrats abgelehnt.<br />

Das Engagement der Arbeitsgruppen wurde als<br />

„weitgehend wirkungslos“ bezeichnet und ihnen städtische<br />

Verwaltungsangestellte als „Betreuer“ zugeordnet.<br />

Die Arbeitsgruppe AL-<br />

TERaktiv z.B. verzichtete<br />

auf Betreuung und entwickelte<br />

sich zu einem eingetragenen<br />

Verein, unter<br />

dessen Dach sich zahlreiche<br />

selbstständig handelnde<br />

Arbeitsgruppen bildeten.<br />

Im Hinblick auf die Einrichtung<br />

von Bürgerräten –<br />

aber auch bezogen auf die<br />

Bundespräsident Steinmeier<br />

von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geforderten<br />

Veränderungen – wird sich zeigen, welchen Einfluss die Bedenkenträger<br />

und Bremser im politisch-administrativen und<br />

Medienbereich noch immer haben. Erich Kerkhoff<br />

Quelle: 1) Verwaltungsvorlage Nr. 686/2021 vom 06.12.2021. 2) https://www.zdf.de/<br />

politik/berlin-direkt/berlin-direkt---sommerinterview-vom-4-juli-2021-100.html<br />

1/<strong>2022</strong> durchblick 57

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!