Andrássy Nachrichten Nr. 23 (2022/2)
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Andrássy Nachrichten / Wintersemester 2022 / Seite 39
ter für Internationale Beziehungen an der AUB, Dr.
Heinrich Kreft.
Als erstes ging Norbert Mappes-Niediek, seit 1992
freier Korrespondent für Österreich und Südosteuropa,
auf die Schwierigkeiten zwischen Ost und West in der
Europäischen Union ein. Seine Beobachtungen hat er
in seinem kürzlich erschienenen und viel beachteten
Buch „Europas geteilter Himmel: Warum der Westen
den Osten nicht versteht“ zusammengefasst. Hier finden
sich Aspekte von Ess- und Trinksitten, Religion,
das unterschiedliche Verständnis von Toleranz, die viel
debattierte öffentliche Homophobie, die Unterscheidung
zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität,
bis hin zu den enormen Bevölkerungsbewegungen von
Ost nach West und dem Entwicklungsmodell, das sich
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf dem Kontinent
durchgesetzt hat. Auf Letzterem lag der Fokus
seines Vortrags, wenngleich es seiner Ansicht nach zwischen
all diesen Kontroversen schlussendlich einen inneren
Zusammenhang gibt.
So habe sich mit dem Bröckeln des Ostblocks ein Narrativ
gefestigt, in dem der Westen die Norm und das Ziel,
der Osten dagegen der Anwärter oder gar Schüler sei.
Unterschiede in Kultur und Lebensweise wurden dem
Kommunismus zugeschrieben, den es möglichst schnell
zu überwinden galt. Eine Auseinandersetzung mit den
45 Jahren Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkriegs
sei so ausgehöhlt worden, und nach anfänglichen Krisen
in den 1990ern habe eine „Aufholjagd“ begonnen.
Und tatsächlich habe sich die Wirtschaft schnell erholt,
gleichzeitig wären aber die Unterschiede zwischen
den Ländern immer größer geworden. Zwar investierten
westliche Unternehmen in Osteuropa, doch bauten sie
dabei auf Bedingungen, die Mappes-Niediek „vergiftete
Vorteile“ nannte, nämlich niedrige Löhne und geringe
Steuern, die eine echte Angleichung der Verhältnisse mit
dem Westen verhindern und eine Konkurrenz um billige
Arbeitskräfte zwischen den Ländern fördern würde.
Angesichts dieser düsteren Bilanz meinte Mappes-
Niediek, dass es versäumt worden sei, die richtigen Konsequenzen
zu ziehen, wodurch sich die Unterschiede
zwischen Zentren und Peripherien verfestigen konnten.
Die EU betrachte Migration noch immer als Problem
statt als Triebkraft.
Mit Blick auf Russland stellte der Autor abschließend
fest, dass es viele Probleme Osteuropas nach dem Fall
des Eisernen Vorhangs teile und es sogar Überlegungen
gab, der EU oder gar der NATO beizutreten, die vom
Westen allerdings nie ernst genommen worden seien.
Dr. Eszter Kováts, Politikwissenschaftlerin an der
Eötvös Loránd Universität (ELTE) in Budapest, schloss
sich der Analyse ihres Vorredners an und bekräftigte die
Notwendigkeit, die nach wie vor präsente Trennung zwischen
Ost und West zu thematisieren und zu diskutieren,
um neue Wege für die Zukunft zu finden. Sie deutete
auf die sozialen Ungleichheiten hin, die insbesondere
in Zeiten der Pandemie deutlich geworden wären.
In ihrer Dissertation hat sich Kováts mit der Instrumentalisierung
von „Genderwahnsinn“ als Konzept der
extremen Rechten in Ungarn und Deutschland beschäftigt,
weshalb sie auch in diesem Vortrag einen Fokus auf
Frauen- und LGBT-Rechte legte, um strukturelle Abhängigkeiten
zu verdeutlichen.
Ein anderes Beispiel seien die Ressourcen für wissenschaftliche
Forschung, etwa die Geschlechterforschung.
Diese kämen aus dem Westen, weshalb dessen Theorien
und Arbeiten tonangebend seien und auf lokale Kontexte
projiziert würden, erklärte die Politikwissenschaftlerin.
LGBT-Aktivismus habe auch im Osten tiefe Wurzeln,
sei in den vergangenen Jahrzehnten jedoch zunehmend
verwestlicht worden – einerseits durch Förderung und
Themensetzung aus dem Westen, andererseits durch die
Instrumentalisierung populistischer Gruppen als „Bedrohung
aus Brüssel“ gegen die eigene Kultur. Der Begriff
„europäische Werte“ verstecke eine Doppelmoral,
die im Osten sehr wohl wahrgenommen werde und ein
massiver Trennfaktor sei, ergänzte Kováts.
In der sich anschließenden Diskussion wurde besonders
der Unterschied zwischen Zentren und Peripherien
thematisiert. In allen Ländern der Welt gebe es schließlich
abgehängte oder zumindest sekundäre Regionen,
doch sei es falsch, zu versuchen, diese anzugleichen.
Stattdessen müsse der Transfer in diese Regionen verbessert
werden, um eine echte Kompensation zu bieten,
so Mappes-Niediek.
Auf Fragen nach Werteunterschieden verwies Kováts
auf die Bedeutung von Zugängen zu Ressourcen, die viel
zentraler seien als Ideale von Toleranz und Offenheit.
So beobachte sie eine Trennung der Werte nach gesellschaftlichen
Klassen, wobei materielle Sorgen missachtet
würden zugunsten der scheinbaren Universalität teilweise
sehr neuer Konzepte.
Zum Schluss richtete Molnár einen Appell an die Anwesenden,
vermeintlich historische Notwendigkeiten
nicht als selbstverständlich anzusehen, sondern stattdessen
immer Alternativen zu suchen und Visionen zu
verfolgen, anstatt diese Bereiche antidemokratischen
Kräften zu überlassen. Krefts abschließende Frage, ob
Ungarns Regierung angesichts der Argumente für einen
verbesserten Transfer zwischen den Regionen für mehr
Föderalismus einstehen müsste, verneinte Mappes-Niediek
mit dem Verweis auf die vom neoliberalen Modell
befeuerte Konkurrenz zwischen den Staaten, die identitäre
Gruppen und Antagonismen stärke.
Die Diskussion wurde in informellem Rahmen
beim anschließenden Empfang auf Einladung der
FES fortgesetzt.
Frauke Mogli Seebass