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Das Magazin für Popkultur
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Krimi<br />
Risiken und Nebenwirkungen<br />
Wer einen Krankenhausaufenthalt überlebt, zählt zweifelsohne zu den<br />
Glücklichen. Bangt es einen lediglich vor den unkontrollierbaren<br />
Körpereingriffen zwischen Anästhesie und Aufwachraum, ist einem<br />
das tatsächliche Gefährdungsspektrum in der stationären Bettlage<br />
allerdings nicht bewusst. Wer von Keimen und Convenience-Food<br />
nicht dahingerafft wird, kann immer noch auf jemanden wie Schwester<br />
Mecki treffen. Die hat als barmherzige Schicksalsgöttin schon manch aussichtslosen Fall<br />
eigenmächtig auf den Weg gen Himmel entlassen. Ihre variantenreiche Sterbehilfe vor<br />
zehn Jahren im Krankenhaus in Soltau ist unentdeckt geblieben – doch umgeht die sündige<br />
Kirchenbesucherin das fünfte Gebot jetzt auch auf der Intensivstation in Hamburg-Altona?<br />
Kriminalkommissarin Franka Erdmann und ihr Assistent Alpay Eloğlu ermitteln, nachdem<br />
die Witwe eines jungen Familienvaters Zweifel an dessen Todesursache vorbringt<br />
und die Rechtsmedizin ihren Verdacht bestätigt. Obwohl keine Lebensgefahr bestanden<br />
hat, ist der Patient nach einem Fahrradunfall im Koma verstorben. Hubertus Borck lässt<br />
im zweiten Band seiner Thrillerserie das sympathische Ermittlerduo zur Hochform auflaufen,<br />
nachdem sich auch noch weitere Todesfälle als dubios erweisen. Zwar beruft<br />
sich der Rezensent auf seine Verschwiegenheitspflicht, welche Mittel Borck hier verabreicht,<br />
um die Herzfrequenz zu pushen, doch sein trockener Humor gehört zur abgerundeten<br />
Medikation auf jeden Fall dazu. So erfahren wir den lustigen zweiten Vornamen von<br />
Alpay und, was Franka heimlich auf ihren Oberarm klebt. Diagnose: Glaubwürdiger als<br />
jeder Arztroman, rezeptfrei erhältlich und hochdosiert spannend, um die Wartezeit bis<br />
zur nächsten Chefvisite zu verkürzen. Und: Haben wir hier tatsächlich den ersten Krimi,<br />
in dem ein Blumenkohl zum Mordwerkzeug wird? nh<br />
Hubertus Borck Die Klinik<br />
Rowohlt, 2023, 400 S., 12 Euro<br />
„Scheißsonnenuntergang“<br />
„Magst du ihn nicht?“<br />
„Ich mag die Nacht.“<br />
Gegen Abend schimmert der Himmel über Houston<br />
pink und lilafarben, doch Audrey sieht lieber<br />
Pfirsich-Martinis oder die nächste Linie Koks im<br />
Neonlicht leuchten. Zusammen mit ihr entdeckt<br />
Charlotte die Schattenseiten des Großstadtlebens,<br />
wo auch ihre brutal ermordete Freundin Danielle<br />
zu Hause war. Sie taucht ein in eine Szene, die<br />
hoffnungslos von Onlinepornos, Drogen und<br />
Gewalt beherrscht ist, und droht sich zu verlieren.<br />
Verheißt das Schimmern im Osten einen neuen Tag,<br />
der die Normalität zurückbringt? Melissa Ginsburg<br />
verbindet in ihrem grandiosen<br />
Debütroman Stilmittel des Noir<br />
mit einer beklemmenden Dar -<br />
stellung unerfüllter Sehnsüchte.<br />
Melissa Ginsburg Sunset City<br />
Polar, 2023, 228 S., 17 Euro<br />
Aus d. Engl. v. Kathrin Bielfeldt<br />
Wenn die Treppe knarrt …<br />
In Island wohnen nur nette Menschen mit lustigen<br />
Namen und dicken Pullis? Eva Björg Ægisdóttir<br />
zeigt Erschreckendes in einer betulichen Kleinstadt.<br />
›<br />
„Marrið í stiganum“ heißt der Debütroman der isländischen Autorin<br />
Eva Björg Ægisdóttir im Original. Die deutsche Übersetzung kommt<br />
mit dem Einworttitel „Verschwiegen“ auf den Markt. Das Marketing der<br />
hiesigen Verlage setzt eben seit Stig Larson auf plakative Schlagworte,<br />
um skandinavische Serienspannung zu labeln. Dabei würde „Das<br />
Knarren der Treppe“ auch hier Gänsehaut-Grusel versprechen. Aber gut,<br />
verschwiegen sind die Kleinstädter im hohen Norden natürlich auch, und<br />
hinter so manch einer der bunten Türen verbirgt sich ein mehr oder weniger<br />
schlimmes Geheimnis. In der kleinen Hafenstadt Arkranes kennt man<br />
sich. Trotzdem geschehen hier tragische Unfälle, Mord und Missbrauch.<br />
Für Polizistin Elma heißt es also: Winterjacke an, Reißverschluss ganz<br />
nach oben ziehen und die Fellmütze auf. Nach dem Ende einer Beziehung<br />
ist sie gerade von Reykjavik in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Als eine<br />
zunächst unbekannte Tote am Leuchtturm gefunden wird, versucht Elma<br />
zusammen mit ihren neuen Kollegen Saevar und Hördur, die Hinter -<br />
gründe aufzuklären. In Rückblenden in die Jahree 1989 bis 1992 erfahren<br />
wir von den befreundeten Mädchen Elisabeth und Sara, die zu dieser<br />
Zeit nicht einmal Teenager sind und sich manche Dinge einfach noch<br />
nicht erklären können. Eine von ihnen wird spurlos verschwinden, die<br />
andere Jahrzehnte später am Leuchtturm gefunden werden.<br />
Eva Björg<br />
Ægisdóttir<br />
Verschwiegen<br />
Kiwi, 2023<br />
368 S., 17 Euro<br />
Aus d. Isländ. v.<br />
Freyja Melsted<br />
Im ersten Band der Krimireihe prägt Eva Björg Ægisdóttir ihren eigenen<br />
Stil, der weder durchgeknallte Serientäter noch seelisch labile Ermittler<br />
braucht. Elma ist wohltuend geerdet, und auch ihre Kollegen wurden<br />
nicht aus der Klischeekiste gezogen. Von manch schablonenhaften<br />
Provence-Krimis ist Ægisdóttirs Debüt nicht nur geografisch weit entfernt.<br />
In Island ist alltäglicher Horror nicht durch die wenigen Stunden Tages -<br />
licht im Winter zu rechtfertigen. Doch wer kann schon über die richten,<br />
die ein ungesühntes Verbrechen ein Leben lang begleitet? Für ein kleines<br />
Mädchen kann es zum Horror werden, wenn die Treppe knarrt …<br />
+++ Der zweite Teil Verlogen erscheint im August +++<br />
Nils Heuner<br />
Foto: Leifur Wilberg<br />
56 | <strong>kulturnews</strong>