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vsao Journal Nr. 3 - Juni 2023

Digital - Von Maschinen und Menschen Politik - Die Umfrage zeigt Bedenkliches Reisemedizin - Vor- und Nachsorge Tendinopathien - «Handfeste» Schmerzen

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Weiterbildung / Arbeitsbedingungen<br />

Im AA-Universum<br />

«Gibt es überhaupt etwas,<br />

das du alleine kannst?»<br />

Und ehe man sich’s versieht,<br />

sitzt man vor dem Spitalfotografen<br />

und posiert brav<br />

für das Bild auf dem neuen<br />

Badge, der mich als Assistenzärztin<br />

ausweist. Sass ich nicht gerade noch<br />

anonym im Uni-Hörsaal und lauschte<br />

halb beteiligt den Vorlesungen zu?<br />

Im Zentrum standen noch die Fragen,<br />

wie man am besten die Zeit totschlagen<br />

konnte oder was man für die Prüfung<br />

lernen sollte und was vernachlässigbar<br />

war. Oder man träumte vom spannenden<br />

und aufregenden, zukünftigen Klinikalltag<br />

und besprach mit den Kollegen,<br />

wo man sich am besten bewerben solle.<br />

Plötzlich steht man mitten im Geschehen,<br />

Klemmbrett und Stationsliste<br />

unter dem Arm und in der Hosentasche<br />

ein Telefon, das im Drei-Minuten-Takt<br />

klingelt. Visite, Untersuchungen, Pflegerapport,<br />

Verordnungen, Berichteschreiben<br />

und Dokumentationen – alles läuft<br />

parallel und muss schnell gehen. Die<br />

Frage ist nur, wie man das alles gleichzeitig<br />

unter einen Hut bringen soll. Zugleich<br />

sollte man immer souverän und selbstsicher<br />

aussehen und ebenso handeln.<br />

Vielleicht war das der Part der Vorlesung,<br />

den man ausgelassen hatte. Von «Überleben<br />

im Klinikalltag» habe ich während<br />

den sechs Studienjahren jedoch kaum<br />

etwas gehört. Das interessiert jetzt aber<br />

niemanden, denn Arzt ist Arzt, und es<br />

wird erwartet, dass man sich so benimmt<br />

und funktioniert. «Fake it till you make<br />

it», wurde mir gleich als erstes geraten.<br />

Alles klar.<br />

Aber erstmal wird brav mit Namen<br />

und –«ich bin die neue Assistenzärztin»<br />

vorgestellt, am besten einfach bei allen,<br />

die einem über den Weg laufen.<br />

Wobei – Moment – war das nicht eben<br />

eine Patientin?<br />

Während ich andauernd versuche,<br />

allen unbekannten Informationen mit<br />

einem wissenden Lächeln zu begegnen<br />

und selbstsicher durch die Gänge zu<br />

schreiten, trete ich vor lauter Aufregung<br />

am Laufmeter in Fettnäpfchen. Ich lande<br />

im falschen Patientenzimmer, spreche<br />

Patienten mit falschem Namen an oder<br />

kann mich schon wieder nicht an den<br />

Vornamen der Kollegin erinnern. Alles<br />

Dinge, die mir als UHU nie passiert wären.<br />

Nur waren das damals meine einzigen<br />

Sorgen. Und so kommt es, dass ich tatsächlich<br />

freiwillig lieber wieder als Unterassistentin<br />

fungieren oder noch lieber<br />

wieder in den langweiligen Hörsaal<br />

teleportiert werden würde. Da konnte<br />

man wenigstens noch selbst entscheiden,<br />

wann man zur Toilette ging, und zur<br />

Pause wurde regelmässig geklingelt.<br />

Gleichzeitig frage ich mich, ob ich nicht<br />

doch lieber gleich den Beruf wechseln<br />

und als Strassenmusikerin oder Bildhauerin<br />

einsteigen solle.<br />

Genug mit Selbstmitleid, der Tag geht<br />

schliesslich weiter. Um 16.00 Uhr fühle<br />

ich mich zunehmend wie eine ausgetrocknete<br />

und hängende Pflanze. Hypovolämie<br />

und Hypoglykämie? Oder bin ich einfach<br />

noch zu schwach und zu wenig abgehärtet<br />

für den Klinikalltag? Wie auch immer –<br />

einfach weiterlächeln und so aussehen,<br />

als würde man frisch aus der Dusche<br />

tanzen. Und als Anfängerin ja keine<br />

Schwäche zeigen.<br />

Um 18 Uhr nach dem Abendapport<br />

frage ich mich, wo genau unterwegs<br />

meine Struktur und innere Ruhe verloren<br />

gegangen sind und ob überhaupt jemals<br />

wieder Ordnung in meinem Hirn herrschen<br />

wird.<br />

Die Stationsliste ist so vollgekritzelt,<br />

dass ich sie selbst nicht mehr lesen kann.<br />

Mit Hitzewallungen und hochrotem Kopf<br />

sehe ich mittlerweile aus wie ein rumgescheuchtes<br />

und zerzaustes Huhn, was mir<br />

natürlich jegliche Plausibilität als Ärztin<br />

nimmt. Und vor lauter Erschöpfung<br />

werde ich auch noch vergesslich und<br />

verliere schier die zeitliche und örtliche<br />

Orientierung (zur Person und zur<br />

Umgebung).<br />

«Gibt es denn überhaupt etwas,<br />

das du alleine kannst?», werde ich zum<br />

Schluss noch gefragt. Ich bin mir<br />

ehrlichgesagt auch nicht mehr sicher.<br />

Wenigstens finde ich den Heimweg<br />

noch selbst.<br />

Camille Bertossa,<br />

Assistenzärztin im<br />

1. Weiterbildungsjahr<br />

Bild: zvg<br />

<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 3/23 21

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