08.06.2023 Aufrufe

vsao Journal Nr. 3 - Juni 2023

Digital - Von Maschinen und Menschen Politik - Die Umfrage zeigt Bedenkliches Reisemedizin - Vor- und Nachsorge Tendinopathien - «Handfeste» Schmerzen

Digital - Von Maschinen und Menschen
Politik - Die Umfrage zeigt Bedenkliches
Reisemedizin - Vor- und Nachsorge
Tendinopathien - «Handfeste» Schmerzen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Fokus: Digital<br />

Die FMH veröffentlichte im<br />

Herbst 2022 eine ausführliche<br />

Publikation über die Einsatzgebiete<br />

künstlicher Intelligenz<br />

im ärztlichen Arbeitsalltag und<br />

benannte dabei auch ethische Herausforderungen.<br />

Offensichtlich haben neue<br />

innovative Softwareprogramme damit<br />

begonnen, die klinische Patientenversorgung<br />

und die ärztliche Arbeitswelt in<br />

Spitälern zu verändern. Diese Entwicklung<br />

bringt neue Aspekte mit sich, die es<br />

den Behandelnden erschweren werden,<br />

die umfassend richtigen, weil fachlich<br />

besten, und ethisch primär am Patientenwohl<br />

ausgerichteten Entscheidungen zu<br />

treffen.<br />

Ärztliches Handeln bedeutet immer,<br />

Entscheidungen unter (Rest-)Unsicherheit<br />

treffen zu müssen. Damit verbunden<br />

ist die Verantwortung für die Konsequenzen<br />

und die Hoffnung, den bestmöglichen<br />

medizinischen Outcome für die sich anvertrauenden<br />

Patienten zu erzielen. Ärztliches<br />

Fachwissen und berufliche Expertise,<br />

ergänzt um die kollegiale Mentorenschaft<br />

durch erfahrene Ärztinnen und Ärzte, ermöglichen<br />

es von jeher, die mit den Behandlungsentscheidungen<br />

verbundenen<br />

Behandlungsrisiken bestmöglich zu berücksichtigen.<br />

Ärztliches Handeln ist somit<br />

immer auch das stetige Bemühen, Unsicherheiten<br />

in therapeutische Gewissheit<br />

zu transformieren.<br />

Keine Chance ohne Risiken<br />

Algorithmenbasierte Softwareprodukte<br />

scheinen ihren klinischen Benutzern eine<br />

attraktive Option anzubieten, das persönliche<br />

Handeln in der Patientenver sorgung<br />

zu optimieren. Insbesondere die klinische<br />

Dokumentation, klinische Entscheidungsunterstützungssysteme<br />

und das Patientenmonitoring<br />

zur Überwachung des Therapiefortschritts<br />

und der Therapieadhärenz<br />

können eine hilfreiche Unterstützung<br />

sein. So administrativ aufwendig das<br />

Füt tern dieser Digitaltools mit relevanten<br />

Informationen sein mag, so verlockend<br />

erscheint die neue Perspektive, die eigene<br />

ärztliche Entscheidung nun besser<br />

fachlich vorbereiten und begründen zu<br />

können.<br />

Der Einbezug digital berechneter Wirkungs-<br />

und Erfolgswahrscheinlichkeiten<br />

in die ärztlichen Versorgungsentscheidungen<br />

erweitert bisherige Versorgungsmöglichkeiten<br />

um eine digitaltechnologisch<br />

erzeugte Datenrationalität. Bei Misserfolg<br />

sinken aber auch die Chancen für<br />

die Ärzteschaft, spätere Kritik an ihren<br />

Therapieentscheidungen und auch persönliche<br />

Haftungsrisiken abwehren zu<br />

können; spätestens dann, wenn der Technologieeinsatz<br />

seinen ausdrücklichen Eingang<br />

in die allgemein anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen<br />

Versorgungsstandards<br />

gefunden hat. Wie steht es dann<br />

um die berufsethische Verpflichtung der<br />

Ärzteschaft, das Wohl der Patientinnen<br />

und Patienten stets in den Mittelpunkt der<br />

Versorgungsüberlegungen zu stellen?<br />

Moral Distress als Nebenwirkung<br />

Der Einbezug entscheidungsunterstützender,<br />

wenn nicht sogar entscheidungserleichternder<br />

KI-gestützter Softwaretools<br />

am klinischen Arbeitsplatz könnte für<br />

Behandelnde zukünftig moralisch herausfordernde<br />

Situationen mit sich bringen.<br />

Eine Grundbedingung sinnhafter Berufsausübung<br />

für medizinisches Personal ist<br />

die persönliche Gewissheit, dass das eigene<br />

berufliche Handeln nicht im zermürbenden<br />

Konflikt mit den eigenen berufsethischen<br />

und versorgungsethischen<br />

Werten und moralischen Überzeugungen<br />

steht. Die anhaltenden Diskussionen in<br />

Bezug auf Ökonomisierungs-, Kommerzialisierungs-<br />

und Kommodifizierungstrends<br />

in der Patientenversorgung weisen<br />

auf die Bedeutung von Sinnhaftigkeitsfragen<br />

und Purpose-Themen insbesondere<br />

auch für den ärztlichen Berufsnachwuchs<br />

hin. Moral Distress führt zu erheblichen<br />

emotionalen Belastungen bei den Betroffenen.<br />

Diese empfinden ihr Handeln nicht<br />

nur als im Widerspruch mit ihren persönlichen<br />

Überzeugungen stehend, auch das<br />

Auseinanderfallen von eigenem moralischem<br />

Wollen und dem ihnen abverlangten<br />

tatsächlichen beruflichen Tun wird als<br />

ausweglos mit nur geringer Hoffnung auf<br />

Lösbarkeit gesehen. Niemand lebt gerne<br />

in dauerhafter Inkongruenz zwischen moralischem<br />

Wollen und klinikalltäglichem<br />

Müssen.<br />

In einer zunehmend digitaltechnologisch<br />

eingerahmten Spitalwelt entfaltet<br />

ein technizistisches Narrativ seine Wirkung,<br />

nämlich dass intelligente Software<br />

eine auf das Patientenwohl ausgerichtete<br />

Behandlung stets effizient und ressourcenschonend<br />

unterstützt. Die Urteilskraft<br />

des Arztes und der Ärztin reicht vielleicht<br />

aber nicht mehr dafür aus, die Qualität der<br />

durch komplexe Algorithmen berechneten<br />

Wahrscheinlichkeiten bei Diagnosen, Therapieempfehlungen<br />

und Gesundungsprädiktionen<br />

ausreichend umfänglich zu beurteilen.<br />

Das Vertrauen der Ärzte in die<br />

Richtigkeit häufig schwer erklärbarer Berechnungsergebnisse<br />

der eingesetzten Kliniksoftware<br />

wird zum hilflosen Ausweg,<br />

um dem Vertrauen der Kranken in die Behandelnden<br />

gerecht werden zu können.<br />

Nicht ohne Grund betrachten die industriellen<br />

Softwareanbieter das menschliche<br />

Vertrauen in ihre neuen Technologien als<br />

wichtigste Akzeptanzbedingung für ihre<br />

kommerzielle Verwertung.<br />

So wenig ein Mensch allein die Summe<br />

seiner mathematisch-digital abgebildeten<br />

biologischen Strukturen und Prozesse<br />

ist (auch wenn Digital-Twins-Konzepte<br />

als quasi digital-descartessche Menschensynthese<br />

es als machbar erscheinen lassen<br />

wollen), so wenig sind Ärztinnen und<br />

Ärzte am erkrankten Menschen eingesetzte<br />

Fachingenieure. Viele Ergebnisse<br />

wissenschaftlicher Evaluationen von im<br />

Gesundheitssektor eingesetzter KI-Software<br />

zeigen auf, dass die ärztliche Urteilskraft<br />

als bedeutendes Element ärztlicher<br />

Heilkunst mehr denn je gefordert ist, um<br />

die Möglichkeiten und die Grenzen dieser<br />

neuen Arbeitsinstrumente kritisch zu<br />

hinterfragen. Die Einschränkung ihrer<br />

Urteilskraft ist für die Betroffenen häufig<br />

eine belastende Begrenzung ihrer individuellen<br />

Handlungsoptionen und ihrer beruflichen<br />

wie persönlichen Autonomie.<br />

Eine durch klinische KI-Programme<br />

eingegrenzte ärztliche Urteilskraft kann<br />

im Versorgungsalltag nicht nur Schaden<br />

für Patienten mit sich bringen, sondern bei<br />

den betroffenen Ärzten auch das destruktive<br />

Gefühl des eigenen Nicht-(mehr-)Genügens<br />

und erhebliche Selbstzweifel erzeugen.<br />

Die berufliche Unmöglichkeit, alles<br />

umfassend wissen zu können und gleichzeitig<br />

die Erwartung des Wissen-Müssens<br />

auszuhalten, wird zur moralischen Herausforderung.<br />

Die Situation, den eigenen<br />

Ansprüchen vielleicht nicht mehr genügen<br />

zu können, aber trotzdem weiterzumachen<br />

(oder weitermachen zu müssen),<br />

ist ein guter Nährboden für ungesunden<br />

und leistungsschädlichen Moral Distress<br />

bei Ärztinnen und Ärzten. Auch könnten<br />

zukünftig verstärkt psychologische Phänomene<br />

wie das Imposter-Syndrom auftreten.<br />

Verstärkte Ökonomisierung durch<br />

digitale Industrialisierung?<br />

Klinisch tätige Ärzte sind nicht nur Anwender<br />

neuer Technologien in der Patientenversorgung,<br />

sondern mindestens mittelbar<br />

auch Produktentwickler. Die durch<br />

die Behandlungen entstehenden neuen<br />

Datenmengen werden vielfach zur Weiterentwicklung<br />

der eingesetzten Software<br />

<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 3/23 47

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!