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Berliner Zeitung 15.06.2019

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4* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 136 · 1 5./16. Juni 2019<br />

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Politik<br />

NACHRICHTEN<br />

Ehefrau von Can Dündar<br />

flieht nach Deutschland<br />

Nach fast drei Jahren erzwungener<br />

Familientrennung durch den türkischen<br />

Staat ist die Ehefrau des regierungskritischen<br />

Journalisten Can<br />

Dündar in Deutschland angekommen.<br />

Siesei seit Dienstag im Land,<br />

sagte Dilek Dündar der dpa am Freitag<br />

in einem Telefongespräch. Die<br />

türkische Ausreisesperregegen sie sei<br />

weiter intakt. Zu den Umständen ihrerAusreise<br />

wollte sie nicht Stellung<br />

nehmen. IhrMann CanDündar ist als<br />

Ex-Chefredakteur der <strong>Zeitung</strong> Cumhuriyet<br />

in der Türkei auch wegen Terrorvorwürfen<br />

angeklagt und lebt seit<br />

dem Spätsommer 2016 im deutschen<br />

Exil. Seiner Frau wurde kurzdarauf<br />

der Reisepass entzogen. (dpa)<br />

Gericht kippt Burkini-Verbot<br />

in Koblenzer Bädern<br />

Dasrheinland-pfälzische Oberverwaltungsgericht<br />

hat ein Burkini-Verbot<br />

für städtische Schwimmbäder in<br />

Koblenz vorläufig gekippt. Dasentsprechende<br />

Verbot in der Badeordnung<br />

verstoße gegen das verfassungsrechtliche<br />

Gleichbehandlungsgebot,<br />

entschied das Gericht<br />

nach Mitteilung vomFreitag in Koblenz<br />

in einem Eilverfahren. Damit<br />

dürfe die Klägerin ab sofortwieder<br />

im Burkini –einem Ganzkörper-Badeanzug<br />

–ins Wasser steigen. (dpa)<br />

Dresdner Hutbürger verklagt<br />

ZDF auf Entschädigung<br />

Der Mann mit Hut warf den Journalisten<br />

vor,eine Straftat zu begehen.<br />

DPA<br />

Derals Dresdner „Hutbürger“ bekannt<br />

gewordene Ex-Mitarbeiter des<br />

sächsischen Landeskriminalamtes<br />

forderteine Entschädigung vom<br />

ZDF.Dabei gehe es um eine Medienrechts-<br />

und Persönlichkeitsverletzung,<br />

bestätigte sein Anwalt Maximilian<br />

Krah am Freitag einen Beitrag<br />

des Magazins DerSpiegel. Eine Klage<br />

ging am Freitag laut Krah an das<br />

Landgericht Dresden. DerMann mit<br />

Anglerhut in Deutschlandfarben<br />

hatte im August 2018 am Rande einer<br />

Pegida-Demonstration lautstark<br />

gegen Fernsehaufnahmen des ZDF<br />

protestiert. In der Folge hatten Beamte<br />

ein ZDF-Team über 45 Minuten<br />

festgehalten, was bundesweit<br />

Kritik auslöste. (dpa)<br />

Schweizerinnen streiken für<br />

mehr Gleichberechtigung<br />

Tausende Frauen haben in der<br />

Schweiz bei einem Frauenstreik für<br />

mehr Gleichberechtigung demonstriert.<br />

In vielen Städten und Ortschaften<br />

hatten Gewerkschafterinnen,<br />

Unternehmerinnen und Politikerinnen<br />

Märsche und Kundgebungen<br />

organisiert. DieFrauen fordern<br />

vorallem gleichen Lohn für gleichwertige<br />

Arbeit. Um 11.00 Uhrlegten<br />

viele Frauen kurzzeitig die Arbeit<br />

nieder,auch die Sitzung des Nationalrats<br />

wurde unterbrochen. (dpa)<br />

Angreifer von Christchurch<br />

plädiertauf nicht schuldig<br />

Drei Monate nach dem Anschlag auf<br />

zwei Moscheen im neuseeländischen<br />

Christchurch hat der mutmaßliche<br />

Täter vorGericht auf nicht schuldig<br />

plädiert. Der28-jährige Rechtsextremist<br />

ist wegen Mordes in 51 Fällen,<br />

40-fachen versuchten Mordes und<br />

Terrorismus angeklagt. (AFP)<br />

In Görlitz wird am Sonntag ein neuer Bürgermeister gewählt.<br />

Die blaue Normalität<br />

Wieumgehen mit der AfD? In Görlitz könnte die Partei am Sonntag das erste Rathaus erobern<br />

VonJan Sternberg,Görlitz<br />

An der Backsteinmauer unweit<br />

des Neißeufers steht<br />

in großen weißen Lettern:<br />

„Wählt Thälmann!“ Der<br />

Spruch markiert die Anfänge von<br />

„Görliwood“, von Görlitz als Film-<br />

Drehort und Kulisse. Erstammt ursprünglich<br />

von einer DDR-Fernsehproduktion<br />

über den Kommunistenführer,den<br />

die Nazis ermordeten.<br />

Auf dem Bürgersteig davor bleibt<br />

eine Seniorin stehen und sagt: „Ich<br />

wähleWippel!“ SebastianWippel, 36,<br />

Polizeioberkommissar, ist der AfD-<br />

Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl.<br />

Am Sonntag tritt er in der zweiten<br />

Runde gegen den verbliebenen<br />

Gegenkandidaten Octavian Ursu<br />

vonder CDU an. Es könnte das erste<br />

Mal sein, dass die AfD ein Rathaus<br />

erobert. Daher interessiert sich jetzt<br />

die ganzeRepublik für eine OB-Wahl<br />

in einer 56 000-Einwohner-Stadt.<br />

DieSeniorin sagt:„Jetzt wollen sie<br />

uns wieder vorschreiben, dass wir<br />

den nicht wählen dürfen, aber das ist<br />

mir egal.“ Sie hält es für Bevormundung,<br />

dass alle außer der AfD zur<br />

Wahl des CDU-Manns aufrufen: die<br />

Grüne Franziska Schubert, die im<br />

ersten Wahlgang mit 27 Prozent<br />

Dritte wurde,die „Bürger für Görlitz“<br />

–und auch die Stars von Görliwood.<br />

„Wählt weise“, haben Schauspieler<br />

und Produzenten aus Deutschland,<br />

Großbritannien und den USA in einem<br />

offenen Brief den Görlitzerngeraten.<br />

Dass das „wählt nicht Wippel“<br />

heißen soll, war jedem klar.<br />

Als Antwortstellte die AfD ein Plakat<br />

auf Facebook: „Hollywood mag<br />

ihn nicht –ganz Sachsen liebt ihn. Sie<br />

nannten ihn Wippel.“ Und zugleich<br />

lud der Kandidat die Filmschaffenden<br />

auf einen Kaffee ins Rathaus ein,<br />

wenn er denn gewählt wird. „Görlitz<br />

bleibt auch unter einem AfD-Oberbürgermeister<br />

Europastadt“, schrieb<br />

Wippel dazu.<br />

So sieht also der Spagat der AfD<br />

aus, wenn die Macht irgendwo in<br />

Reichweite ist: Sie attackieren das<br />

„Establishment“ – und versichern<br />

zugleich, dass keiner vorihnen Angst<br />

haben müsste.Wippels Wahlkampfthema<br />

ist die Sicherheit in der<br />

Grenzstadt. Wird er gefragt, was das<br />

konkret bedeutet, sagt er:ZweiStreifenwagen<br />

mehr im nächtlichen Einsatz.<br />

Bleibt alles im Rahmen?<br />

In Görlitz verfängt sein Stil. Christian<br />

Eulitz läuft an der Thälmann-<br />

Kulisse vorbei, die sie hier mit einem<br />

trotzigen Stolz als Teil der Stadt akzeptieren.<br />

Er wirdauch Wippel wählen,<br />

sagt er.„Wippel ist Polizist, Ursu<br />

ist Trompeter am Theater. Ich vertraue<br />

dem Polizisten mehr.“ Und<br />

dass er in der AfD ist? „Na und?“,<br />

fragt der Görlitzer zurück.<br />

Na und? Nicht nur in Görlitz ist es<br />

längst kein Tabubruch mehr, AfD zu<br />

wählen. Die Rechtspartei gehört<br />

zum Mainstream. Dasverändertden<br />

Umgang mit ihr.<br />

Ein Sieg Wippels könnte ein weiteres<br />

Signal für die Landtagswahlen<br />

in Sachsen und Brandenburgsein. In<br />

beiden Bundesländern hat die AfD<br />

bei den Kommunalwahlen besonders<br />

auf dem Land abgeräumt, sie<br />

dominiert Kreistage, Stadträte und<br />

Gemeideversammlungen. Die blaue<br />

Wucht sorgt für eine Normalisierung,<br />

notgedrungen. „Wenn die<br />

Leute von der AfD vernünftige Vorschläge<br />

machen, arbeiten wir mit ihnen<br />

zusammen“, sagt etwa Raik<br />

Nowka, Kreischef der CDU in Spree-<br />

Neiße.„Siehaben ihreSitzeimKreistag<br />

ja nicht im Lotto gewonnen, sondernwurden<br />

gewählt.“<br />

Undimbenachbarten Oberspreewald-Lausitz<br />

sagt der designierte<br />

CDU-Fraktionschef Niko Gebel: „Die<br />

beste Idee für unsere Heimat zählt,<br />

egal, von wem sie kommt.“ Aber Gebel<br />

gibt auch die Parole aus: „Keine<br />

Koalition, keine Zählgemeinschaft<br />

mit einer Partei, die Rechtsextreme<br />

auf ihren Listen hat.“<br />

Normalisierung bedeutet nicht<br />

gleich eine schwarz-blaue Annäherung.<br />

Es heißt zunächst einmal, der<br />

neuen Macht auf Augenhöhe gegenüberzutreten.<br />

Nurwas folgt dann?<br />

Auch wenn Wippel in Görlitz<br />

nicht Rathauschef werden sollte –er<br />

hat dafür gesorgt, dass die AfD jetzt<br />

mit 13 Sitzen stärkste Fraktion im<br />

Stadtrat ist. Die anderen Fraktionen<br />

haben eine deutliche Mehrheit gegen<br />

sie. Dennoch ändert der blaue<br />

Block die Spielregeln.<br />

Rolf Weidle ist die graue Eminenz<br />

der Görlitzer Kommunalpolitik. Der<br />

72-jährige Mediziner sitzt seit 20 Jahren<br />

imStadtrat, er hat die Liste „Bürger<br />

für Görlitz“ gegründet, die bei der<br />

Wahl drittstärkste Kraft wurde.Erhat<br />

die Kandidatur der Grünen Franziska<br />

Schubert unterstützt und wirbt nun<br />

für CDU-Mann Ursu, um Wippel zu<br />

verhindern. Weidle sitzt im Café neben<br />

dem Rathaus und macht sich<br />

Sorgen um Görlitz, um die Lausitz,<br />

den Osten. Er sagt: „Wenn diese zerstörerische<br />

Diskussions-Unkultur<br />

nicht verschwindet, dann schwindet<br />

meine Hoffnung, dass sich dieses<br />

Land noch einmal erholt.“<br />

Vor dem Café gehen Touristen<br />

durch die wunderschöne Renaissance-Altstadt<br />

herunter zur Neißebrücke,<br />

die Görlitz mit der polnischen<br />

Stadthälfte Zgorzelec verbindet.<br />

Am Untermarkt wirkt es so, als<br />

wäre ganz Görlitz Görliwood, eine<br />

einzige Kulisse,inder jetzt eine politische<br />

Groteske aufgeführtwird.<br />

Aber das ist natürlich Blödsinn.<br />

Görlitz ist auf einer demografischen<br />

Achterbahn und gerade wieder auf<br />

dem aufsteigenden Ast. „20 000<br />

junge Menschen haben Görlitz nach<br />

der Wende verlassen“, sagt Weidle,<br />

„da braucht es eine Generation, bis<br />

sich das wieder erholt. Aber die<br />

„Görlitz bleibt auch unter einem<br />

AfD-Oberbürgermeister Europastadt.“<br />

Sebastian Wipper,<br />

Polizeioberkommissar und Oberbürgermeister-Kandidat der AfD<br />

IMAGO IMAGES; DPA<br />

Leute kommen doch: 3000 Polen<br />

haben sich auf der deutsche Seite<br />

angesiedelt, 1500 Rentner kamen<br />

aus dem Westen, und junge Leute<br />

wollen auch zurück.“<br />

Eigentlich wurde es wieder besser<br />

in Görlitz. Aber jetzt reden wieder<br />

alle über Wippel und die AfD. Viele<br />

Görlitzer haben Angst, dass die Achterbahn<br />

deswegen wieder nach unten<br />

kippt. „Die ganzeRepublik guckt<br />

auf uns, das macht so viel von unserem<br />

Image kaputt“, sagt Danilo Kuscher.Der<br />

35-jährige ist für eine Bürgerliste<br />

in den Stadtrat gewählt worden.<br />

Zehn Jahrelang hat er in einem<br />

alten Kühlhaus am Stadtrand ein soziokulturelles<br />

Zentrum aufgebaut,<br />

wurde von der Robert-Bosch-Stiftung<br />

geehrt und hat die Frau des<br />

Bundespräsidenten über das Gelände<br />

geführt. Er sorgt sich, dass die<br />

Jungen, Kreativen, Digitalen, die er<br />

anlocken möchte,bald einen großen<br />

Bogen um die Stadt machen. Kuscher<br />

stammt aus Zodel, einem kleinen<br />

Ort inder Gemeinde Neißeaue,<br />

wo die AfD 46 Prozent eingesammelt<br />

hat. Seine Familie lebt noch dort, sie<br />

muss sich jetzt täglich Bemerkungen<br />

anhören, dass ihr Sohn ja zum verhassten<br />

„Establishment“ gehört.<br />

Aber auch Kuscher sagt: Mit den<br />

AfD-Leuten im Stadtrat wirdman reden<br />

müssen. Klare Kante, wenn es<br />

um ihre Ideologie geht. Aber was,<br />

wenn sie eine Parkbank wollen?<br />

„Dann müssen wir über unseren<br />

Schatten springen, zustimmen –und<br />

ihnen die Opferrolle nehmen.“<br />

CDU-Mann Ursu hingegen lehnt<br />

jede Kooperation mit der AfD-Fraktion<br />

ab. Kretschmer unterstützt ihn<br />

dabei. „Wie soll er mit einer Partei zusammenarbeiten,<br />

deren Positionen<br />

absolut konträr zu unseren sind?“,<br />

sagte Kretschmer. „Dasselbe gilt für<br />

den gesamten Freistaat Sachsen.“<br />

Würde Kretschmer jetzt irgendetwas<br />

anderes sagen, wäreesfatal. Aber das<br />

beantwortet noch nicht Weidles<br />

Frage, wie er nun den 13 AfD-Vertreternbegegnen<br />

soll. Bisher war es einfach<br />

im Stadtrat. Es gab zwei Rechtsextreme,<br />

mit denen redete niemand.<br />

Siewurden nicht wiedergewählt.<br />

„Wir müssen eine Umgangskultur<br />

mit den AfD-Vertretern entwickeln“,<br />

sagt auch Rolf Weidle nachdenklich.<br />

„Die anderen politischen<br />

Kräfte werden niemanden zurückgewinnen,<br />

wenn wir nur Kontra zur<br />

AfD stehen. Wir werden mit ihnen<br />

zusammenarbeiten müssen.“<br />

Die Mittagssonne brennt auf den<br />

Marienplatz, die AfD hat schattige<br />

Wahlkampfzelte aufgebaut. Darunter<br />

steht Wippel in Begleitung des<br />

Görlitzer AfD-Bundestagsabgeordneten<br />

Tino Chrupalla und von Bundestags-Fraktionschefin<br />

Alice Weidel.<br />

Wenn alles gut läuft für die AfD<br />

am Sonntag und bei der Landtagswahl,<br />

wirdChrupalla der neue starke<br />

Mann in der Bundespartei. Er ist bereits<br />

designierter Nachfolger von<br />

Alexander Gauland als Parteichef.<br />

Die Menschen, die sich um den<br />

Stand drängen, sind meistens älter<br />

und meistens Männer. Maria<br />

Schwalbe fällt sofort auf. Sie kommt<br />

mit dem Lastenrad, hat kurzgeschorenes<br />

Haar und eine riesige Sonnenbrille.<br />

Schwalbe und ihr Mann sind<br />

zum Studium nach Görlitz gekommen<br />

und wollen auf keinen Fall wieder<br />

weg. Sie haben ohne Erfolg für<br />

die Linken für den Stadtrat kandidiert.<br />

In anderen Städten würde jemand<br />

wie Schwalbe jetzt eine Gegendemo<br />

starten und irgendwie versuchen,<br />

den Stand zu stören. In Görlitz<br />

schaut sie einfach nur zu. Ihr<br />

kleiner Sohn holt eine blaue Tüte mit<br />

AfD-Gummibärchen. „Wir müssen<br />

mit denen reden, streiten, ins Gespräch<br />

kommen“, sagt sie.„Wassollen<br />

wir denn sonst tun?“<br />

„Die Zeit der<br />

Bequemlichkeit<br />

ist vorbei“<br />

Die Soziologin Julia Gabler<br />

über Politik im Osten<br />

Die Soziologin Julia Gabler von<br />

der Hochschule Zittau/Görlitz<br />

sieht in den Wahlerfolgen der AfD in<br />

Ostdeutschland keinen Bruch mit<br />

dem System, sondernmit einem bestimmten<br />

Politikstil, sagte sie der<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> (Redaktionsnetzwerk<br />

Deutschland). Gabler studierte<br />

in Köln, an der Humboldt-Universität<br />

in Berlin sowie in Brüssel Soziologie,<br />

Philosophie und Slawistik. Ihre<br />

Promotion schrieb sie zu schrumpfenden<br />

Industriestädten im Ost-<br />

West-Vergleich. In ihren Forschungen<br />

geht es um Umbrüche und damit<br />

verbundene Chancen.<br />

Frau Gabler, die ganze Republik<br />

schaut auf Görlitz und fragt sich, wie<br />

die AfD in Ostdeutschland so erfolgreich<br />

werden konnte. Machen Ihnen<br />

diese Erfolge Angst?<br />

Natürlich habe ich auch Befürchtungen,<br />

dass gesellschaftsfeindliche<br />

Positionen an Unterstützung und<br />

politischer Legitimation gewinnen.<br />

Aber vor allem zeigt sich jetzt ganz<br />

neu, wie lebendig die Demokratie in<br />

den ländlichen Regionen sein kann.<br />

Die Leute sind politisiert. Sie reden<br />

und streiten miteinander.Das gab es<br />

lange nicht –und darin lag der Kern<br />

des Problems.<br />

Wiemeinen Siedas?<br />

Hier fehlt die Repräsentationskraft<br />

gesellschaftlicher Institutionen.<br />

DasEinzige,was vomStaat zurückgeblieben<br />

ist, ist die Verwaltung.<br />

Alles, was das soziale Gefüge<br />

in den kleinen Orten zusammenhält,<br />

wurde ins Ehrenamt abgeschoben.<br />

Die großen Betriebe wurden<br />

abgewickelt, und die kleinteilige<br />

Die Soziologin Julia Gabler forscht an der<br />

Hochschule Zittau/Görlitz. PAUL GLASER<br />

Wirtschaft wird nicht gesehen und<br />

nicht wertgeschätzt. Wirhaben eine<br />

Geschichte vonOhnmacht und Entkopplung.<br />

Das klingt, als hätten Sie die Hoffnung<br />

für den Osten, für seine Zukunft,<br />

verloren.<br />

Ganz im Gegenteil! Wenn die<br />

Leute hoffnungslos wären, wären<br />

sie nicht mehr wählen gegangen.<br />

Sie haben nicht mit dem ganzen<br />

System gebrochen, sondernnur mit<br />

einem bestimmten Politikstil. Und<br />

es gibt auch keine Sprachlosigkeit<br />

durch die Wahlergebnisse, im Gegenteil:<br />

Es gibt gerade ein großes<br />

Bedürfnis, miteinander zu sprechen.<br />

Wirkönnen nicht mehr in unserem<br />

gewohnten Fahrwasser bleiben.<br />

DieZeit der Bequemlichkeit ist<br />

vorbei.<br />

Wurde also viel in den vergangenen<br />

Jahren versäumt?<br />

MitSicherheit. Es wurde viel über<br />

die Veränderungen gesprochen und<br />

über die Defizite.Die Menschen, die<br />

hierblieben und den Status quo aufrechterhielten,<br />

kamen kaum vor.<br />

Vielleicht haben sie aber mehr geleistet<br />

als diejenigen, die anderswo<br />

neue Herausforderungen suchten.<br />

Sie haben versucht, in diesen Regionen<br />

etwas zu bewahren. Dasist sehr<br />

viel wert.<br />

DasGespräch führte<br />

JanSternberg.

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