Die Beste Zeit Nr. 16.indd - Druckservice HP Nacke KG
Die Beste Zeit Nr. 16.indd - Druckservice HP Nacke KG
Die Beste Zeit Nr. 16.indd - Druckservice HP Nacke KG
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Ein anderes Bild, verschwommen,<br />
umschattet, ergreift sodann Besitz von<br />
mir. Ich sehe das Kätzchen, das der Gefangene,<br />
als er noch ein Kind war, in die<br />
Ecke getrieben hat und wie es nach dem<br />
Fremden faucht. Ich fühle, wie das Herz<br />
der Fremden sich für einen Augenblick<br />
zusammenzieht und ich sehe die ausgestreckte<br />
Hand und wie die Zähne des<br />
Kätzchens sich in sein Fleisch bohren und<br />
nicht loslassen. Ein leiser Stich durchfährt<br />
mich, mich, die ich zur Fremdem werde,<br />
zu Worten auf Papier. Ich bin nicht die<br />
Figur, und dennoch sind es beinah meine<br />
Finger, die sich um den kleinen Hals<br />
schließen und zudrücken. Es sind nur<br />
Augenblicke, bloß Sekunden, in denen<br />
ich nicht anders kann und mich Bitterkeit<br />
umschließt. Und dann ist es auch<br />
schon zu spät. Wenn man geben will und<br />
wird gebissen … die wahre Wunde ist<br />
dann nicht zusehen. Doch wie viel ist die<br />
Liebe wert, wenn sie den anderen nicht<br />
erreicht und kann es gar zu viel der Liebe<br />
geben? Vor allem wenn man gar nicht<br />
weiß, was Liebe ist und gar nicht weiß,<br />
was man bewirken kann …<br />
Das Bild verblasst, ein anderes drängt<br />
sich mir auf. Ich sehe, wie die alte Russin<br />
die Suppe auf den Tisch stellt und wie<br />
der Gefangene, der ich bin und doch<br />
nicht ich, die Suppe verschlingt. Ich sehe<br />
die zwei Hühner auf dem Stuhl. Ich sehe<br />
den Sohn der alten Russin, der in der<br />
Fremde ist. Ich sehe, wie der Gefangene<br />
unwohl auf dem Stuhl verharrt. Wie<br />
er die Last der Sehnsucht dieser alten<br />
Frau fühlt, die ihr Eigenkind zu sehen<br />
wünscht. In ihren Augen spiegelt sich<br />
sein Spiegelbild, er ist es nicht, nach<br />
dem das Herz ihr schreit. Ich sehe, wie<br />
er fühlt zwei Personen in einem zu sein<br />
und es ihn zerreißt, da schon er selbst<br />
zu sein zu viel ist. Ich sehe, wie die alte<br />
Russin ihm das Taschentuch reicht, das<br />
einem Schatz gleich entgegengenommen<br />
wird. Ich sehe, wie er fühlt, dass es zu<br />
viel ist. Ich sehe das Huhn, das auf dem<br />
Rückweg an ihm vorbei läuft. Ich sehe<br />
ihn, der zu einem Klumpen aus Leim<br />
zerfällt. Er, der ein Zaun ist, ein Schatten,<br />
ein Gegenstand. Formlos, unsichtbar,<br />
vergänglich, bewegungslos und<br />
stumm. Er, der verkommen ist, zu Etwas<br />
Seelenlosem Totem. <strong>Die</strong> Schönheit, die<br />
das Taschentuch birgt, schmerzt, es<br />
macht bewusst, welch Hässlichkeit einen<br />
umgibt. Doch zugleich ist es die Naht,<br />
die einen an die Hoffnung bindet.<br />
Ich habe das Bild der Großmutter vor<br />
mir, die sagt, dass man zurückkehrt,<br />
dann klammert sich die Hand erneut an<br />
das Taschentuch, sacht, weil es zu kostbar<br />
ist. Und ich fühle das leise Versprechen,<br />
dass dieses Taschentuch meine Zukunft<br />
ist und mein Schicksal.<br />
Ich sehe die Frau, die am Telefon steht<br />
und lautlos schluckt, doch laut genug,<br />
dass sie ertappt zu sein glaubt, mit einer<br />
Hand geht sie über ihren Hals und senkt<br />
für einen Augenblick den Kopf. Ihr<br />
Blick huscht zur Seite, fällt auf zerrissene<br />
Briefumschläge und neueingegangene<br />
Post. Eine Sekunde lang stockt ihr der<br />
Atem, sie braucht den Inhalt gar nicht<br />
erst zu lesen. Fast hört sie die Drohbriefe<br />
leise lachen, als hätten sie gewonnen. Am<br />
Ohr hängt immer noch der Hörer, doch<br />
sie vernimmt nichts mehr. Ihre Freundin<br />
kommt. Weshalb, warum, fragt der<br />
Verstand, und wie? Doch das Herz hat<br />
Klebeband und hört es nicht.<br />
Ich sehe, wie sie kommt und sie ihr<br />
glauben will. Auch als sie sagt, sie wurde<br />
hergeschickt und dass sie sie nicht verrät.<br />
Sie will ihr glauben und sie tut es nicht.<br />
Und weil sie es nicht tut, schließt sie<br />
die Augen. <strong>Die</strong> Hände krallen sich nach<br />
Halt, meine Hände, ihre Hände, ich<br />
bin sie und sie ist ich. Dinge, denen ich<br />
mich nicht stelle, die gibt es nicht. Also<br />
lasse ich sie alleine. Vor dem Auge ziehen<br />
sich Fäden zu einem Band zusammen,<br />
die Fäden reißen, fügen sich zusammen,<br />
greifen ineinander. Und sodann zerfl ießt<br />
das Band in Bilder aus Farben, die darauf<br />
beharren nicht nur Erinnerungen zu sein.<br />
Ich sehe den Schlüssel, mein Herz vergisst<br />
für einen Augenblick zu schlagen,<br />
meine Beine stolpern zu der Tür, der<br />
Schlüssel passt. Eine Mauer hat sich aufgebaut.<br />
Ich lasse sie den Koffer packen,<br />
wir stehen da und sehen uns nicht an. Sie<br />
will bleiben, auch ich will, dass sie bleibt<br />
und dennoch muss sie gehen. Sie weint<br />
nicht, der Kopf steht wie auf Steinen,<br />
auf den Lippen brennen Worte und sie<br />
schweigt. Auch sie versteht, dass Worte<br />
hier nichts mehr bedeuten. Sie geht, ich<br />
schicke sie zurück und schicke ein Stück<br />
von mir mit ihr und ein Stück von ihr<br />
bleibt hier zurück.<br />
Ich sehe Bilder um Bilder in mir schwören.<br />
Bilder, die ich nur sehen, doch nicht<br />
beschreiben will. Ich sehe ein Leben, das<br />
nicht meines ist und das sich meiner Vorstellung<br />
beinah ganz entzieht. Ich kenne<br />
nicht das Gefühl, in einem Dorf erdrückt<br />
zu werden. Einen Staat, der Bücher zu<br />
Feinden erklärt, einen Staat, der Andersdenkende<br />
fürchtet und entsorgt. Es lebt,<br />
atmet und wächst, ein Ungeheuer, das<br />
sich in Kleider fremder Freiheit zwängt<br />
und das Unrecht zum Gesetz sich macht.<br />
Es lebt, aber ich kenne es nicht.<br />
Es ist ein Bild, das in mir erwächst, wie<br />
die Bilder der erzählten Geschichten. Es<br />
bleibt meiner Vorstellung überlassen, was<br />
ich denke. Und Vorstellen heißt nicht<br />
Erleben, Vorstellen heißt nicht Verstehen,<br />
aber es heißt, verstehen zu wollen<br />
und nichts anderes zählt, die Alternative<br />
ist Augen schließen.<br />
Herta Müller. Lesen. Schreiben. Menschen<br />
die Wahrheit aufzuzeigen, die eigene<br />
Wahrheit, sodass sie im Geiste eines<br />
jeden zu neuer Wahrheit münden kann.<br />
<strong>Die</strong> Autogrammstunde neigt sich dem<br />
Ende, ich nenne meinen Namen und<br />
schaue zu, wie sie unterschreibt. Im<br />
Grunde ist sie für mich eine Fremde, und<br />
dennoch empfi nde ich es nicht so. Ich<br />
fühle nur die Bilder.<br />
Buchstaben erheben sich zu Wellen,<br />
Wasser, das mit sanfter Entschlossenheit<br />
auf Felsen prallt, auf Stein der Jahrhunderte<br />
und zerschellt. Giganten aus Stein<br />
ragen aus kalter Erde hervor und türmen<br />
sich zu Riesen, doch den Wellen wachsen<br />
Flügel und aus Wasser werden Diamanten.<br />
Kein Stein kann Wasser je bezwingen<br />
und niemals beugt es sich Giganten.<br />
Es sind nicht bloße Worte auf Papier.<br />
Luisa Altergott<br />
17