Getrennte Brüder finden zusammen - bruederbewegung.de

Andreas Liese: 1937 – ein Schicksalsjahr der deutschen Brüderbewegung 7
Zustandes möglich war (Verfallstheorie), konnte es in der »Christlichen Versammlung« auch keine
festen Ämter geben. Es existierten lediglich bestimmte Dienste, zu denen aber keiner offiziell berufen
wurde. Das erklärt auch die scheinbare Organisationslosigkeit. Sieht man genauer hin, sind informelle
Organisationsstrukturen zu erkennen, die aber bekanntlich schwer zu greifen sind.
Nach dem Tod Carl Brockhaus’ wuchs sein Sohn Rudolf sehr schnell in eine führende Rolle hinein
und wurde der informelle Nachfolger seines Vaters. 3 Unter seiner Führung fand eine lehrmäßige
Festigung statt; hier wäre zum einen auf die literarische Auseinandersetzung mit Autoren der Freien
evangelischen Gemeinden hinzuweisen, in der der Absonderungsstandpunkt weiter ausgebaut wurde,
zum anderen wurde die Lehre vom »Tisch des Herrn« in einer Diskussion mit Vertretern der
»Offenen Brüder« präzisiert. Letztlich lief es darauf hinaus, dass nur bei den »Geschlossenen Brüdern«,
die von allen menschlichen Systemen getrennt und von allem lehrmäßigen und praktischen
Bösen abgesondert waren, der Tisch des Herrn war; andere Gemeinschaften feierten das Abendmahl
höchstens als Erinnerungsmahl. Damit hatten die »Geschlossenen Brüder« eine einheitliche Lehrauffassung
erhalten, die sie allerdings von den übrigen Christen, die »Offenen Brüder« eingeschlossen,
trennte.
Der Tod Rudolf Brockhaus’ 1932 wurde als gravierender Einschnitt empfunden. Viele meinten, er
hinterlasse eine Lücke, die kaum zu schließen sei. An seine Stelle traten jetzt u. a. sein Neffe Ernst
Brockhaus, der vielfältige Aufgaben übernahm (überörtliche Kassen, Herausgabe der Mitteilungen aus
dem Werke des Herrn usw.), und sein Sohn Wilhelm Brockhaus, der allein verantwortlicher Schriftleiter
des Botschafters wurde. Dazu kam Fritz von Kietzell, seit 1928 Schriftleiter der Jugendzeitschrift Die
Tenne und verantwortlich für Kontakte mit den Behörden.
Aber nach 1932 häuften sich Klagen über eine Verflachung des Gemeindelebens, die Verweltlichung
und den Formalismus in den Versammlungen. 4 Den vorläufigen Höhepunkt stellte ein offener
Brief Kietzells an Wilhelm Brockhaus dar, in dem er die Frage stellte, ob Gott die »Christliche Versammlung«
wirklich noch mit seiner besonderen Kraft begleite. 5 So entwickelte sich die Vorstellung,
dass ein Gericht Gottes zu erwarten sei.
Parallel zu diesen Entwicklungen entstand die sog. Stündchenbewegung. Die Anfänge liegen in
Essen-Dellwig; der dortigen Brüderversammlung gehörte der promovierte Jurist Hans Becker an. Man
begann hier in kleinem Kreis mit intensivem Bibelstudium. 1932 zog Becker nach Dortmund um, wo
die gemeinsamen Bibelstudien ihre Fortsetzung fanden. Später begann man mit mehrtägigen überregionalen
Treffen. Der Teilnehmerkreis war sehr heterogen; führend waren neben Becker Brüder wie
Carl Koch, Walter Vogelbusch u.a., die dann später im BfC an führender Stelle tätig waren. Aber auch
spätere »Nichtbündler«, also Brüder, die nicht dem BfC beitraten, nahmen an diesen Treffen teil. Zu
erwähnen wären hier u. a. Wilhelm Stücher, Gerhard Löwen und Felix Brockhaus.
Die eigentlichen Initiatoren – neben Becker auch Walter Vogelbusch, Walter Engels u.a. – begriffen
sich als Erneuerungsbewegung. Es ging primär um eine intensive Erforschung der Lehre der »Brüder«.
Man wollte tiefer in dieses Gedankengut eindringen und studierte die Schriften – hier v. a.
Beiträge des Botschafters – intensiv. Man begann auch, Literatur aus anderen Kreisen zu verwenden.
Das Ganze wirkte auf viele sehr intellektuell und stieß besonders bei den Reisebrüdern (v. a. bei den
Älteren) auf Kritik. Eine öffentliche Aussprache über Ansichten von »Stündchenleuten« zur Heilssicherheit
des Christen, die denen der älteren Brüder nicht entsprachen, brachte keine Annäherung
der beiden Seiten. 6
3 Zu Rudolf Brockhaus vgl. die Kurzbiografie von Ulrich Brockhaus in Perspektive 7 (2007), Heft 5, S. 25–28 (auch
online unter www.bruederbewegung.de/pdf/brockhausbrockhaus.pdf).
4 Vgl. dazu Hans Neuffer, [Gedanken über die im Laufe der Zeit im Kreise der Brüder aufgetretenen Schäden], geschrieben
im Anschluss an die Konferenz in Siegen 1932, www.bruderbewegung.de/pdf/neuffer.pdf.
5 Achiv Wiedenest, Bestand Jordy, 1933–1945, Fritz von Kietzell an Wilhelm Brockhaus, 1936.
6 Vgl. das Protokoll der Siegener Besprechung von 1936, abgedruckt bei Menk, S. 43–47.