Erinnern und Verstehen â Schwerpunkte einer nachhaltigen ...
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Es gibt mittlerweile vielfältige Bemühungen auf<br />
jüdischer Seite, auch den Holocaust über die Verankerung<br />
als Gedenktag hinaus in die Bahnen der<br />
Liturgie zu integrieren. So gibt es z.B. Pessach-<br />
Haggadot in Erinnerung an den Holocaust. Entsprechend<br />
dem zentralen Satz: »In jedem Zeitalter<br />
ist der Mensch verpflichtet sich vorzustellen, als<br />
sei er selbst aus Ägypten gezogen« münden diese<br />
Bemühungen in der Vorstellung, das jeder Jude,<br />
jede Jüdin selbst in den Todeslagern gewesen ist.<br />
Was können wir aus der hebräischen Bibel <strong>und</strong><br />
aus dem Dialog mit dem Judentum in Bezug auf<br />
die Bedingungen <strong>und</strong> Möglichkeiten des <strong>Erinnern</strong>s<br />
lernen?<br />
1. <strong>Erinnern</strong> hat vornehmlich die Aufgabe, Zeit<strong>und</strong><br />
Generationengrenzen zu überspringen<br />
<strong>und</strong> damit didaktischen Charakter. Es müssen<br />
Formen gef<strong>und</strong>en werden, wie kommunikative,<br />
gegenwärtig noch lebendige Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> Erinnerungen in kollektive <strong>und</strong> kulturelle<br />
Erinnerungen übergehen können. Dies ist genau<br />
der Punkt, an dem wir heute stehen: die<br />
Generation jener Zeitzeuginnen <strong>und</strong> Zeitzeugen,<br />
die von den erschütterndsten Ereignissen<br />
dieses Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> der Menschheitsgeschichte<br />
überhaupt noch aus eigener Anschauung<br />
<strong>und</strong> biografischer Erinnerung erzählen<br />
können, geht dem Ende zu. Um ihre<br />
Erinnerungen nicht verloren gehen zu lassen,<br />
müssen neue Formen gef<strong>und</strong>en werden.<br />
2. <strong>Erinnern</strong> braucht Anlässe in Raum, <strong>und</strong>, noch<br />
wichtiger, in der Zeit. Diese Anlässe müssen<br />
bewusst <strong>und</strong> im Blick auf kommende Generationen<br />
geschaffen werden. Es können Steine<br />
sein, - Denkmäler, Ruinen - aber auch bestimmte<br />
Zeiten, Texte, Bilder, Lieder, Gerüche,<br />
Speisen, Symbole aller Art - wichtig ist: dass<br />
sie auch in völlig veränderten Kontexten, auch<br />
im neuen Jahrh<strong>und</strong>ert oder Jahrtausend Anlass<br />
zum Fragen werden können. Die Diskussion<br />
um Denkmäler <strong>und</strong> der Erhalt <strong>und</strong> die<br />
fortgesetzte Erforschung der Gedenkstätten ist<br />
notwendig. Die Einrichtung des 27. Januar als<br />
Tag der Erinnerung an die Schoa ist eine große<br />
Chance.<br />
3. Von pädagogisch weittragender Bedeutung ist<br />
das Fragen der Kinder. Biblisch wird es immer<br />
wieder formuliert - »Und wenn dich heute<br />
oder morgen dein Kind fragen wird...« (Ex<br />
13,14f.) - <strong>und</strong> in der Pessachhaggada ist es<br />
verankert in dem Ritual, dass das jüngste Kind<br />
die entscheidenden Fragen stellt. Eigene Fragen<br />
zu stellen ist der Ausgangspunkt des Ler-<br />
epd-Dokumentation 3/2005 27<br />
nens. Nur wenn eigenes Fragen <strong>und</strong> Suchen -<br />
nach Erklärung, nach Orientierung, nach<br />
Identifikationsmöglichkeiten, nach Sinn, nach<br />
Antworten auf drängende Fragen der Gegenwart<br />
- im Spiel ist, können Lernprozesse angebahnt<br />
werden, die mehr sind als Wissensspeicherung.<br />
Nicht zufällig wird gerade in<br />
neueren Konzepten etwa zur Gedenkstättenpädagogik<br />
immer wieder die eigene Aktivität<br />
<strong>und</strong> die Selbsttätigkeit der Jugendlichen auf<br />
freiwilliger Basis in der Erarbeitung historischer<br />
Fakten <strong>und</strong> ihrer Deutungen betont.<br />
4. Die vielfältigen Symbole der biblisch-jüdischen<br />
Tradition sind allesamt sehr sinnliche, stark<br />
emotionale Erinnerungsstützen. Symbole sind<br />
Knotenpunkte menschlicher Erfahrungen. Das<br />
didaktische Potenzial der Symbole wird bewusst<br />
genutzt, um nachfolgenden Generationen<br />
wesentliche Erfahrungen ihrer Vorfahren<br />
zugänglich zu machen <strong>und</strong> dabei zugleich jeweils<br />
neue <strong>und</strong> eigene Erfahrungen zu evozieren.<br />
Jeder Generation wird damit auch die<br />
Möglichkeit gegeben, ihre jeweils eigenen Zugänge<br />
zu finden.<br />
5. Die Vieldeutigkeit von Symbolen verlangt<br />
nach <strong>einer</strong> Erschließung in Verbindung mit<br />
authentischen Erfahrungen. Symbole brauchen<br />
als Antwort nicht Erklärungen, sondern Erzählungen.<br />
Die Mazzen <strong>und</strong> das Erzählen sind<br />
die zwei tragenden Mizwot, Gebote, des<br />
Sederabends: Die Symbole werden mit der<br />
Notwendigkeit des Erzählens verb<strong>und</strong>en, erst<br />
das Erzählen verbindet sie mit einem deutenden<br />
<strong>und</strong> orientierenden Kontext. Auch dies<br />
lässt sich auf die NS-Geschichte übertragen:<br />
Die bloßen Fakten sind deutungsbedürftig,<br />
auch Gedenkstätten erschließen sich nicht von<br />
selbst. In der Vergangenheit war es häufig gerade<br />
die Begleitung durch Zeitzeugen <strong>und</strong> ihre<br />
Erzählungen, die jungen Menschen eindrückliche<br />
Lernerfahrungen ermöglichten. 8<br />
6. Der didaktische Charakter biblisch-jüdischen<br />
<strong>Erinnern</strong>s erschöpft sich aber nicht nur in der<br />
Kunst der Vermittlung <strong>und</strong> der Entwicklung<br />
vielfältiger Formen dafür. Didaktik ist im entscheidenden<br />
immer die Frage: Was ist für die<br />
kommenden Generationen notwendig zu lernen?<br />
9 Notwendig ist auf dem Hintergr<strong>und</strong> der<br />
biblischen Geschichte offenbar, wesentliche<br />
Erfahrungen der Befreiung nicht aus dem Gedächtnis<br />
zu verlieren, weil sie die Hoffnung<br />
auf Zukunft stärken; notwendig ist aber auch -<br />
<strong>und</strong> das ist nirgendwo so eindrücklich ablesbar<br />
wie an den biblischen Texten - die Ge-