Erinnern und Verstehen â Schwerpunkte einer nachhaltigen ...
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zu <strong>einer</strong> Sensibilisierung in der Bildungsarbeit.<br />
Auch andere Schüler der dritten oder vierten<br />
Nachkriegsgeneration haben keinen unmittelbaren<br />
Bezug zur NS-Geschichte mehr. Wenn man<br />
ihre individuellen Zugänge zu dem Thema ernst<br />
nimmt, kann man sie dennoch für das Thema<br />
interessieren. Denn auch sie haben ein Gefühl<br />
dafür, dass die NS-Vergangenheit für das heutige<br />
Deutschland von großer Bedeutung ist <strong>und</strong> die<br />
Diskussion darüber weltweit zugenommen hat.<br />
Die Herausforderung für die Bildungsarbeit besteht<br />
zum einen darin, dass man die Nation nicht<br />
mehr in Begriffen der Ethnizität begreifen darf.<br />
Dieses romantische Verständnis, das starr von<br />
<strong>einer</strong> unabänderlichen Herkunft <strong>und</strong> dem sich<br />
daraus ergebenden verpflichtenden Erbe ausgeht,<br />
muss von einem neuen Verständnis von »nationaler«<br />
Kultur abgelöst werden, das auf eine freiwillig<br />
zusammengeschlossene, unbedingt auf eine<br />
demokratische Zukunft ausgerichtete Gemeinschaft<br />
geleitet sein soll, wie der Frankfurter Pädagoge<br />
Micha Brumlik 26<br />
dargelegt hat. Nationale<br />
Bildung findet in diesem Verständnis in einem<br />
Staat als Rechtssystem mit Raum- <strong>und</strong> Sprachgrenzen<br />
statt: die »Aufnahme bedeutsamer Teile<br />
der Kultur der Migranten in die eine, in sich gebrochene,<br />
spannungsreiche <strong>und</strong> widersprüchliche<br />
nationale Kultur« ist deren Ausdruck. Allerdings<br />
bleibt hier noch offen, wie man dies mit <strong>einer</strong><br />
historischen Bildung über die NS-Zeit didaktisch<br />
sinnvoll zusammenführt. Die von Micha Brumlik<br />
<strong>und</strong> anderen vorgeschlagene Hinwendung zur<br />
allgemeinen Menschenrechtsbildung ist in meinen<br />
Augen eine zu kurz greifende Lösung.<br />
Viola Georgi hat in ihrer Untersuchung über die<br />
Bedeutung der Auseinandersetzung mit der NS-<br />
Geschichte für junge Migranten festgestellt, dass<br />
diese sich zumindest deshalb mit diesem Ausschnitt<br />
der deutschen Geschichte beschäftigen,<br />
weil sie wissen, dass diese auch die Gegenwart<br />
mitbestimmt. »Die Perspektive [der jungen<br />
Migranten] ist dabei eine doppelte: Gegenüber<br />
Repräsentanten der »Herkunftsländer« muss<br />
Deutschland wegen der menschenverachtenden<br />
NS-Vergangenheit nicht selten als Wahlheimat<br />
verteidigt werden. Gegenüber den Repräsentanten<br />
der deutschen Aufnahme- <strong>und</strong> Mehrheitsgesellschaft<br />
scheint die Übernahme des »negativen<br />
historischen Erbes« (Jean Améry 1977) einem<br />
Zusammengehörigkeitsbekenntnis gleichzukommen.<br />
In beiden Fällen wird die NS-Geschichte als<br />
gesellschaftliches Orientierungswissen identitätsstiftend.«<br />
27<br />
epd-Dokumentation 3/2005 63<br />
Für die Migranten wird ebenso wie für Deutsche<br />
eine Homogenität vorausgesetzt. Diese Homogenität<br />
ist unter Umständen formal gegeben, wie<br />
etwa bei der Staatsangehörigkeit. Doch eine Heterogenität<br />
im Hinblick auf andere Merkmale (z.B.<br />
Bildungsgrad, politische Einstellungen, soziale<br />
Herkunft) steht dem entgegen. 28 Daraus ergibt<br />
sich die Schlussfolgerung, dass sich neben den<br />
auch in Zukunft weiter bestehenden nationalen<br />
Erinnerungskulturen viel stärker <strong>und</strong> zahlreicher<br />
ein Lehr- <strong>und</strong> Lernprozess herausbilden wird, der<br />
von der subjektorientierten Erfahrung abhängen<br />
wird.<br />
Z.B. die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste<br />
e.V., die 1958 vor dem Hintergr<strong>und</strong> der deutschen<br />
Verantwortung für die NS-Verbrechen <strong>und</strong><br />
der bis dahin ungenügenden Aufarbeitung entstanden<br />
ist, hat sich auf diesen Weg eingelassen.<br />
Unter den Freiwilligen, die für etwa ein Jahr in<br />
verschiedenen Ländern in Gedenkstätten, Sozial<strong>und</strong><br />
Friedensprojekten ihren Dienst tun, sind in<br />
der Zwischenzeit auch immer eine geringe Anzahl<br />
von nicht-deutschen Freiwilligen. Sie erhalten<br />
dieselbe Vorbereitung wie die übrigen Teilnehmer<br />
an dem Friedensdienst. Das bedeutet,<br />
dass die Inhalte viel stärker auf die Einbeziehung<br />
der unterschiedlichen Individuen ausgerichtet<br />
sein müssen, als dies noch zu m<strong>einer</strong> Zeit als<br />
ASF-Freiwilliger Anfang der achtziger Jahre der<br />
Fall war.<br />
Dieses Beispiel zeigt den Wandel in der Erinnerungskultur<br />
in Deutschland, die durch die Öffnung<br />
der Grenzen, den zunehmenden internationalen<br />
Austausch <strong>und</strong> die Tatsache, dass<br />
Deutschland ein Einwanderungsland geworden<br />
ist, entstanden ist <strong>und</strong> sich in Zukunft noch weiter<br />
verstärken wird.<br />
Das bedeutet, dass sich in Zukunft zwei Bereiche<br />
parallel entwickeln, die zugleich miteinander<br />
verschränkt werden: 1. Werden die nationalen<br />
Grenzen <strong>und</strong> die dadurch bedingte unterschiedliche<br />
Aufarbeitung der NS-Geschichte <strong>und</strong> ihrer<br />
Verbrechen weiterhin Bestand haben <strong>und</strong> die<br />
gesellschaftspolitische Bedeutung wird auch so<br />
rasch nicht verschwinden. 2. Wird sich in den<br />
jeweiligen Nationen der unterschiedliche individuelle<br />
Zugang zu der Auseinandersetzung mit der<br />
NS-Geschichte weiter ausdifferenzieren. Gerade<br />
in der Bildungsarbeit wird es daher von immer<br />
größerer Bedeutung werden, diese unterschiedlichen<br />
Ansätze ernst zu nehmen <strong>und</strong> sinnvoll in<br />
die Auseinandersetzung zu integrieren.