Erinnern und Verstehen â Schwerpunkte einer nachhaltigen ...
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nisses vorgelegt hat, hat vor einigen Jahren die<br />
besondere gegenwärtige deutsche Situation der<br />
Erinnerungskultur beschrieben, die durch die so<br />
genannte »doppelte Vergangenheit« von Nationalsozialismus<br />
<strong>und</strong> DDR-Kommunismus, also durch<br />
eine zweifache Diktaturerfahrung, durch kollektive<br />
Verantwortung für emblematisch gewordene<br />
Verbrechen <strong>und</strong> durch eine besondere Zweigeteiltheit<br />
von Erinnerung geprägt ist. Ihre Einsicht<br />
- sie ist auch nach anderthalb Jahrzehnten der<br />
staatlichen Einheit keineswegs überholt - dass wir<br />
als Deutsche am Ende des 20. <strong>und</strong> am Beginn des<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>erts vor diesem Hintergr<strong>und</strong> unsere<br />
eigene, erinnerungskulturelle Situation nur mit<br />
einem Paradox beschreiben können, führt zu<br />
<strong>einer</strong> ganz eigenen, selbst nicht anders als historisch<br />
zu verstehenden Besonderheit: »Wir haben<br />
nicht die Wahl, diese Erinnerung auszuschlagen,<br />
<strong>und</strong> müssen uns doch frei für sie entscheiden.« 26<br />
Das am Beginn dieses kursorischen Überblicks<br />
von Nietzsche <strong>und</strong> Weber abgeleitete Problem, in<br />
welcher Balance sich »Wissenschaft« <strong>und</strong> »Leben«<br />
zueinander verhalten, ist deshalb auch im Kontext<br />
der Frage nach der Bedeutung von Erinnerungskultur<br />
enthalten. Anders formuliert: Erinnerungskultur<br />
beschreibt das Feld, dass beide<br />
scheinbar antagonistischen Pole umfasst <strong>und</strong> auf<br />
dem dieses Problem in all seinen Variationen zum<br />
Ausdruck kommt. Dieses Feld umfasst mit Friedrich<br />
Schiller »die ganze moralische Welt« <strong>und</strong><br />
»alle abwechselnde Gestalten der Meinung«, es<br />
umfasst »Thorheit« <strong>und</strong> »Weisheit«, oder aber mit<br />
unseren heutigen Worten: Primärerfahrung <strong>und</strong><br />
Wissenschaft, individuelle Erinnerung <strong>und</strong> kollektives<br />
Gedächtnis, Gruppen-Erinnerung <strong>und</strong> die<br />
in ihr nicht enthaltene »Gegenerinnerung«. 27<br />
Und da sie eben am besten durch die hieraus<br />
entstehenden Konflikte charakterisierbar ist, kann<br />
die mit Schillers 1789 gehaltener Antrittsrede<br />
»Was heißt <strong>und</strong> zu welchem Ende studiert man<br />
Universalgeschichte?« 28 aufgeworfene Frage, was<br />
es denn heute heißen könne, Probleme der Erinnerungskultur<br />
zu studieren, mit einem Plädoyer<br />
beantwortet werden. Das Plädoyer lautet, diesen<br />
Konflikten nicht auszuweichen <strong>und</strong> sie stattdessen<br />
als Zugang <strong>und</strong> als Methode <strong>einer</strong> gegenwärtigen<br />
kritischen Selbstreflexion zu verstehen. Ziel<br />
<strong>einer</strong> solchen Methode ist nicht, im Streit um<br />
verschiedene Wertungen von Vergangenheit<br />
»Recht zu behalten«, sondern die Heterogenität<br />
unserer Vergangenheitsbilder selbst zu verstehen.<br />
Erinnerungskultur bezeichnet somit weniger einen<br />
Gegenstand als vielmehr die Art <strong>und</strong> Weise,<br />
mit der wir uns zu verschiedenen Zeiten den<br />
epd-Dokumentation 3/2005 53<br />
Problemen der Vergangenheitsrepräsentation<br />
stellen.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Otto G. Oexle, Wissenschaft <strong>und</strong> Leben. Historische Reflexionen<br />
über Tragweite <strong>und</strong> Grenzen der modernen Wissenschaft, in:<br />
Geschichte in Wissenschaft <strong>und</strong> Unterricht 41 (1990), H. 3, S.<br />
145-161 (hier151). Vgl. auch: ders., Von Nietzsche zu Max<br />
Weber: Objektivitätsproblem <strong>und</strong> Wertfrage im Zeichen des<br />
Historismus, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des<br />
Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne, Göttingen<br />
1996, S. 73-94.<br />
2 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen <strong>und</strong> Nachteil der Historie für<br />
das Leben, hrsg. <strong>und</strong> mit einem Nachwort von Michael Landmann,<br />
Zürich 1984.<br />
3<br />
Oexle, Wissenschaft <strong>und</strong> Leben, S. 153. Der Text von Weber<br />
leicht zugänglich u.d.T. »Vom inneren Beruf zur Wissenschaft«, in:<br />
Max Weber, Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen -<br />
Politik. Mit <strong>einer</strong> Einleitung von Eduard Baumgarten, hrsg. <strong>und</strong><br />
erläutert von Johannes Winckelmann, 5., überarb. Aufl., Stuttgart<br />
1973, S. 311-349.<br />
4<br />
Ebd., S. 339.<br />
5 Oexle, Wissenschaft <strong>und</strong> Leben, S. 146.<br />
6<br />
Fritz J. Raddatz, Er gab den Clown <strong>und</strong> weinte innerlich. In der<br />
Florhofgasse 1 war Tucholsky ab 1932 amtlich gemeldet, in:<br />
Tagesanzeiger (Zürich) vom 3. 9. 2004, S. 58.<br />
7<br />
Hans Holzhaider, Fluch der Schönheit. Über einen Berg, der nie<br />
zur Ruhe kommt, in: Süddeutsche Zeitung (Wochenendbeilage)<br />
vom 4./5. 9. 2004, S. III.<br />
8 Annemarie Rösch, Zum Himmel schreiend. Der Retter polnischer<br />
Juden starb 1952 im sowjetischen Lager. Das Leben von<br />
Wilm Hosenfeld, in: Badische Zeitung (Freiburg) vom 24. 8.<br />
2004, S. 25. Die Besprechung galt: Wilm Hosenfeld, »Ich versuche<br />
jeden zu retten.« Das Leben eines deutschen Offiziers in<br />
Briefen <strong>und</strong> Tagebüchern, München 2004. Vgl. auch: Wladyslaw<br />
Szpilman, Das w<strong>und</strong>erbare Überleben. Warschauer Erinnerungen<br />
1939-1945, München 1998 [zuerst auf polnisch: 1946].<br />
9<br />
Wolfgang Harms, Ringen um Erinnerung. Vor 60 Jahren knüppelte<br />
ein Mob in Rüsselsheim amerikanische Soldaten zu Tode - nun<br />
wird ein Mahnmal enthüllt, in: Süddeutsche Zeitung vom 26. 8.<br />
2004, S. 5. Für ähnliche Fälle in Wiesbaden, Celle <strong>und</strong> Hamburg<br />
vgl.: Klaus Neumann, Mahnmale, in: Deutsche Erinnerungsorte (3<br />
Bde.), hrsg. v. Etienne François <strong>und</strong> Hagen Schulze, Bd. 1,<br />
München 2001, S. 622-637.<br />
10<br />
Rüdiger Safranski, Der Wille als Organ der Freiheit. Er brachte<br />
eine Epoche in Schwung: Friedrich Schiller <strong>und</strong> das goldene<br />
Zeitalter des deutschen Geistes, in: FAZ vom 26. 8. 2004. Vgl.<br />
auch: ders., Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus,<br />
München 2004.<br />
11 Rainer Blasius, Moskaus großer Trumpf. Vor fünfzig Jahren<br />
scheiterte das Projekt <strong>einer</strong> Europäischen Verteidigungsgemeinschaft,<br />
in: FAZ vom 27. 8. 2004, S. 10.<br />
12<br />
Frank Pergande, Der Klotz von Prora. Was soll aus den nationalsozialistischen<br />
Überresten des »Seebads« auf Rügen werden?,<br />
in: Ebd.<br />
13<br />
(kum.), Vor 60 Jahren: Der Anfang vom Ende Königsbergs, in:<br />
Ebd., S. 5.