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Erinnern und Verstehen – Schwerpunkte einer nachhaltigen ...

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Bewahrung der ErInnerung vollzieht. Denn dies<br />

muss zwangsläufig ebenfalls auf existenzielle<br />

Weise vonstatten gehen, wenn es von lebensfähiger<br />

Dauer sein soll. Wenn Fest, Ritual <strong>und</strong> Liturgie<br />

das Medium solcher ErInnerung ist, dann<br />

muss sich in Fest, Ritual <strong>und</strong> Liturgie ihr existenzieller<br />

Charakter nachweisen lassen. Liturgie <strong>und</strong><br />

Ritual müssen, wollen sie existenziell sein <strong>und</strong><br />

wirken, die ganze Existenz des Menschen ansprechen<br />

<strong>und</strong> einfordern, sie müssen den Menschen<br />

in s<strong>einer</strong> Ganzheit erreichen. Liturgie <strong>und</strong> Ritual<br />

müssen daher mit gleichermaßen kognitiven,<br />

emotionalen, sensitiven <strong>und</strong> motorischen Elementen<br />

durchwirkt sein, einfacher formuliert: Bei<br />

Liturgie <strong>und</strong> Ritual müssen Kopf, Hand, Herz <strong>und</strong><br />

Bauch beteiligt sein. Und all das muss mit der<br />

Forderung verknüpft werden, dass man sich mit<br />

s<strong>einer</strong> ganzen Existenz in diese Begegnung <strong>und</strong><br />

Aneignung hineinbegibt. 13<br />

Genau <strong>einer</strong> solchen, in ErInnerung mündenden,<br />

existenziellen RePräsentation des Exodus <strong>und</strong><br />

aller mit ihm verb<strong>und</strong>enen Implikationen dient<br />

auch die im Mittelpunkt des Pessach-Abends<br />

stehende Pessach-Haggadah, einem oft reich illustrierten<br />

Buch, das aus Texten der Bibel, des<br />

Talmud, des Midrasch sowie zahlreicher Segenssprüche<br />

besteht. Sie wird vom Familienvater vor<br />

allem für die Kinder vorgelesen, gemäß dem biblischen<br />

Gebot: »Du sollst deinem Sohn an diesem<br />

Tag erzählen: Es geschieht um dessentwillen, was<br />

mir der Herr bei meinem Auszug aus Ägypten<br />

getan hat«. (Ex. 13, 8). Die Aufforderung, die<br />

Kinder über den Sinn der Riten <strong>und</strong> Gesetze <strong>und</strong><br />

damit über den religiösen Sinn ihrer Existenz als<br />

Juden zu belehren, findet man an vielen Stellen<br />

der Torah, den fünf Büchern Mose. In diesem<br />

Kontext ist das gesamte Pessach-Fest, <strong>und</strong> vor<br />

allem der Vortrag der Pessach-Haggadah, die<br />

zentrale Gelenkstelle in der Weitergabe der Tradition<br />

<strong>und</strong> mithin der Formung des kollektiven<br />

jüdischen Gedächtnisses <strong>und</strong> bestimmt die Art<br />

<strong>und</strong> Weise jüdischer Erinnerung. Alles, was hier<br />

geschieht, ist eine großartige Bewegung gegen<br />

den Strom des Vergessens, eine Initiation, eine<br />

Einführung <strong>und</strong> Überführung des individuellen<br />

Gedächtnisses in das Gedächtnis des Kollektivs.<br />

Diesem Ziel dient vor allem der mit Erzählungen,<br />

Gebeten, Gesängen <strong>und</strong> symbolischen Handlungen<br />

durchsetzte, oftmals über St<strong>und</strong>en sich hinziehende<br />

Vortrag der Pessach-Haggadah. Diese<br />

Pessach-Haggadah ist zweifelsohne »das populärste<br />

<strong>und</strong> am meisten geliebte jüdische Buch.<br />

Gelehrte haben über es meditiert, Kinder erfreuen<br />

sich an ihm. Als ein Buch gleichermaßen für die<br />

Philosophen wie für das Volk ist es an mehr Or-<br />

epd-Dokumentation 3/2005 35<br />

ten <strong>und</strong> in mehr Auflagen wiedergedruckt worden<br />

als jeder andere jüdische Klassiker,... Es wurde in<br />

nahezu jede Sprache übersetzt, in der Juden während<br />

ihrer weltweiten Verteilung sprachen.« 14 In<br />

der Feier des Seder <strong>und</strong> dem Vortrag der Haggadah<br />

»lernt das Kind ‚wir‘ sagen, indem es hineingenommen<br />

wird in eine Geschichte <strong>und</strong> in eine<br />

Erinnerung, die dieses Wir formt <strong>und</strong> füllt«. 15<br />

Nirgendwo wird dieser Prozess deutlicher als an<br />

jener Stelle der Pessach-Haggadah, wo das Problem<br />

der Tradition, der Weitergabe von Erinnerung<br />

<strong>und</strong> die Ausformung kollektiver Identität<br />

selbst thematisiert wird <strong>und</strong> zwar am Beispiel<br />

von vier unterschiedlich veranlagten Kindern, die<br />

entsprechende Fragen an den Vater richten: »Gelobt<br />

sei der Allgegenwärtige! Gelobt sei er! Gelobt,<br />

der seinem Volke Israel die Torah gegeben!<br />

Entsprechend vier Kindern drückte sich die Torah<br />

aus: dem verständigen, dem bösen, dem einfältigen,<br />

<strong>und</strong> dem geistig noch nicht geweckten Kinde.<br />

Der Verständige, wie spricht er? ‚Was bedeuten<br />

die Zeugnisse, die Satzungen <strong>und</strong> Rechtsverordnungen,<br />

welche der Ewige, unser Gott, euch<br />

befohlen hat?‘ So sprich denn auch du belehrend<br />

zu ihm, den Vorschriften des Pesach gemäß:<br />

‚Nach dem Genuss des Pesach-Opfers beschließt<br />

man das Festmahl nicht mit einem Nachtisch.‘<br />

Der Böse, wie spricht er? ‚Was soll euch dieser<br />

Dienst?‘ Euch? aber nicht ihm? Und weil er sich<br />

somit selbst von der Gesamtheit ausschließt, verleugnet<br />

er die Gr<strong>und</strong>wahrheit (des Judentums);<br />

so stumpfe denn auch du ihm die Zähne <strong>und</strong><br />

sprich zu ihm: ‚Wegen dieser Pflichterfüllung ließ<br />

Gott es mir angedeihen, als ich aus Ägypten zog.‘<br />

Mir, aber nicht ihm! Wäre er dort gewesen, er<br />

würde nicht erlöst worden sein! Der Einfältige,<br />

wie spricht er? ‚Was ist das?‘. Zu ihm sollst du<br />

sprechen: ‚Mit starker Hand hat uns Gott aus<br />

Ägypten geführt, aus dem Sklavenhause.‘ Und<br />

mit dem, der nicht zu fragen weiß, eröffne du die<br />

Unterhaltung, denn es heißt: ‚Du sollst deinem<br />

Sohn mitteilen an demselben Tag <strong>und</strong> sprechen:<br />

Wegen dieser Pflichterfüllung ließ es Gott mir so<br />

angedeihen, als ich aus Ägypten zog.‘« 16<br />

Geglückte Tradition drückt sich hier in dem differenzierten<br />

Fragen des klugen Kindes aus, insbesondere<br />

aber in der Gemeinschaft dokumentierenden<br />

Rede von »unser Gott«. Dementgegen<br />

zeigt sich die Bosheit des bösen Kindes in der<br />

Gemeinschaft verweigernden, exklusiven Rede<br />

von »euch«.

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