Erinnern und Verstehen â Schwerpunkte einer nachhaltigen ...
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von ihnen trennen können. Eigenes Handeln<br />
geschieht nicht autonom, sondern in Abwägung<br />
der möglichen Folgen für die Eltern (<strong>und</strong> Gemeinschaft).<br />
Der Identitätsbildung der Zweiten<br />
Generation stehen insbesondere<br />
mangelndes Urvertrauen <strong>und</strong> fehlende innere<br />
Autonomie im Wege.<br />
Im Rahmen der klinischen Fortbildung der Nervenklinik<br />
Spandau am 7. März 1991 hat Micha<br />
Neumann einen Vortrag über »Die Kinder der<br />
Überlebenden des Holocaust - Die Zweite Generation<br />
in Israel« 12 gehalten. In ihm beschreibt er<br />
Trennungsängste als häufiges Phänomen bei den<br />
Nachgeborenen <strong>und</strong> berichtet, dass es in selteneren<br />
Extremfällen auch vorkommt, dass Kinder die<br />
Verfolgungserfahrungen der Eltern als ihre eigenen<br />
erleben:<br />
»Verborgene Verfolgungsängste, aggressive Impulse,<br />
Schuldgefühle, geringe Selbstachtung <strong>und</strong><br />
Verlustängste werden auf die Kinder übertragen.<br />
Das Kind kann die ganze Tonleiter der von den<br />
Eltern erlebten Erfahrungen <strong>und</strong> Leiden als eigene<br />
erleben. Wir haben Kinder gesehen, die den Eindruck<br />
machten, als wären sie selber KZ-<br />
Überlebende. Das kann dem Kind nonverbal vermittelt<br />
worden sein. Viele solcher Kinder achteten<br />
besonders sensibel auf das elterliche Aussehen<br />
<strong>und</strong> die elterliche Stimmung, von denen Elend<br />
<strong>und</strong> Entsetzen abzulesen war, selbst wenn diese<br />
Gefühle von den Eltern niemals direkt <strong>und</strong> wörtlich<br />
ausgedrückt wurden...<br />
Wir haben oft beobachtet, dass ein bestimmtes<br />
Kind als besonderes Objekt für diese projektive<br />
Identifikation auserwählt wurde, beispielsweise<br />
aufgr<strong>und</strong> seines Geschlechts, s<strong>einer</strong> körperlichen<br />
Ähnlichkeit oder auch nur deshalb, weil es das<br />
Erstgeborene war. Dieses Kind wird später der<br />
Symptomträger der Familie. Es nimmt den größten<br />
Teil der pathogenen Last der Eltern auf sich,<br />
während die anderen Geschwister relativ frei von<br />
dem pathogenen Einfluss der Eltern bleiben. Einzelkinder<br />
tragen oft die volle Last der Leiden ihrer<br />
Eltern. Es geschieht nicht selten, dass ein Elternteil<br />
dem besonderen Kind die Rolle eines intimen<br />
Gefährten zuteilt. Er unterwirft dieses Kind von<br />
klein auf ununterbrochenen Erzählungen über die<br />
traumatischen Erlebnisse, die er durchgemacht<br />
hat. In diesen schweren Fällen... hat das Kind die<br />
Verfolgungserlebnisse s<strong>einer</strong> Eltern internalisiert,<br />
erlebt <strong>und</strong> manchmal sogar wahnartig ausgedrückt...<br />
epd-Dokumentation 3/2005 45<br />
Gestörte Kinder sind auch in Familien aufgewachsen,<br />
in denen die Eltern schwiegen <strong>und</strong> still<br />
waren. Die Holocaust-Erlebnisse bekamen die<br />
Aura von schädlichen Familiengeheimnissen.<br />
Informationen aus den Medien oder nonverbale<br />
Ausdrucksformen der Eltern trafen auf die inneren<br />
Bedürfnisse der Kinder <strong>und</strong> erzeugten ängstliche<br />
<strong>und</strong> schamvolle Phantasien (S. 26f)«.<br />
Der Identitätsbildung der Zweiten Generation<br />
stehen insbesondere mangelndes Urvertrauen <strong>und</strong><br />
fehlende innere Autonomie im Wege. Kurt Grünberg<br />
hat Untersuchungsergebnisse zitiert, nach<br />
denen Kinder Überlebender häufig das Gefühl<br />
hätten, nur ein »Ersatzleben« oder ein »Leben in<br />
der Vergangenheit« zu führen. Sie identifizierten<br />
sich mit ihren Eltern <strong>und</strong> teilten deren Überlebensschuld.<br />
Die Verschmelzung der kindlichen<br />
Gegenwart mit der elterlichen Vergangenheit<br />
habe so zu <strong>einer</strong> »doppelten Realität« geführt, die<br />
die Anpassungsleistungen an die Realität des<br />
gegenwärtigen Lebens stark beeinträchtige. 13<br />
In<br />
Deutschland erweist sich dieses Problem als besonders<br />
prekär:<br />
»Die Konfusion, in <strong>einer</strong> Zerrissenheit zwischen<br />
deutscher <strong>und</strong> jüdischer <strong>und</strong> <strong>einer</strong> Identität der<br />
Verfolgung die eigene Identität zu suchen, zeigt<br />
sich sehr eindringlich im Fall von Reinhard L.<br />
Schon in seinem Namen deutet sich der Konflikt<br />
an: Sein hebräischer Name Jakob weist über seinen<br />
Großvater zum Judentum, aber auch zur<br />
nationalsozialistischen Judenvernichtung; der<br />
russische Name Iljitsch, den er sich selbst gegeben<br />
hat, deutet auf das Herkunftsland s<strong>einer</strong> Eltern;<br />
sein deutscher Vorname Reinhard weist auf<br />
eine - ihm unliebsame - Verbindung zu Deutschland.<br />
So hängt er seinem Namen ein >o< an,<br />
um ihn italienisch klingen zu lassen. Die Aussichtslosigkeit<br />
dieses Versuchs erkennt er selbst.<br />
‚Klar denken, das eigentlich auch ausdrücken,<br />
was ich so fühle oder wie ich im Moment bin, das<br />
kann ich eigentlich nur noch im Deutschen.‘<br />
Reinhard möchte kämpfen, <strong>und</strong> dazu gehören<br />
Hoffnung <strong>und</strong> Lebenslust. Auf ihm aber lastet<br />
eine Schwere, er hat Angst, in die Zukunft zu<br />
sehen, ‚mein Leben ist eigentlich so‘n Dahinvegetieren‘.<br />
Ihm bleibt die ‚Identität der Verfolgung‘,<br />
die ‚ganze Vergangenheit‘, die Geschichte,<br />
‚das hab‘ ich dann halt in mir drin‘« (S. 504).<br />
»Die Familie von Reinhard L. ist isoliert. Er kann<br />
sich nicht erinnern, ‚dass irgendein Nichtjude bei<br />
uns zu Hause war, oder dass wir auch irgendwas<br />
von außen erzählt haben‘. Einzig durch seine<br />
sportlichen Aktivitäten gewann er nichtjüdische