Erinnern und Verstehen â Schwerpunkte einer nachhaltigen ...
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In welche Richtungen das stark empf<strong>und</strong>ene Bedürfnis<br />
geht, über den Punkt eines Gedenktages<br />
hinaus die Erfahrung des Holocaust in liturgischrituelle<br />
Formen der Erinnerung zu bringen <strong>und</strong><br />
damit im jüdischen Gedächtnis zu verankern,<br />
lässt sich sehr eindrucksvoll in direkter Fortsetzung<br />
der oben dargelegten Ausführungen zum<br />
Pessach-Fest zeigen. Erinnert sei an den vielleicht<br />
wichtigsten <strong>und</strong> zentralen Satz der Pessach-<br />
Haggadah - »In jeglichem Zeitalter ist der Mensch<br />
verpflichtet sich vorzustellen, als sei er selbst aus<br />
Ägypten gezogen«. Exakt an diesem Punkt knüpft<br />
der jüdische Religionsphilosoph Arthur Allen<br />
Cohen mit folgenden Worten an: »Die Pesach-<br />
Haggadah gebietet jedem Juden, sich so zu betrachten,<br />
als ob er selbst mit dem Exodus aus<br />
Ägypten kam. Die grammatische Autorität der<br />
Haggadah macht deutlich, dass dies keine Metapher<br />
[kein unverbindliches Bild] ist, wie stark<br />
auch immer unser Wunsch ist, apodiktische [gebieterische]<br />
Sprache metaphorisch [bildhaft verstehen<br />
zu wollen. Der autoritative Anspruch ist<br />
klar: Ich war wirklich, ..., gegenwärtig am Sinai.<br />
... Um nichts weniger ist es der Fall, dass die<br />
Todeslager meine Anwesenheit fordern: deshalb<br />
ist es meine Verpflichtung, die Zeugen anzuhören,<br />
als sei ich selber ein Zeuge. Es ist von befehlsbindendem<br />
Charakter, dass die reale Anwesenheit<br />
ganz Israels in den Todeslagern, unter der<br />
Erfahrung des Tremendums (der Shoah) stehend,<br />
in die Liturgie Einlass findet, so gewiss wie es<br />
[die Befreiung aus Ägypten] Einlass fand in die<br />
Erzählung des Exodus.« 23<br />
Die am Vorbild der Pessach-Haggadah orientierte<br />
Aufforderung, sich zu betrachten, als sei man<br />
selbst in den Todeslagern gewesen, als sei man<br />
selbst ein Überlebender im nahezu buchstäblichen<br />
Sinne, entspringt <strong>und</strong> deckt sich genau mit<br />
der spezifischen Arbeitsweise des jüdischen Gedächtnisses,<br />
das sich zentraler Ereignisse, die für<br />
das Kollektiv von entscheidendem Gewicht sind,<br />
auf dem Wege existenzieller RePräsentation erInnert.<br />
So sehr der Holocaust der im Pessach-Fest<br />
erInnerten, von Gott bewirkten Befreiungserfahrung<br />
f<strong>und</strong>amental zu widersprechen scheint, so<br />
sehr ist es charakteristisch <strong>und</strong> unterstreicht den<br />
zentralen Stellenwert des Gedächtnisses im Judentum,<br />
dass man die dem jüdischen Gedächtnis<br />
eigene Methode der existenziellen RePräsentation<br />
mit der Erfahrung des Holocaust verbindet - verbinden<br />
muss. Denn dies ist der Weg, den jüdische<br />
ErInnerung geht - gehen muss. Aus diesem Gr<strong>und</strong><br />
ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn diese, hier von<br />
Arthur Allen Cohen geäußerten Gedanken in der<br />
gegenwärtigen jüdischen Literatur zu den Folgen<br />
<strong>und</strong> der Bedeutung des Holocaust in der einen<br />
epd-Dokumentation 3/2005 37<br />
oder anderen Form unzählige Male wiederzufinden<br />
ist. Beispielhaft <strong>und</strong> sehr deutlich etwa in<br />
den Worten Eli Wiesels: »Kein Jude kann heute<br />
im vollen Sinne des Wortes jüdisch sein, kann im<br />
vollen Sinne des Wortes ein Mensch sein, ohne<br />
nicht sich als Teil des Holocaust zu betrachten.<br />
Alle Juden sind Überlebende. Sie alle sind inmitten<br />
des Wirbelsturmes Holocaust gewesen, selbst<br />
diejenigen, die danach geboren wurden, selbst<br />
diejenigen, die nur sein Echo in entfernten Gegenden<br />
vernehmen.« 24<br />
Die am Vorbild der Pessach-<br />
Haggadah orientierte Aufforderung,<br />
sich zu betrachten, als sei man selbst in den<br />
Todeslagern gewesen, als sei man selbst ein<br />
Überlebender im nahezu buchstäblichen<br />
Sinne, entspringt <strong>und</strong> deckt sich genau mit<br />
der spezifischen Arbeitsweise des jüdischen<br />
Gedächtnisses, das sich zentraler Ereignisse,<br />
die für das Kollektiv von entscheidendem<br />
Gewicht sind, auf dem Wege existenzieller<br />
RePräsentation erInnert.<br />
Auf welche Weise die Erfahrung des Holocaust<br />
etwa im Rahmen der Pessach-Haggadah einen<br />
neuen liturgischen Akzent setzen mag, sei ebenfalls<br />
wenigstens an einem Beispiel illustriert. Irving<br />
Greenberg fügt den uns aus der Pessach-<br />
Haggada bereits vertrauten vier Kindern <strong>und</strong> ihren<br />
vier exemplarischen Weisen, nach der Bedeutung<br />
des Exodus zu fragen, ein fünftes Kind<br />
hinzu <strong>und</strong> kleidet dessen Frage in die Form eines<br />
Gebetes:<br />
»In dieser Nacht erinnern wir uns eines fünften<br />
Kindes. Dies ist ein Kind der Shoah, welches<br />
nicht überlebt hat, um noch fragen zu können.<br />
Deshalb fragen wir für dieses Kind: Warum? Wir<br />
sind wie dieses einfache Kind. Wir haben keine<br />
Antwort. Wir können nur den Fußspuren Rabbi<br />
Elazar ben Azariahs folgen, der es in jener Nacht<br />
solange nicht fertig brachte, den Exodus zu erwähnen,<br />
bis Ben Zoma ihm es mit folgendem<br />
Vers erklärte: Damit du dich ERINNERST an den<br />
Tag, als du auszogst aus Ägypten, alle Tage deines<br />
Lebens. ... ‚Alle Tage deines Lebens‘ meint,<br />
selbst in den dunkelsten Nächten als wir unsere<br />
Erstgeborenen verloren haben, müssen wir uns<br />
an den Exodus erinnern. Wir beantworten die<br />
Frage dieses Kindes mit Schweigen. Im Schweigen<br />
erinnern wir uns jener dunklen Zeit. Im<br />
Schweigen erinnern wir uns, dass Juden ihr gottebenbildliches<br />
Antlitz bewahrt haben im Kampf<br />
ums Leben. Im Schweigen erinnern wir uns der<br />
Seder-Nächte in den Wäldern, der Ghettos <strong>und</strong><br />
der Lager; wir erinnern uns jener Seder-Nacht, als