Erinnern und Verstehen â Schwerpunkte einer nachhaltigen ...
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tieren, so zahlreich ist das Gegenwartsmedium<br />
»Zeitung« mit Ereignissen, Bef<strong>und</strong>en, Gegenständen<br />
<strong>und</strong> Kontroversen der Erinnerungskultur<br />
durchwirkt. Da die der gewöhnlichen Zeitungslektüre<br />
eigene Aktualität des Tages selbst bereits<br />
nicht mehr gilt, auch wenn die Funktion der Tageszeitung<br />
in diesem Falle erst einige Tage vergangen<br />
war, erhält man seltsamerweise bereits so<br />
etwas wie einen »archivalischen« Blick auf die<br />
Ereignisse, fast so, als würde man bereits mit<br />
großem Abstand auf die letzte Augustwoche des<br />
Jahres 2004 schauen. Deutlich werden - trotz des<br />
bewusst belassenen Eindrucks des Diversen <strong>und</strong><br />
Zufälligen - die bedeutende Funktion von Gedenk-<br />
<strong>und</strong> Jahrestagen, von Echobildungen zwischen<br />
Buchpublikationen <strong>und</strong> deren Kritik, von<br />
verschiedenen Formen der Erinnerung im Modus<br />
der unterschiedlichen Medien <strong>und</strong> die sich deutlich<br />
voneinander abgrenzenden »Sprachen« von<br />
Wissenschaft, Kunst <strong>und</strong> derjenigen der Aura<br />
authentischer Geschichtsorte.<br />
Im Zürcher »Tagesanzeiger« vom 3. September<br />
entdeckt der Leser auf <strong>einer</strong> hinteren Seite einen<br />
Beitrag von Fritz J. Raddatz in der Serie »Geschrieben<br />
in Zürich«, der auf <strong>einer</strong> halben Seite<br />
Kurt Tucholskys Verhältnis zu Zürich darstellt. 6<br />
Zürich war der Ort, in welchem sich der von den<br />
Nationalsozialisten fliehende Schriftsteller ab<br />
Herbst 1932 wenige Monate bei der Ärztin Hedwig<br />
Müller aufhielt, die Stadt also, die kurz vor<br />
seinem Freitod in Schweden im Dezember 1935<br />
zu »<strong>einer</strong> Art Ankerplatz« wurde <strong>und</strong> die heute<br />
mit einem Gedenkstein in der Florhofgasse 1 an<br />
dieses vorletzte Exil des aus Deutschland vertriebenen<br />
Kritikers gedenkt, auch wenn Zürich im<br />
Falle Tucholskys kein literarischer, sondern mehr<br />
ein biografischer »Lieux de mémoire« darstellt,<br />
denn es entstanden hier keine s<strong>einer</strong> späten Arbeiten.<br />
Die Wochenendbeilage der »Süddeutschen Zeitung«<br />
veröffentlicht am selben Tag einen ganzseitigen<br />
Artikel, der sich mit den verschiedenen<br />
Vereinnahmungen des Obersalzbergs auseinander<br />
setzte, dessen Aussehen von den Bauten der NS-<br />
Führungsschicht ebenso verändert wurde wie<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern<br />
<strong>und</strong> den vielen Touristen. Aktueller Anlass<br />
des Artikels war der Bau eines riesigen Luxus-<br />
Hotels mit 140 Zimmern <strong>und</strong> Suiten, Hallenbad<br />
<strong>und</strong> Gourmetrestaurant, für den eine ganze Bergkuppe<br />
abgetragen wurde, was nicht nur die Ästhetik<br />
der Natur, sondern im wörtlichen Sinne die<br />
Topographie des Berges verwandelt hat. 7<br />
epd-Dokumentation 3/2005 49<br />
In der Woche zuvor, am 24. August, gilt in der<br />
»Badischen Zeitung« aus Freiburg der Aufmacher<br />
des Feuilletons den neu erschienenen <strong>und</strong> vom<br />
Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen<br />
Tagbüchern, Briefen <strong>und</strong> Erinnerungen<br />
von Wilm Hosenfeld, jenem Wehrmachtsoffizier,<br />
der sich für den polnischen Widerstand eingesetzt<br />
hatte <strong>und</strong> auch zum Beschützer des untergetauchten<br />
Pianisten Wladyslaw Szpilman geworden<br />
war <strong>und</strong> der Anfang der 50er Jahre in sowjetischer<br />
Lagerhaft ums Leben kam. Seine Rettungstat<br />
inmitten des Zweiten Weltkrieges wurde<br />
fünfzig Jahre später durch den Film »Der Pianist«<br />
von Roman Polanski aus dem Jahre 2001 auch<br />
zum Gesprächsstoff bei einem breiteren Publikum.<br />
8 Zuvor hatte bereits der dem Tod entronnene<br />
jüdische Musiker, Komponist <strong>und</strong> Schriftsteller<br />
Szpilman selbst von ihr berichtet, allerdings sind<br />
seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1946 über<br />
Jahrzehnte hinweg weder im kommunistischen<br />
Polen noch im Westen ein besonderes Interesse<br />
geschenkt worden.<br />
Zwei Tage später erinnert die »Süddeutsche Zeitung«<br />
an ein über Jahrzehnte verdrängtes Ereignis<br />
in Rüsselsheim, wo am 26. August 1944 um die<br />
h<strong>und</strong>ert Opel-Arbeiter <strong>und</strong> Hausfrauen mit Flaschen,<br />
Milchkannen <strong>und</strong> Hämmern eine Gruppe<br />
von acht amerikanischen Fliegern auf dem Weg<br />
in ein Gefangenenlager zu lynchen versuchte, die<br />
am Tag zuvor mit ihren Bombern in der Nähe<br />
von Osnabrück abgeschossen worden waren.<br />
Sechs der acht Soldaten fanden s<strong>einer</strong>zeit den<br />
Tod. Anlass des Berichtes war eine Mahnmal-<br />
Initiative, die aus <strong>einer</strong> Bürgerbewegung resultierte<br />
<strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong> derer 60 Jahre nach der Tat<br />
des Geschehens offiziell <strong>und</strong> öffentlich gedacht<br />
wurde. Die Zeitung berichtet von Kompromissbildungen<br />
beim Text auf der Gedenk-Mauer ebenso<br />
wie vom Besuch des letzten Überlebenden des<br />
Vorfalls, dem 79-jährigen Sidney Brown, dessen<br />
offizielle Mitwirkung bei der Enthüllung des<br />
Mahnmals von der Initiatorin als Form der »Versöhnung«<br />
bezeichnet wird. 9<br />
Am selben Tag wird in der »Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung« das Gedenkjahr Friedrich Schillers<br />
eingeleitet, in dem der jüngste Dichter-<br />
Biograf Rüdiger Safranski eine erste publizistische<br />
Würdigung zum Anlass von dessen 200. Todestages<br />
am 9. Mai 1805 vorlegt. Mit Schiller, so Safranski,<br />
gelange man in das »unvergessliche Goldene<br />
Zeitalter des deutschen Geistes«, in die<br />
»W<strong>und</strong>erjahre, die einem helfen, den Sinn für die<br />
wirklich wichtigen, für die geistvollen Dinge des<br />
Lebens zu bewahren.« 10<br />
Der Artikel umrahmt die<br />
große Schwarz-Weiß-Abbildung der Marmor-