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Erinnern und Verstehen – Schwerpunkte einer nachhaltigen ...

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52 3/2005 epd-Dokumentation<br />

bef<strong>und</strong>en worden waren. Und es sagt etwas über<br />

uns <strong>und</strong> unseren vergangenheitspolitischen Status<br />

quo aus, wenn wir den Fokus der »Arbeit« oder<br />

»Arbeitslosigkeit« als primären Vergleichsmaßstab<br />

zwischen Ostdeutschland vor <strong>und</strong> Gesamtdeutschland<br />

nach 1989/90 wählen, anstatt z.B.<br />

Bürgerrechte, Umweltzerstörung oder etwas<br />

Drittes.<br />

Überhaupt werden die Divergenzen <strong>und</strong> Gegenläufigkeiten<br />

von erinnerungskulturellen Debatten<br />

derzeit besonders sinnfällig, wie an den konkurrierenden<br />

Narrativen, mit denen um eine Erzählform<br />

der DDR-Zeit gerungen wird, <strong>und</strong> die Frage<br />

lautet auf die Dauer, wessen Erfahrung der anthropologische<br />

Kern <strong>einer</strong> solchen Konkurrenzsituation<br />

wird? Die der Mehrheit oder die der Minderheit?<br />

Die der damaligen Opfer oder die der<br />

sich heute als solche begreifenden Verlierer der<br />

Geschichte? 20<br />

Erinnerungskultur umfasst also nicht nur Texte,<br />

sondern auch Marmor <strong>und</strong> Inschriftentafeln, Zelluloid<br />

<strong>und</strong> Ferseh-Features, Symbole <strong>und</strong> Begriffe.<br />

Und noch etwas anders wird deutlich. Natürlich<br />

berichten die hier referierten Zeitungsartikel nicht<br />

bloß, sondern sie selbst sind Teil dieses Geflechts<br />

von unterschiedlichsten Formen historischer<br />

Selbstverständigung <strong>und</strong> Selbstthematisierung.<br />

Geschichts- <strong>und</strong> Erinnerungskultur, so hat dies<br />

der Historiker Jörn Rüsen einmal zusammengefasst,<br />

bezeichnet einen Zusammenhang von Wissenschaft,<br />

Kunst <strong>und</strong> Politik - inklusive der mit<br />

allen drei Bereichen jeweils unterschiedlich motivierten<br />

Faszination <strong>und</strong> Interessenlage <strong>und</strong> deshalb<br />

auch mit allen damit zusammenhängenden<br />

Konflikten gegenseitiger Korrekturen <strong>und</strong> Widersprüche.<br />

21<br />

Erinnerungskultur ist nicht nur das Ergebnis davon,<br />

»wie Geschichte gemacht ist«, 22 sondern sie<br />

ist in gewisser Hinsicht gerade als »Streitgeschichte«<br />

23 <strong>und</strong> in den vielen Kontroversen um<br />

Vergangenheitsdeutungen bei sich selbst, denn<br />

sie umfasst nicht nur das Erinnerte als solches,<br />

sondern auch den Konflikt des Aushandelns jeweiliger<br />

Relevanz <strong>und</strong> Legitimität. Sie findet immer<br />

statt - auch wenn man sich ihr zu verweigern<br />

versucht, denn auch in diesem Fall werden Entscheidungen<br />

im Umgang mit Vergangenheit gefällt,<br />

die das Ereignis in der jeweiligen Gegenwart<br />

mit Intentionalität einfärben <strong>und</strong> mit einem Interessen-Vektor<br />

versehen. Und sie findet überall<br />

statt, insofern unterscheiden sich unter diesem<br />

Gesichtspunkt Schule <strong>und</strong> Denkmalspflege, Museen<br />

<strong>und</strong> Fachwissenschaft, Film <strong>und</strong> Zeitung<br />

nicht kategorial voneinander, sondern lediglich in<br />

den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Formen<br />

<strong>und</strong> »Sprachen«.<br />

Von Erinnerungskultur ist also in allen Fällen zu<br />

sprechen, in denen sich das jeweilige Verhältnis<br />

<strong>einer</strong> Gegenwart zu der von ihr als bedeutungsvoll<br />

eingeschätzten Vergangenheit im Modus der<br />

Belehrung, Bewahrung, Aufklärung oder Unterhaltung<br />

versichert. Zu diesen Modi gehören Kritik<br />

<strong>und</strong> Antikritik stets zusammen <strong>und</strong> es handelt<br />

sich natürlich nicht allein um Versuche des Erhalts,<br />

sondern immer auch um deren Gegenteil,<br />

also um das Bemühen, bestimmten Erinnerungen<br />

die Legitimation abzusprechen oder deren Status<br />

einzuschränken. 24 Insofern ist »Erinnerungskultur«<br />

<strong>und</strong> »Geschichtsbewusstsein« zwar nicht<br />

dasselbe, aber nicht ohne einander denkbar.<br />

Rüsen spricht in diesem Zusammenhang sogar<br />

von »vier mentalen Aktivitäten« des Menschen,<br />

die zusammengenommen die »Sinnressource der<br />

menschlichen Lebenspraxis« darstellen, <strong>und</strong><br />

meint damit die jeweils auf Zeit bezogenen kulturellen<br />

Weltaneignungsformen des Wahrnehmens<br />

oder Lernens, des Deutens, der Orientierung <strong>und</strong><br />

der Zwecksetzung. So lautet seine Definition, die<br />

hier aufgegriffen werden soll, dass das Phänomen<br />

von Erinnerungskultur im weitesten Sinne den<br />

wahrnehmend-lernenden, deutenden, orientierenden<br />

<strong>und</strong> zwecksetzenden Umgang mit vergangener,<br />

gegenwärtiger <strong>und</strong> zukünftiger Zeit darstellt.<br />

25<br />

Die Dynamik dieses Zusammenhangs wird dadurch<br />

evident, dass »Zeit« hier immer kulturell<br />

gedeutete Zeit ist <strong>und</strong> jeweils verschiedene Qualitäten<br />

annimmt, je nachdem, wie sie in erinnerungskulturellen<br />

Zusammenhängen zur Geltung<br />

kommt. Sie kann Abbildung von Wahrnehmung,<br />

anders gesagt: »Erfahrung« sein - <strong>und</strong> ist so in<br />

ihrem Charakter als »Inhalt« individuell unangreifbar.<br />

Sie kann aber auch Argument sein,<br />

nämlich als Hervorbringung bestimmter komplexer<br />

oder einfacher Deutungsleistungen. Zeit kann<br />

erinnerungskulturell mithin auch zur Struktur<br />

selbst werden, dann nämlich, wenn sie selbst zur<br />

Orientierungsgröße geworden ist, nach der eine<br />

Zeitspanne oder Epoche entweder vorbildhaft<br />

oder aber als Warnung vorgestellt wird. Und<br />

nicht zuletzt kann sich daraus auch der normative<br />

Charakter von Zeit ableiten lassen, nach dem<br />

wir erinnern, um für ein andermal Lehren bereit<br />

zu haben.<br />

Aleida Assmann, die gr<strong>und</strong>legende Arbeiten zu<br />

Formen <strong>und</strong> Funktionen des kulturellen Gedächt-

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