24 <strong>Durchbruch</strong> an der Mauer Harald Jäger vor einem der letzten, noch erhaltenen Mauerreste an der Bernauerstrasse in Berlin. «Macht den Schlagbaum auf» Wie Grenzwächter Harald Jäger, der den alles entscheidenden Befehl gab, den 9. November 1989 erlebte. <strong>Credit</strong> <strong>Suisse</strong> Bulletin 1/09
Foto: Thomas Eugster Protokoll: Ingo Petz Eigentlich konnte mir nichts Besseres passieren als der 9.November 1989. Ich war ja kein Widerständler. Als Oberstleutnant der Staatssicherheit, Fahndungsoffizier und Grenzschützer an der Bornholmer Strasse in Berlin war ich ein zuverlässiges Rädchen im System der DDR. Ich habe mich freiwillig zu diesem Berufsweg entschieden. Ich habe wirklich an den Sozialismus geglaubt – eine sehr lange Zeit. «Die Partei lügt nie!», hiess es bei uns. So ein Quatsch! Es ging der SED immer nur darum, ihre Macht aufrecht zu erhalten. Die Zweifel kamen langsam. Aber sie gärten schon länger in mir. Aber niemals wäre ich zum Klassenfeind geflüchtet. Ich wollte ja den Sozialismus aufbauen. Ich weiss nicht, wie lange es noch gedauert hätte. Aber irgendwann wäre sicher der Zeitpunkt gekommen, an dem ich meinen Dienst aus ideologischen Gründen quittiert hätte. So aber kam dieser verrückte Novemberabend; und er nahm mir die Entscheidung gewissermassen ab. Als ich um 8 Uhr an dem Tag in der GÜST zu meinem Dienst erschien, erwartete ich eigentlich einen ruhigen Tag. Erst als ich gegen 19 Uhr abends in der Kantine sass und die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgte, auf der Günter Schabowski die Ergebnisse der 10. ZK-Tagung bekannt gab, schwante mir Übles. Auf die Frage eines italienischen Journalisten, ab wann denn die neuen Reisebestimmungen gültig seien, antwortete Schabowski mit dem mittlerweile berühmten Satz: «Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort … unverzüglich.» «Der Schabowski spinnt», habe ich gerufen. Meine Kollegen haben mich noch versucht zu beruhigen. Ich habe dann sofort meinen Vorgesetzten im operativen Leitzentrum angerufen. Aber der meinte nur, dass das alles Quatsch sei, was der Schabowski geredet hat. Und dann standen auch schon die ersten vor dem Grenzübergang, zuerst nur ein paar, aber schon bald waren es wohl Tausende. «Wir wollen rüber», haben die geschrieen. Ich war im ständigen Kontakt mit meinem Vorgesetzten, aber auch der bekam keine Order aus Mielkes Ministerium. Niemand wollte irgendetwas entscheiden. An diesem Abend habe ich mehr über unsere Parteiführung und unseren absurden Staat gelernt als in all den Jahrzehnten davor. Die nächsten Stunden erlebte ich in Zeitlupe, als wäre ich neben mir gestanden. Die Situation wurde immer brenzliger. Ich fühlte Hass, und zwar gegen all die unfähigen Entscheidungsträger, die uns im Regen stehen liessen. Ausserdem hatte ich Angst, dass die Menge versuchen würde, uns zu überrennen. Dann hätten die Grenztruppen eingreifen müssen, und es wäre eventuell zu Gewaltausschreitungen gekommen. Mir wurde klar, dass die einzige Möglichkeit war, die Grenze zu öffnen. Als Leitungsoffizier der GÜST musste ich das entscheiden. Und ich wusste auch, dass dies eine Befehlsverweigerung war. Schliesslich war mein Auftrag, die DDR- Grenze zu schützen. Aber was sollte ich tun? Ich hatte Angst, musste aber einen klaren Kopf bewahren. Das waren so viele Gefühle, die da auf mich einströmten. Schliesslich gab ich den Befehl. Das war gegen 23.20 Uhr. «Macht den Schlagbaum auf!» Danach war mir erst einmal alles egal. Mein Vorgesetzter, den ich von meinem Befehl unterrichten musste, sagte nur: «Was hättest du auch anders tun sollen, Junge?» Realisieren konnte ich die groteske Situation nicht. Teilweise habe ich mich auch gefreut für die Menschen. Das Volk hat sich ja den Weg frei gekämpft – und das auch sehr besonnen. Das Ganze hätte auch ganz anders enden können. Was passiert wäre, wenn nicht ich Dienst gehabt hätte? Das kann ich nicht sagen. Ich will meine Rolle gar nicht überbewerten. Vorher waren ja schon <strong>Durchbruch</strong> an der Mauer 25 die Leipziger Demonstrationen, die grosse Berliner Kundgebung. An diesem Abend hatte sich einfach alles konzentriert. Ein Pfarrer hat später einmal in einem Gottesdienst dem Herrgott dafür gedankt, dass ich an jenem Abend im Dienstplan stand. Das fand ich nett. An diesem Abend ahnte ich aber, dass sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen liess. Die DDR würde sich verändern müssen. An eine so schnelle Wiedervereinigung hätte ich aber niemals gedacht. Ich habe auch noch lange gebraucht, um in dem neuen <strong>Deutschland</strong> anzukommen. Die DDR-Sozialisation steckte einfach sehr tief in mir. Auch den Wert der Demokratie und der Meinungsfreiheit musste ich erst einmal schätzen lernen. Ich weiss noch, dass ich bei der Fussball-WM 1990 nicht für <strong>Deutschland</strong> gehalten habe. Erst 2006 habe ich für unsere Mannschaft gefiebert. In gewisser Weise bin ich ja auch ein Verlierer der Wende. Ich wurde arbeitslos, habe in einem Zeitungskiosk gejobbt und später im Wachdienst gearbeitet. Aber verbittert bin ich darüber nicht. Ich empfinde das in gewisser Weise als ausgleichende Gerechtigkeit für all das Unrecht, das ich manchen Menschen angetan habe. Reinwaschen will ich mich damit nicht. So war es einfach, und ich kann es nicht ändern. Ich bedaure zwar, dass meine Ideale nicht aufgegangen sind. Denn auch dieses System hat seine Probleme. Aber hier wird wenigstens darüber gesprochen. Der DDR weine ich keine Träne nach. Letztens habe ich noch mal geträumt, dass alles so war wie früher – dass wir schweigen und buckeln mussten. Ich war heilfroh, als ich aufwachte und wusste: Diese Zeit ist passé.» < Harald Jäger wird 1943 als Sohn eines Schmiedemeisters aus Bautzen geboren. Er lernt Ofensetzer und meldet sich 1961 als Freiwilliger zum Dienst bei der DDR-Grenzpolizei. Er lässt sich vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) anwerben, durchläuft die Kaderschmieden der SED und die geheime und wird Spezialist für «Terrorabwehr». Als Leitungs- GÜST) Bornholmer Strasse in Berlin gibt er am 9. November 1989 gegen 23.20 Uhr den entscheidenden Befehl für die Grenzöffnung zwischen Ost- und West-Berlin. Seine Geschichte ist in dem Buch «Der Mann, der die Mauer öffnete» von Gerhard Haase-Hindenberg (Heyne Verlag) dokumentiert. <strong>Credit</strong> <strong>Suisse</strong> Bulletin 1/09