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Durchbruch - Credit Suisse eMagazine - Deutschland

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Foto: Thomas Eugster<br />

Protokoll: Ingo Petz<br />

Eigentlich konnte mir nichts Besseres passieren als der 9.November<br />

1989. Ich war ja kein Widerständler. Als Oberstleutnant der<br />

Staatssicherheit, Fahndungsoffizier und Grenzschützer an der Bornholmer<br />

Strasse in Berlin war ich ein zuverlässiges Rädchen im System<br />

der DDR. Ich habe mich freiwillig zu diesem Berufsweg entschieden.<br />

Ich habe wirklich an den Sozialismus geglaubt – eine sehr lange Zeit.<br />

«Die Partei lügt nie!», hiess es bei uns. So ein Quatsch! Es ging der<br />

SED immer nur darum, ihre Macht aufrecht zu erhalten. Die Zweifel<br />

kamen langsam. Aber sie gärten schon länger in mir. Aber niemals<br />

wäre ich zum Klassenfeind geflüchtet. Ich wollte ja den Sozialismus<br />

aufbauen. Ich weiss nicht, wie lange es noch gedauert hätte. Aber<br />

irgendwann wäre sicher der Zeitpunkt gekommen, an dem ich meinen<br />

Dienst aus ideologischen Gründen quittiert hätte. So aber kam<br />

dieser verrückte Novemberabend; und er nahm mir die Entscheidung<br />

gewissermassen ab.<br />

Als ich um 8 Uhr an dem Tag in der GÜST zu meinem Dienst erschien,<br />

erwartete ich eigentlich einen ruhigen Tag. Erst als ich gegen<br />

19 Uhr abends in der Kantine sass und die Pressekonferenz im Fernsehen<br />

verfolgte, auf der Günter Schabowski die Ergebnisse der<br />

10. ZK-Tagung bekannt gab, schwante mir Übles. Auf die Frage eines<br />

italienischen Journalisten, ab wann denn die neuen Reisebestimmungen<br />

gültig seien, antwortete Schabowski mit dem mittlerweile<br />

berühmten Satz: «Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort …<br />

unverzüglich.» «Der Schabowski spinnt», habe ich gerufen. Meine<br />

Kollegen haben mich noch versucht zu beruhigen. Ich habe dann<br />

sofort meinen Vorgesetzten im operativen Leitzentrum angerufen.<br />

Aber der meinte nur, dass das alles Quatsch sei, was der Schabowski<br />

geredet hat. Und dann standen auch schon die ersten vor dem<br />

Grenzübergang, zuerst nur ein paar, aber schon bald waren es wohl<br />

Tausende. «Wir wollen rüber», haben die geschrieen. Ich war im<br />

ständigen Kontakt mit meinem Vorgesetzten, aber auch der bekam<br />

keine Order aus Mielkes Ministerium. Niemand wollte irgendetwas<br />

entscheiden. An diesem Abend habe ich mehr über unsere Parteiführung<br />

und unseren absurden Staat gelernt als in all den Jahrzehnten<br />

davor. Die nächsten Stunden erlebte ich in Zeitlupe, als<br />

wäre ich neben mir gestanden. Die Situation wurde immer brenzliger.<br />

Ich fühlte Hass, und zwar gegen all die unfähigen Entscheidungsträger,<br />

die uns im Regen stehen liessen. Ausserdem hatte ich Angst,<br />

dass die Menge versuchen würde, uns zu überrennen. Dann hätten<br />

die Grenztruppen eingreifen müssen, und es wäre eventuell zu Gewaltausschreitungen<br />

gekommen. Mir wurde klar, dass die einzige<br />

Möglichkeit war, die Grenze zu öffnen. Als Leitungsoffizier der GÜST<br />

musste ich das entscheiden. Und ich wusste auch, dass dies eine<br />

Befehlsverweigerung war. Schliesslich war mein Auftrag, die DDR-<br />

Grenze zu schützen. Aber was sollte ich tun? Ich hatte Angst, musste<br />

aber einen klaren Kopf bewahren. Das waren so viele Gefühle, die<br />

da auf mich einströmten. Schliesslich gab ich den Befehl. Das war<br />

gegen 23.20 Uhr. «Macht den Schlagbaum auf!» Danach war mir<br />

erst einmal alles egal. Mein Vorgesetzter, den ich von meinem Befehl<br />

unterrichten musste, sagte nur: «Was hättest du auch anders tun<br />

sollen, Junge?» Realisieren konnte ich die groteske Situation nicht.<br />

Teilweise habe ich mich auch gefreut für die Menschen. Das Volk<br />

hat sich ja den Weg frei gekämpft – und das auch sehr besonnen.<br />

Das Ganze hätte auch ganz anders enden können. Was passiert<br />

wäre, wenn nicht ich Dienst gehabt hätte? Das kann ich nicht sagen.<br />

Ich will meine Rolle gar nicht überbewerten. Vorher waren ja schon<br />

<strong>Durchbruch</strong> an der Mauer 25<br />

die Leipziger Demonstrationen, die grosse Berliner Kundgebung. An<br />

diesem Abend hatte sich einfach alles konzentriert. Ein Pfarrer hat<br />

später einmal in einem Gottesdienst dem Herrgott dafür gedankt,<br />

dass ich an jenem Abend im Dienstplan stand. Das fand ich nett.<br />

An diesem Abend ahnte ich aber, dass sich das Rad der Geschichte<br />

nicht mehr zurückdrehen liess. Die DDR würde sich verändern<br />

müssen. An eine so schnelle Wiedervereinigung hätte ich aber niemals<br />

gedacht. Ich habe auch noch lange gebraucht, um in dem neuen<br />

<strong>Deutschland</strong> anzukommen. Die DDR-Sozialisation steckte einfach<br />

sehr tief in mir. Auch den Wert der Demokratie und der Meinungsfreiheit<br />

musste ich erst einmal schätzen lernen. Ich weiss noch, dass<br />

ich bei der Fussball-WM 1990 nicht für <strong>Deutschland</strong> gehalten habe.<br />

Erst 2006 habe ich für unsere Mannschaft gefiebert. In gewisser<br />

Weise bin ich ja auch ein Verlierer der Wende. Ich wurde arbeitslos,<br />

habe in einem Zeitungskiosk gejobbt und später im Wachdienst gearbeitet.<br />

Aber verbittert bin ich darüber nicht. Ich empfinde das in<br />

gewisser Weise als ausgleichende Gerechtigkeit für all das Unrecht,<br />

das ich manchen Menschen angetan habe. Reinwaschen will ich<br />

mich damit nicht. So war es einfach, und ich kann es nicht ändern.<br />

Ich bedaure zwar, dass meine Ideale nicht aufgegangen sind. Denn<br />

auch dieses System hat seine Probleme. Aber hier wird wenigstens<br />

darüber gesprochen. Der DDR weine ich keine Träne nach. Letztens<br />

habe ich noch mal geträumt, dass alles so war wie früher – dass wir<br />

schweigen und buckeln mussten. Ich war heilfroh, als ich aufwachte<br />

und wusste: Diese Zeit ist passé.» <<br />

Harald Jäger wird 1943 als Sohn eines Schmiedemeisters<br />

aus Bautzen geboren. Er lernt Ofensetzer<br />

und meldet sich 1961 als Freiwilliger zum Dienst<br />

bei der DDR-Grenzpolizei. Er lässt sich vom Ministerium<br />

für Staatssicherheit (MfS) anwerben, durchläuft<br />

die Kaderschmieden der SED und die geheime<br />

<br />

und wird Spezialist für «Terrorabwehr». Als Leitungs-<br />

GÜST) Bornholmer<br />

Strasse in Berlin gibt er am 9. November 1989 gegen<br />

23.20 Uhr den entscheidenden Befehl für die Grenzöffnung<br />

zwischen Ost- und West-Berlin. Seine<br />

Geschichte ist in dem Buch «Der Mann, der die Mauer<br />

öffnete» von Gerhard Haase-Hindenberg (Heyne<br />

Verlag) dokumentiert.<br />

<strong>Credit</strong> <strong>Suisse</strong> Bulletin 1/09

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